Photo: William Murphy from Flickr (CC BY-SA 2.0)
Das Ziel von Bildung sollte eigentlich sein, Menschen dazu zu bringen, ihre Fähigkeiten und Leidenschaften bestmöglich entfalten und ausleben zu können. Ein Zertifikate-Fetisch und die Vergleichbarkeits-Ideologie führen dazu, dass genau das nicht erreicht wird.
Wenig Glanz in Deutschlands Lehranstalten
Die Berichte über Drittklässler, die kaum einen einfachen Satz zu Papier bringen können, häufen sich. Gerade macht ein Buch der österreichischen Pädagogin Doris Unzeitig Furore, die für einige Jahre versucht hatte, eine Berliner Grundschule auf Vordermann zu bringen. Die Berichte in dem Buch ähneln denen aus anderen Teilen des Landes. Und auch am anderen Ende der Bildungsbiographien findet man verzweifelte Erzählungen: Kurse, in denen keiner der Studenten auch nur eine Zeile der mühselig vorbereiteten Lektüre gelesen hat. Geschichtsstudenten, die nicht zwischen Biographie und Bibliographie unterscheiden können. Professoren machen Druck auf ihre Assistenten, nur ja milde zu korrigieren, damit nicht zu viele durch die Prüfung fallen. Eindrucksvoll sieht es nicht aus in dem Land, von dem immer gesagt wird, sein einziger Rohstoff seien die Köpfe der Einwohner.
Man wird ein schier unüberschaubares Feld an Ursachen für diese Probleme ausmachen können von A wie Autoritätsverlust über D wie digitale Demenz und S wie Schreiben nach Gehör bis zu Z wie Zuwanderung. Ein Kernproblem unseres Bildungssystem liegt freilich in bestimmten fixen Vorstellungen und Ideologien, die vermittelt durch die Politik unsere Schulen und Universitäten immer stärker in Beschlag nehmen: Wir müssen mit China und den USA konkurrieren! In Finnland haben viel mehr Menschen Abitur und in Großbritannien viel mehr einen Bachelor! Jeder muss studieren können! Digitalisierung! Integration! Inklusion! – Kaum ein gesellschaftliches Großprojekt, für das die Schule noch nicht in Verantwortung genommen wurde.
Des Kaisers neue Bildungskleider
Am kommenden Dienstag werden die Ergebnisse der neuesten PISA-Studie vorgestellt. Man kann sich dann auf politisches Dauerfeuer bis zum Weihnachtsfest einstellen, bei dem ein reger Aktionismus entfaltet wird, wie man Deutschland wieder auf der Rangliste nach oben befördern kann. Die Kriterien, die bei der Studie angelegt werden, sind dabei sakrosankt – schließlich sind sie ja wissenschaftlich erstellt worden. Da wird mit Zahlen, Quoten und Statistiken jongliert, um eine Riesen-Show zu machen. Mit der Realität in den Schulen und vor allem bei den Schülern hat all das allerdings nur bedingt zu tun. Für das einzelne Kind zählt vor allem seine persönliche Entwicklung, die durchaus auch eine schlechte Mathe-Note involvieren kann. Ja, auch die Gesellschaft profitiert wohl mehr von zufriedenen jungen Menschen, die ihren ganz eigenen Weg ins Leben gefunden haben, als von einem pauschalen Anstieg des Lese-Niveaus. Es ist doch bezeichnend, dass die PISA-Liste unter anderem angeführt wird von Ländern wie Singapur, Hongkong, Japan, Südkorea und China. Allesamt Staaten, deren Systeme nicht bekannt sind für die Bedeutung, die dort dem Individuum beigemessen wird.
Während die PISA-Studie freilich wenigstens noch nach objektiven Kriterien durchgeführt wird, sieht es auf dem Feld der Zertifikate und Bildungsabschlüsse wirklich desaströs aus. Der neuste Coup der Bundesbildungsministerin (ein Job, der sich gegenüber den Ländern unter ständigem Rechtfertigungs- und Produktionsdruck befindet) besteht darin, Berufsabschlüsse jetzt mit den Titeln „Bachelor Professional“ und „Master Professional“ zu versehen. Zynisch könnte man sagen: Nachdem die alten Studiums-Abschlüsse schon im Zuge der Bolognisierung entwertet wurden, müssen jetzt die grundsoliden Gesellen und Meister auch noch dran glauben und zum Opfer der Banalisierung werden. Da werden fleißig des Kaisers neue Kleider genäht und alles applaudiert begeistert darüber, als ob auf wundersame Weise mit dem neuen Namen ein neuer Stand der Kompetenz erreicht würde.
Raus aus der Schwindel-Spirale
In Wahrheit wird ein Bildungssystem gebastelt, das zunehmend Ähnlichkeit mit Potemkinschen Dörfern aufweist. Die Verantwortlichen in der Bildungspolitik gaukeln Schülern, Studenten und Lehrern etwas vor. Viele der Schul- und Hochschulabschlüsse, die heute ausgegeben werden, sagen wenig über die tatsächlichen Qualifikationen der jungen Menschen aus. Dafür umso mehr über die Wünsche von politisch Verantwortlichen, eindrucksvolle Zahlen präsentieren zu können. Wenn ein Schüler vorrücken darf oder eine Studentin die Prüfung besteht, kann man heute nicht mehr sicher sein, ob das ein Qualitätsnachweis ist oder Ergebnis der Vorgaben durch Ministerium, Rektorin oder Direktor. Viele Zeugnisse sind nicht mehr das, was der Name verspricht, sondern Irreführungen, wenn nicht gar Lügen. Das nützt niemandem – am allerwenigsten der Studentin oder dem Schüler.
Anstatt viel Geld, Zeit und Mühe in die Erstellung der Kulissen zu stecken, sollte man lieber in einen echten, soliden Hausbau investieren. Dazu gehört ein solides Fundament. Vor allem aber muss das Haus passen – sowohl im Blick auf Funktionalität als auch auf Geschmack. Und darüber entscheidet letztlich die Bewohnerin. Natürlich mit Hilfe von Architekten, Designern und Statikern. Mit anderen Worten: Die Aufgabe von Pädagogen besteht darin, jungen Menschen dabei zu assistieren, herauszufinden, was sie gut und gerne machen, und sie dann dazu zu befähigen, ihre Begabungen und Leidenschaften bestmöglich auszuleben. Nicht „entspreche den Ansprüchen anderer“ sollte das Motto sein, sondern: „erkenne Dich selbst“! Das ist es, was dem Einzelnen und der Gemeinschaft am meisten hilft, und nicht schick klingende Titel oder eindrucksvolle Positionen auf Rankings. Es ist höchste Zeit, aus dieser Schwindel-Spirale auszubrechen. Um unserer Kinder willen.
Bei aller inhaltlichen Zustimmung, aber der Imperativ zu „entsprechen“ lautet nicht „entspreche“ sondern „entsprich“! Oder würden Sie zu einem Freund auch sagen: „Spreche dich aus!“ ???
Und ob Sie es glauben oder nicht: Unter anderem mit der ständig sinkenden Qualität des Deutschunterrichts seit den Siebziger Jahren fing alles Übel an.
„Erkenne dich selbst!“ statt: „Entspreche den Ansprüchen anderer!“ – Mit Freude erkenne ich den liberalen Grundtenor in dem Beitrag. Doch leider umreißt er das Dilemma der Schulpädagogik nur vordergründig.
Kaum noch überblickbar sind die verschiedensten Ansätze / Konzepte / Maßnahmen, mit denen in den vergangenen Jahrzehnten das Schulsystem zum besseren hin reformiert werden sollte. Heerscharen von Schulpädgogen und -bürokraten haben sich den unterschiedlichsten Themenfeldern und Detailaufgaben gewidmet … und haben dabei immer und immer wieder versäumt, sich den richtigen erkenntnisleitenden Fragen zu stellen:
1.) Wie kann es sein, dass ein Bildungssystem wie das deutsche, dessen Lehrer die längsten Ausbildungszeiten auf höchstem Niveau vorweisen und weltweit zu den bestbezahltesten Lehrern gehören, im internationalen Vergleich nur mittelmäßig-schlechte Ergebnisse hervorbringt? Warum waren all die Versuche, eine bessere Schule herbeizuregulieren, dermaßen wenig erfolgreich (insbesondere in den eher links regierten Bundesländern)?
2.) Wie erklärt es sich, dass unsere Schulen immer noch nach der sozialen Herkunft selektieren? Das Problem wird immer wieder einmal benannt, doch Konsequenzen oder gar Lösungsansätze scheinen niemanden zu interessieren. Sind es am Ende gar die bevorzugten Formen „gemeinsamen“ bzw. „sozialen Lernens“, die den Bildungsbürgerkindern das Forum für den Erfolg bieten, während die Übrigen verstummen und sich allenfalls in die Rolle des Mitmachers und Zuarbeiters einfügen?
Ich (60jähriger Diplom-Handelslehrer) erlebe Schule immer mehr als irgendwie schizophrene Veranstaltung. Einerseits werden die Bedeutung individueller Lernwege und individuelle Förderung propagiert, doch andererseits scheint sich moderne Schuldidaktik als eine Art von „Unterrichtstechnik“ zu verstehen, so als sei die Schule eine Art „Lernfabrik“, Schülerinnen und Schüler der Werkstoff, und die Lehrkräfte eine Schar Unterrichtstechniker, die in „konzertierter Aktion“ mit ihren fein austarierten Werkzeugen nur die richtigen Stellschrauben zu bedienen bräuchten … Wieder einmal grüßt der „Nürnberger Trichter“, nur das dieses Mal ernsthaft geglaubt wird, man könne junge Menschen in ihrer „Kompetenzentwicklung“ steuern.
Auch ich kann der Kritik an dem Bildungssystem nur zustimmen. Allerdings, dass das „Erkenne Dich selbst“ einen Ausweg bietet, erschließt sich mir nicht. Es setzt voraus, dass am Anfang des Bildungsprozesses bereits ein fertiger junger Mensch mit allen seinen Fähigkeiten, Kompetenzen und Talenten steht. Und dieser Mensch müsste sich nur noch dieser Anlagen (also sich selbst) bewusst werden. Klingt ein bisschen nach Guru. Nach meiner Meinung müsste der Auftrag eher lauten: „Erschaffe Dich selbst.“