Photo: marvel.com

Von Dr. Kristian Niemietz, Senior Research Fellow am Institute of Economic Affairs (IEA), London.

Als der Actionfilm „Thor“ und dessen Fortsetzung im Kino aufgeführt wurden, wurde der Protagonist in den britischen Medien mehrfach als ein „Wikingergott“ oder ein „skandinvischer Gott“ bezeichnet. Wer will, kann mich gerne einen Erbsenzähler nennen, aber diese Einordnung ist falsch. Die Skandinavier haben keinen Alleinanspruch auf den Thor-Mythos. Thor war eine gesamtgermanische Gottheit, und ist somit das gemeinsame Erbe aller germanischen Länder. Dazu gehört selbstverständlich auch England, denn auch den Angeln und den Sachsen war Thor bestens bekannt – sie haben ihm sogar den vierten Tag der Woche gewidmet („Thursday“, von „Thor’s Day“). Es ist nicht direkt falsch, Thor als einen „skandinavischen Gott“ zu bezeichnen, aber es gibt auch keinen besonderen Grund für diese Einengung. Man könnte ihn mit der gleichen Berechtigung auch einen „englischen Gott“, einen „holländischen Gott“ oder einen „bayerischen Gott“ nennen.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Konzept des „nordischen Wohlfahrtsstaates“: Auch hier wird den skandinavischen Ländern ein Alleinstellungsmerkmal zugeschrieben, welches keines ist, da sie es in Wahrheit mit vielen anderen Ländern teilen.

Es gibt zunächst einmal keine allgemeingültige Definition dieses Begriffs. Einige Autoren definieren den „nordischen Wohlfahrtsstaat“ nicht geografisch, sondern über die Merkmale seiner Ausgestaltung: Schwerpunkt auf universale (anstelle bedürftigkeitsorientierter) Leistungen, Steuerfinanzierung statt Beitragsfinanzierung usw. Diese Einteilung ist durchaus einigermaßen sinnvoll. In den Medien und in politischen Diskussionen aber wird der Begriff fast immer verwendet im Sinne von: „ein außergewöhnlich umfassender, großzügiger und progressiver Wohlfahrtsstaat“, und das ist irreführend.

Die folgende Grafik zeigt die Nettosozialausgaben in entwickelten Ländern in Prozent des Bruttosozialproduktes. Nettosozialausgaben sind für internationale Vergleiche besonders geeignet, da Unterschiede in der Besteuerung von Sozialtransfers automatisch korrigiert werden. Nehmen wir an, die ärmsten X % der Bevölkerung eines Landes erhalten monatlich steuerfreie Sozialleistungen in Höhe von 800 Euro. In einem ansonsten identischen Land erhalten die ärmsten X % Sozialleistungen in Höhe von 1000 Euro, die allerdings mit einem Durchschnittssteuersatz von 20 % besteuert werden, so, dass 200 Euro sofort wieder an den Staat zurück fließen. Vergleicht man die Bruttosozialausgaben, so scheint der Sozialstaat des zweiten Landes wesentlich großzügiger. Bei einem Vergleich der Nettosozialausgaben sind die beiden Länder dagegen identisch.

(Quelle: OECD)

In den meisten Ländern ist der Unterschied zwischen Brutto- und Nettosozialausgaben nicht sehr groß, weil Sozialleistungen in der Regel nicht hoch besteuert werden. Aber es gibt Ausnahmen, und zu diesen gehören die nordischen Länder. Sobald die Transfereinkommen um direkte Steuern auf diese bereinigt werden, erscheinen die skandinavischen Länder, was die Höhe der Sozialausgaben anbelangt, nicht mehr außergewöhnlich. Es ist nach wie vor nicht falsch, die nordischen Wohlfahrtsstaaten als sehr umfassend und ausgebaut zu bezeichnen, falsch aber ist die Vorstellung, der riesenhafte Wohlfahrtsstaat sei ein skandinavisches Alleinstellungsmerkmal. Es ist vielmehr ein Merkmal, das die Skandinavier mit vielen anderen Ländern gemeinsam haben. So betrachtet ist es nicht sonderlich sinnvoll, überhaupt von einem spezifisch „nordischen Wohlfahrtsstaat“ zu sprechen.

Wie die Grafik zeigt, sind der französische und der belgische Wohlfahrtsstaat die überdimensioniertesten. Die angelsächsischen Länder sind am anderen Ende des Spektrums überrepräsentiert, und die nordischen Länder bilden kein erkennbares Cluster. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn Sozialstaaten in Bezug auf ihre Umverteilungswirkung (also die Verringerung des Gini-Koeffizienten durch Steuern und Sozialtransfers) verglichen werden. Auch in dieser Hinsicht sind die nordischen Wohlfahrtsstaaten nicht herausragend. Die Eigenschaften, die gerne einem imaginären „nordischen Wohlfahrtsmodell“ zugeschrieben werden, werden in Wahrheit von sehr vielen Ländern geteilt.

Warum hören wir aber an allen Ecken und Enden Lobreden auf den nordischen Wohlfahrtsstaat, wenn es diesen doch als solchen gar nicht gibt, zumindest nicht im Sinne eines irgendwie einzigartigen Modells? Vermutlich liegt es ganz einfach daran, dass diese Argumentation zum politisch gewünschten Ergebnis führt. Die nordischen Länder gelten als wirtschaftlich und sozial erfolgreich; es zahlt sich für die politische Linke daher aus, diese Länder mit den eigenen Ideen in Verbindung zu bringen: Neoliberale wollen amerikanische Verhältnisse, Linke wollen schwedische Verhältnisse. Auch dient es als rhetorische Allzweckwaffe. Wer mit den wachstumshemmenden Nebenwirkungen einer hohen Steuerlast, oder mit den sozialen Nebenwirkungen eines überbordenden Umverteilungsstaates konfrontiert wird, der muss nur „Schweden!“ rufen, und schon ist alles in den Wind geschlagen.

Gibt es aber tatsächlich nichts, was die nordischen Länder irgendwie außergewöhnlich macht? Doch: Diese Länder kombinieren eine Reihe von Faktoren, die sie außergewöhnlich resistent machen gegen die eben erwähnten Nebenwirkungen eines ausufernden Staatsapparates. Deswegen können sie sich eine Politik erlauben, an der viele andere Länder scheitern würden. Das aber ist ein Thema für einen anderen Blogbeitrag.

Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Thor and the Nordic welfare state: Not so Nordic, after all“ auf dem IEA-Blog. Übersetzung des Autors.

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