Photo: Rene Schwietzke from Flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Entscheidend für die individuelle Umverteilungspräferenz scheinen nicht objektive Ungleichheitsmaße zu sein, sondern die subjektive Einschätzung. Angesichts der deutlichen Überschätzung der Einkommensungleichheit in Deutschland verwundert es nicht, dass diese die wirtschaftspolitische Debatte dominiert. Gleichwohl wäre es wünschenswert, den Fokus wieder stärker auf die Bedingungen höheren Wachstums zu setzen.

Je ungleicher die Einkommen in einem Land verteilt sind, desto umverteilungsskeptischer sind die Einkommensschwachen. Diesen zunächst wenig intuitiven Befund legt der italienischen Soziologe Renzo Carriero in einem 2016 veröffentlichten Papier vor. Andere Studien legen allerdings nahe, dass Carrieros vermeintlich paradoxe Beobachtung in der Praxis wenig Bedeutung hat. Entscheidend für die individuelle Umverteilungspräferenz scheinen nicht objektive Ungleichheitsmaße zu sein, sondern die subjektive Einschätzung wirtschaftlicher Ungleichheit. Zudem schätzen die meisten Menschen das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit und ihre eigenen Position in der Einkommensverteilung falsch ein. Angesichts der deutlichen Überschätzung der Einkommensungleichheit in Deutschland verwundert es nicht, dass diese die wirtschaftspolitische Debatte dominiert. Gleichwohl wäre es wünschenswert, den Fokus wieder stärker auf die Bedingungen höheren Wachstums zu setzen.

Ungleiche Einkommen, gleiche Umverteilungspräferenzen

Soziologische Studien stoßen immer wieder auf ein vermeintliches Paradoxon: Menschen in Ländern mit hoher Einkommensungleichheit haben über alle Einkommens- und Berufsklassen hinweg relativ ähnliche Präferenzen bezüglich der Umverteilung von Einkommen über Steuern und Transfers, während die Präferenzen von Menschen in gleicheren Gesellschaften stärker divergieren. Der Befund widerspricht der Intuition einer am eigenen Wohl orientierten Präferenz zunächst. Sollten Menschen mit geringem Einkommen nicht gerade in ungleichen Gesellschaften stark für Umverteilung sein, weil sie viel zu gewinnen haben? Und sollten Menschen mit hohen Einkommen in ungleichen Gesellschaften nicht eine starke Abneigung gegen Umverteilung haben, weil sie viel zu verlieren haben?

Vermuteten Soziologen in der Vergangenheit, dass die abnehmenden Präferenzunterschiede in ungleichen Gesellschaften darauf zurückzuführen seien, dass Wohlhalbenden in Umverteilung einen Schutzmechanismus gegen soziale Unruhen und Kriminalität sähen, findet Carriero, dass der Grund für die Konvergenz von Präferenzen bei den relativ Armen liegt: Je ungleicher die Einkommensverteilung, desto schwächer sei deren Präferenz für Umverteilung.

In der deutschsprachigen Presse lud das Ergebnis von Carrieros Analyse zu pessimistischen Spekulationen ein: „Warum unterstützen Menschen eine Politik, die ihren wirtschaftlichen Interessen zu widersprechen scheint“ (Der Spiegel)? Kann es sein, dass der Egalitarismus in ungleichen Gesellschaften als „Gesinnung der Verlierer“ stigmatisiert wird (FAZ)? Macht sich dort der Mythos breit, dass jedermann sozial aufsteigen könne und Umverteilung daher unnötig sei (Die Presse)?

Kausale Interpretation unklar

Carriero spekuliert, dies könne daran liegen, dass die soziale Mobilität in ungleicheren Ländern als stärker ausgeprägt wahrgenommen wird – selbst wenn empirische Studien zeigen, dass die soziale Mobilität tatsächlich in gleicheren Gesellschaften höher ist. Möglich sei auch, dass Ungleichheit legitimierende politische Ideologien in ungleichen Gesellschaften leichter Fuß fassen und durch Medien sowie einflussreiche Interessengruppen reproduziert würden.

Wenngleich die Studie auf einem repräsentativen Datensatz beruht und für weitere Einflussfaktoren wie das Niveau der Sozialleistungen oder die ethnische Homogenität einer Gesellschaft kontrolliert, taugt Carrieros Analyse nicht zur Identifikation eines kausalen Effekts. So ist es durchaus möglich, dass die Kausalität im von ihm beobachtete Zusammenhang zwischen Ungleichheit und abnehmender Umverteilungspräferenz entgegengesetzt wirkt: Wo die Menschen über alle Einkommens- und Berufsklassen hinweg weniger Umverteilung wünschen, da verteilt die Politik weniger um, was sich wiederum in höherer Einkommensungleichheit manifestiert. Carrieros Studie ist auf 44 Länder Europas beschränkt, darunter vornehmlich entwickelte Demokratien. Dass die getroffenen politischen Maßnahmen in diesen mit den Präferenzen der Wähler korreliert sind, ist nicht allzu überraschend.

Ungleichheit wird überschätzt

Selbst für den Fall, dass der von Carriero vermutete Zusammenhang tatsächlich besteht, ist jedoch fraglich, wie relevant er für die wirtschaftspolitische Diskussion ist. Die meisten Menschen schätzen das Ausmaß der Einkommensungleichheit, gemessen etwa anhand des Gini-Koeffizienten, falsch ein. Judith Niehues zeigt für 24 Länder, darunter Deutschland, dass die tatsächliche Ungleichheit meist überschätzt wird.

So waren die 2009 Befragten in Deutschland im Durchschnitt der Ansicht, dass weniger als ein Drittel (30,2%) der Deutschen zur Mittelschicht gehören (mit einem Nettoeinkommen von 80 bis 150% des Medianeinkommens). In der durch relatives Armutsrisiko (60% des Medianeinkommens) definierte Gruppe sahen die Befragten ein Viertel der Bevölkerung. Tatsächlich war fast die Hälfte der Deutschen (48,1%) Teil der Mittelschicht und nur 15,6% der Bevölkerung lebten mit einem relativen Armutsrisiko.

 

 

Da individuelle Umverteilungspräferenzen auf Basis subjektiver Einschätzungen gebildet werden und der Einfluss der gemessenen Ungleichheit auf die wahrgenommene Ungleichheit sehr beschränkt ist, wird auch die Einstellung zur Umverteilung nur schwach von der tatsächlichen Ungleichheit beeinflusst.

Weshalb fand Carrieros Befund trotz dessen geringer praktischer Relevanz so viel Beachtung in den Medien? Ein Grund könnte in der weit verbreiteten Vorstellung liegen, wirtschaftliche Ungleichheit sei das zentrale Problem westlicher Gesellschaften.

Wachstum in den Fokus rücken

Die großen Garanten steigenden Wohlergehens sind seit der industriellen Revolution wettbewerblich organisierte offene Märkte, eingebettet in demokratische Systeme. In marktwirtschaftlich organisierten Demokratien lebende Menschen sind heute etwa 40mal so reich wie ihre vor drei Jahrhunderten lebenden Vorfahren. Gelänge es, das seit Beginn des Jahrtausends durchschnittlich bei nur 1% liegende jährliche Wirtschaftswachstum auf 2% zu heben, so wäre schon in etwa 35 statt 70 Jahren ein 80mal so hohes Wohlstandsniveau erreicht. Von derartig massivem Wachstum profitieren alle Mitglieder der Gesellschaft. Die Umverteilung von Einkommen zwischen einzelnen Gruppen bei gegebenem niedrigerem Wachstum verliert im Vergleich zu derartigen, innerhalb einer Generation möglichen, Wohlstandssteigerungen an Wichtigkeit – selbst für die von Transfers profitierenden Mitglieder der Gesellschaft. Nicht wirtschaftliche Ungleichheit sollte daher im Fokus der Debatte stehen, sondern die Voraussetzungen für stärkeres Wachstum.

Erstmals erschienen bei IREF.

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