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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.
Hinsichtlich des globalen Lebensstandards waren die letzten drei Jahrzehnte überaus erfolgreich: Zu keiner Zeit ist es mehr Menschen gelungen, der absoluten Armut zu entkommen, also ein Einkommen über dem Subsistenzniveau zu erwirtschaften. Projektionen der Weltbank gehen davon aus, dass die Anzahl absolut Armer weiter sinken und bis 2030 außerhalb Subsahara-Afrikas auf wenige Millionen schrumpfen wird.
Wenngleich diese Entwicklung optimistisch stimmen sollte, sind viele Menschen davon überzeugt, dass die Armut in den letzten Jahrzehnten weltweit zunahm und weiter zunimmt. Angesichts einer Medien- und Bildungslandschaft, die negative Ereignisse in den Vordergrund rückt, überrascht dieser Befund nicht. Bedauerlich ist er dennoch. Die gravierende Unterschätzung der aus der Ausbreitung marktwirtschaftlicher und demokratischer Institutionen resultierenden Entwicklungserfolge untergräbt die Zustimmung zu eben jenen Institutionen.
Absolute Armut weltweit auf dem Rückzug
Als absolut arm gelten nach der aktuellen Definition der Weltbank Menschen, die täglich kaufkraftbereinigt weniger als 1,90 US-Dollar zur Verfügung haben. Die Armutsquote bezeichnet den Anteil absolut Armer an der Bevölkerung und ist aufgrund der Berücksichtigung von Kaufkraftunterschieden sowohl international als auch über die Zeit hinweg vergleichbar. Zu unterscheiden ist absolute Armut von relativer Armut, die in Bezug zum Durchschnitts- oder Medianeinkommen definiert wird und daher selbst dann zunehmen kann, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft absolut wohlhabender werden.
Spätestens seit Beginn der Industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts ist die absolute Armut global auf dem Rückzug. Lebten 1820 noch rund 80 % der Weltbevölkerung in absoluter Armut, so beträgt die globale Armutsquote heute etwa 8,5 %. In unterschiedlichen Weltregionen fiel der Rückgang absoluter Armut dabei unterschiedlich stark aus. So ist absolute Armut in Europa und Amerika nahezu unbekannt, während die Armutsquote in Subsahara-Afrika bei 40 % liegt.
Weltweit konnte ein besonders starker Rückgang absoluter Armut in den letzten 30 Jahren verzeichnet werden – von rund 35 % Mitte der 1980er auf heute 8,5 %. Die wichtigste Triebfeder dieses Prozesses war die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Strukturen, etwa in China und anderen südostasiatischen Ländern. Konventionelle Entwicklungshilfe spielte hingegen keine schwerwiegende Rolle.
Wahrnehmung globaler Armut: Weitverbreiteter Pessimismus
Trotz des deutlichen Armutsrückgangs der letzten Jahrzehnte sind viele Menschen überzeugt, dass die Anzahl der absolut Armen weltweit zunahm – nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch in Relation zur wachsenden Weltbevölkerung. 2016 wurden in einer repräsentativen Befragung 26.000 Menschen in 24 Ländern nach ihrer Einschätzung der Entwicklung absoluter Armut über die letzten 20 Jahre interviewt, wobei die bis 2015 übliche Definition von 1,25 kaufkraftparitätischen US-Dollar zugrunde gelegt wurde. Nur 13 % der Befragten gaben an, die Armutsquote sei gesunken. 1 % kam zur korrekten Einschätzung, dass diese halbiert wurde. 70 % glaubten hingegen, die Armutsquote habe zugenommen.
Besonders stark fiel die Fehlwahrnehmung in Industrieländern aus. In Deutschland etwa gaben nur 8 % an, dass der Anteil absolut Armer an der Weltbevölkerung gesunken sei. In Entwicklungs- und Schwellenländern fiel die Einschätzung weitaus positiver aus, etwa in China, wo 50 % der Befragten äußerten, die Armut habe abgenommen. Eine 2017 durch Ipsos durchgeführte Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach glaubten in Deutschland 11 % der Befragten, die absolute Armut habe weltweit abgenommen, während in China 49 % eine Abnahme sahen.
Menschen in reicheren Ländern schätzen im Vergleich zu Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern nicht nur die vergangene Entwicklung negativer ein. Auch hinsichtlich der Erwartungen für die Zukunft sind sie deutlich pessimistischer. 2015 gaben in einer YouGov-Umfrage 4 % der befragten Deutschen und 41 % der Chinesen an, dass „die Welt ein besserer Ort wird“. Eine ähnliche Disparität förderte Ipsos mit der Frage nach der Entwicklung des globalen Lebensstandards in den nächsten 15 Jahren zu Tage. Nur 18 % der Deutschen gaben an, dieser würde zunehmen, während es in China 58 % glaubten.
Extremereignisse überschatten langfristige Trends
Konzeptionelle Missverständnisse, etwa aufgrund einer Verwechslung von absoluter und relativer Armut, können die stark von den Fakten abweichenden Einschätzungen globaler Armutstrends nur bedingt erklären. Zumal kommen selbst die nach eigener Aussage Wohlinformierten zu gravierenden Fehleinschätzungen. Derartige Fehleinschätzungen drücken daher nicht schlichtes Desinteresse und Unwissen aus. Woher kommt der tiefverankerte Pessimismus bezüglich globaler Armutstrends?
Der 2017 verstorbene Entwicklungsforscher und Betreiber des „Gapminder“-Projekts Hans Rosling führt den weitverbreiteten Pessimismus auf die Anwendung von Daumenregeln zurück, die unsere Einschätzung globaler Entwicklungen systematisch ins Negative verzerren. Beispielsweise zeigt die Forschung zum Phänomen des „sozialen Pessimismus“, dass viele Menschen dazu tendieren, ihre Einschätzung langfristiger Trends anhand eines Durchschnitts auffälliger Extremereignisse zu prägen – die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik. In einem Medien- und Bildungsumfeld, das negativen Extremereignissen weitaus mehr Raum gibt als langfristigen, stetig positiven Trends, führt die Verfügbarkeitsheuristik zur Herausbildung übermäßig pessimistischer Überzeugungen.
Wie stark der Zusammenhang zwischen dem täglichen Nachrichtenkonsum und unseren Überzeugungen ist, verdeutlicht der Ökonom Max Roser anhand eines Gedankenexperiments: Eine Zeitung, die jeden Tag wahrheitsgetreu verkündet, dass seit gestern weitere 137.000 Menschen der absoluten Armut entkommen sind, würde ihre Leser zu einer realistischeren Einschätzung globaler Armutstrends bewegen – und sich vermutlich nur mäßig verkaufen.
Armutsentwicklung: Pessimismus hat negative Konsequenzen
In der arbeits- und wissensteiligen Gesellschaft stellt mangelnde Kenntnis über langfristige Trends und Fakten, die den eigenen Alltag nicht betreffen, oft kein grundsätzliches Problem dar. Wer sich seines eigenen Unwissens bewusst ist, kann Entscheidungen an besser Informierte delegieren oder die Kosten uninformierter Entscheidungen selbst tragen. Doch der in den Industrieländern weitverbreitete Pessimismus hinsichtlich globaler Armutstrends hat in dem Maße weitreichendere negative Konsequenzen, in dem er die Zustimmung zu eben jenen marktwirtschaftlich-demokratischen Institutionen untergräbt, die die Grundlage für weiteres Wachstum bilden.
Sowohl im Rahmen offizieller Entwicklungspolitik, als auch über informelle Kanäle haben die in den Industrieländern vorherrschenden Ansichten hinsichtlich der Auswirkung marktwirtschaftlich-demokratischer Institutionen einen bedeutenden Einfluss auf Reformanstrengungen in Entwicklungsländern. Die Ausbreitung dieser Institutionen ist das Erfolgsrezept des Westens und hat in den letzten Jahrzehnten viele Bewohner südostasiatischer Länder aus der Armut befreit. Jene hilfreichen Institutionen für Armut verantwortlich zu machen, heißt nicht nur, die Fakten zu ignorieren, sondern die Grundlagen für die weitere Verbesserung der Welt zu untergraben.
Inhaltlich stimme ich überein. Ich stolpere nur über das viele Denglish:
Subsahara-Afrika -> Schwarzafrika
Daumenregel -> Faustregel
„die Welt ein besserer Ort wird“ -> die Welt ist kein Ort. Trotzdem kann man die Welt verbessern.