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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre.

Der Gesetzgeber hat mit der Übertragung des Versorgungsauftrags auf die etablierte Ärzteschaft den Bock zum Gärtner gemacht. Hätten die Ärzte freie Standortwahl und würde jede Leistung an gesetzlich Versicherten finanziell honoriert, wären vor allem gesetzlich Versicherte besser versorgt als heute.

Ärzte, die in Deutschland gesetzlich Versicherte behandeln wollen, müssen Mitglied in einer Kassenärztlichen Vereinigung sein. Die Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen sind dabei in einer ungewöhnlichen Situation. Sie können beeinflussen, wie viel Konkurrenz sie von anderen Ärzten bekommen. Die Rechnung der etablierten Ärzteschaft ist recht simpel: Je mehr neue Praxen es gibt, desto weniger Geld bekommen die bestehenden Praxen.

Bedarfsplanung

Es gibt 17 kassenärztliche Vereinigungen. Für jedes Bundesland ist eine Kassenärztliche Vereinigung zuständig, nur in Nordrhein-Westfalen gibt es zwei. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind für die Versorgung der gut 72,2 Millionen gesetzlichen Versicherten verantwortlich. Unter anderem planen die einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen, wie viele Arztpraxen eines bestimmten Fachgebiets es in einer Region geben soll.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind nach dem fünften Sozialgesetzbuch dazu verpflichtet, die Versorgung der gesetzlich Versicherten sicher zu stellen. Seit 1992 gibt es für die ambulante Behandlung eine Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Diese basiert auf der Annahme, dass die Versorgung gewährleistet ist, wenn in einer Region ein bestimmtes Arzt-Einwohner-Verhältnis sichergestellt ist. Für Hausärzte zum Beispiel gilt, dass ein Arzt im Idealfall 1.671 Einwohner versorgt.

Für andere Fachärzte gilt kein bundesweites Verhältnis, sondern regionalspezifische Verhältniszahlen. So gelten beispielsweise in „stark mitversorgenden“ Regionen, zu meist Städte, 2.405 Kinder pro Kinderarzt als angemessen. In „stark mitversorgten“ Regionen dagegen gilt ein Verhältnis von 4.372 Kinder pro Kinderarzt als ausreichend. Die Verhältniszahlen werden nicht auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse ermittelt, sondern spiegeln die Versorgungsverhältnisse eines bestimmten Stichtages wieder. Das Arzt-Einwohner-Verhältnis des 31.12.1990 gilt daher als „optimal“.

Liegt der Arzt-Einwohner-Quotient über 110 Prozent des „optimalen“ Niveaus, gilt eine Region als überversorgt. Liegt der Quotient unter 50 Prozent, beziehungsweise bei Hausärzten unter 75 Prozent, gilt eine Region als unterversorgt. In Regionen, in denen derart definiert eine Überversorgung herrscht – zumeist in städtischen Regionen – dürfen grundsätzlich keine neuen Ärzte ihre Dienste gesetzlich Versicherten zur Verfügung stellen. Die Region gilt für den überversorgten Fachbereich als gesperrt. Nur durch die Übernahme einer bereits bestehenden Praxis oder per Antrag auf Sonderbedarf kann ein Arzt sich in einer gesperrten Region niederlassen.

Keine direkte Abrechnung mit Kassen

Kassenärzte rechnen Leistungen für gesetzlich Versicherte nicht direkt mit deren Krankenkassen ab. Jede Kassenärztliche Vereinigung verhandelt einen fixen Betrag mit den Krankenkassen, der von ihr auf ihre jeweiligen Mitglieder verteilt wird. Die Kassenärztlichen Vereinigungen zahlten im Jahr 2015 über 35 Milliarden Euro an ihre Mitglieder aus.

Die jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigungen verteilen die fixe Summe mit Hilfe eines Punktesystems an ihre Mitglieder. Erbringt ein Arzt eine Leistung, erhält er dafür entsprechende Punkte. Jedes Quartal wird der Wert eines Punktes in Euro festgelegt. Die Punkte können allerdings nur bis zu einer gewissen Obergrenze abgerechnet werden. Diese Obergrenze wird als Regelleistungsvolumen bezeichnet und berechnet sich im Wesentlichen aus der Fallzahl des Arztes im Vorjahresquartal. Wird das Regelleistungsvolumen überschritten, erhalten die Ärzte nur noch einen Bruchteil des ursprünglichen Punktwerts.

Auch Ärzte freuen sich nicht über Konkurrenz. Die Verteilung eines fixen Budgets führt jedoch dazu, dass die Ärzte einer Kassenärztlichen Vereinigung neuen Niederlassungen in ihrer Region noch kritischer gegenüberstehen.

Bedarfsplanung und Privatpatienten

Doch Kassenpatienten sind für Ärzte nicht die einzige Einnahmequelle. Auch Privatpatienten werden behandelt. Zudem können Ärzte bei Privatpatienten für identische Leistungen höhere Beträge in Rechnung stellen. Privatpatienten sind also besonders attraktive Patienten – finanziell gesehen.

Wenig überraschend zeigt eine Untersuchung der Universität München, dass sich Kassenärzte bevorzugt in Regionen niedergelassen haben, in denen ein hoher Anteil privat Versicherter wohnt. Dies sind vor allem urbane Gegenden – Regionen die von den Kassenärztlichen Vereinigungen häufig als überversorgt eingestuft werden. Neue Arztpraxen, die sowohl Kassenpatienten als auch Privatpatienten versorgen, können in den als überversorgt ausgewiesenen Regionen nicht mehr eröffnet werden. Dabei mag der Bedarf für weitere Arztpraxen dort sehr wohl bestehen, denn bei der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung bleiben die privat versicherten Einwohner der Region unberücksichtigt. Erfreuliche Nebenwirkung für die etablierten Ärzte: Sie sind unter dem Deckmantel der Bedarfsplanung vor weiterer lästiger Konkurrenz geschützt.

Das Kartell wehrt sich

Scheren Mitglieder aus der Monopollogik aus, etwa indem sie versuchen, sich in gesperrten Gebieten mit Hilfe eines Sonderbedarfsantrags niederzulassen, können diese von den Kassenärztlichen Vereinigungen mit einer besonders intensiven Honorarprüfung sanktioniert werden.

Auch Krankenhäuser können niedergelassenen Ärzten Konkurrenz machen. Bieten Krankenhäuser ambulante Behandlungen an, reduziert dies die Auslastung umliegender Praxen. So ging die Berliner Kassenärztliche Vereinigung juristisch gegen ambulante Angebote von Berliner Krankenhäusern vor, darunter auch gegen Angebote des Deutschen Roten Kreuz. Die Berliner Kassenärztliche Vereinigung zwang schließlich das Rote Kreuz drei medizinische Behandlungszentren zu schließen. Einer besseren Versorgung der Patienten ist damit sicher nicht geholfen.

Freie Standortwahl: Versorgungssicherheit nicht gefährdet

Das Verhalten der Kassenärztlichen Vereinigungen ist schwerlich mit Hinweis auf die Interessen der Patienten zu erklären. Doch angesichts der Anreize, denen die Kassenärztlichen Vereinigungen und ihre Mitglieder ausgesetzt sind, verwundert ihr Gebaren nicht. Die Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigungen sollte daher abgeschafft werden: Ärzten sollte es freistehen, Praxen am Ort ihrer Wahl zu eröffnen.

Die Befürworter der Bedarfsplanung würden gegen die freie Standortwahl einwenden, dass es dann zu einer Unterversorgung in manchen Gebieten käme. Die Erfahrung mit Zahnärzten und Apotheken spricht gegen diese Befürchtung. Seit April 2007 können Zahnärzte ohne Beschränkungen auf Grund von Bedarfsplänen ihren Standort frei wählen. Auf eine noch längere Erfahrung können Apotheken zurückblicken. Auch wenn der Apothekenmarkt nach wie vor hoch reguliert ist, dürfen sich Apotheker seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1958 am Ort ihrer Wahl niederlassen. Auch die Grundversorgung mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln hängt nicht von einer zentralen Bedarfsplanung der etablierten Lebensmittelgeschäfte ab.

Finanzielle Anreize zum Wohl der Patienten

Die 17 Kassenärztlichen Vereinigungen sollten zudem von der Aufgabe befreit werden, eine zuvor von den gesetzlichen Krankenkassen erhaltene Verteilungsmasse als Honorare unter der Ärzteschaft zu verteilen.

Die Arzthonorare könnten zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ausgehandelt und von den Ärzten direkt mit den Krankenkassen abgerechnet werden. Dies ist schon jetzt gängige Praxis bei den privaten Krankenkassen. So wären die Umsätze einer Praxis nicht direkt abhängig von Obergrenzen oder dem Behandlungsvolumen bzw. der Anzahl anderer Ärzte der gleichen Kassenärztlichen Vereinigung.

Die gesetzlichen Krankenkassen könnten in einem solchen Rahmen Verhandlungsergebnisse anstreben, die mittels finanzieller Anreize dafür sorgen, dass die gewünschte Versorgung in allen Regionen gewährleistet ist – zum Beispiel durch höhere Honorare in ausgewählten Regionen. Den privaten Krankenkassen scheint der Einsatz finanzieller Anreize seit Jahren erfolgreich zu gelingen. Ärzte lassen sich gerne in Regionen mit vielen Privatpatienten nieder.

Den Bock zum Gärtner gemacht

Der Gesetzgeber hat mit der Übertragung des Versorgungsauftrags auf die etablierte Ärzteschaft den Bock zum Gärtner gemacht. Die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen nutzen ihre Planungshoheit hinsichtlich der Anzahl der Arztpraxen, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Hätten die Ärzte freie Standortwahl und würde jede Leistung an gesetzlich Versicherten finanziell honoriert, wären vor allem gesetzlich Versicherte besser versorgt als heute.

Erstmals erschienen bei IREF.

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