Bild: Mark Setchell from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Wir können die Corona-Pandemie immer besser einschätzen. Das verwandelt bedrohliche Unsicherheit in kalkulierbares Risiko. Und eröffnet einen Weg zurück zur Normalität.

Die Narrenfreiheit endet

Corona hat den Staat einflussreicher gemacht. Im Handstreich werden astronomische Summen umverteilt, Grenzen geschlossen, ganze Geschäftszweige dichtgemacht und wieder geöffnet. Eine neue Generation wächst auf angesichts eines allmächtigen und rettenden Leviathans. Wer weiß: Vielleicht war genau das nötig, um noch Schlimmeres zu verhindern? Mit Sicherheit war nicht jede Corona-Reaktion des Staates sinnstiftend oder gar verhältnismäßig. Aber der Schutz hunderttausender Menschenleben rechtfertigte, dass Regierungen für eine gewisse Zeit Narrenfreiheit genossen. Der öffentliche Diskurs wurde eingefroren, der Zweck heiligte fast alle Mittel. Das muss nun enden, denn zugängliche Impfungen und Erfahrungswerte verwandeln die bedrohliche Unsicherheit der Corona-Pandemie in ein Risiko, mit dem sich immer besser umgehen lässt.

Das Leben ist lebensgefährlich

„Leben ist immer lebensgefährlich“ schreibt Erich Kästner in einem Silvestergedicht. Tatsächlich gehen wir alltäglich mit Risiken um. Das „Future of Humanity Institute“ an der Universität von Oxford bezifferte im Jahr 2008 die Wahrscheinlichkeit, dass die gesamte Menschheit noch vor dem Jahr 2100 durch ein globales Ereignis ausgelöscht wird, auf sage und schreibe 19 Prozent. Doch es muss nicht gleich eine künstliche Intelligenz die Weltherrschaft übernehmen, um unser Leben zu bedrohen. Jedes Mal, wenn wir in ein Flugzeug oder Auto steigen, riskieren wir tatsächlich unser Leben. Jedes Mal, wenn wir trotz Gewitters wandern gehen oder einen etwas kleineren Bogen um des Nachbarn Rottweiler Hasso machen, sind wir einer (Lebens-)Gefahr ausgesetzt. Diese Dinge bringen uns aber selten um den Schlaf – wir haben gelernt, mit dem Lebensrisiko umzugehen.

Die Menschheit ist also durchaus risikokompetent – trotzdem hat die Corona-Pandemie die Welt in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt.

Frank Knight, einer der großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts und Mitbegründer der Chicagoer Schule, hat eine Erklärung dafür. Sein Ausgangspunkt: Unser Leben beruht auf einer schier endlosen Abfolge von Entscheidungen, deren Folgen wir selten wirklich kennen. Informationen sind begrenzt und gleichzeitig teuer. Es wäre beispielsweise vollkommen ineffizient, jedes Verkehrsmittel vor Nutzung selbst auf Herz und Nieren zu überprüfen. Aber nicht jede Situation offenbart den gleichen Grad an Unsicherheit. Knight identifiziert drei unterschiedliche Unsicherheitsszenarien:

(I) A priori Risiko: Wir kennen die Folgen unseres Handelns und können ihnen a priori Wahrscheinlichkeitswerte zuordnen (Wurf eines Würfels)
(II) Statistisches Risiko: Wir kennen die Folgen unseres Handelns und können ihnen statistische Wahrscheinlichkeitswerte zuordnen (Reise mit einem Flugzeug)
(III) Unsicherheit: Wir kennen die Folgen unseres Handelns nicht (alle) und können nicht sagen, wie wahrscheinlich sie eintreten (Gründung eines Start-Ups)

Im Alltag sind wir in den seltensten Fällen mit Szenarien der Fallgruppe (I) beschäftigt. Die meisten Risiken, mit denen wir umgehen müssen, können wir aufgrund von Erfahrung oder Recherche ganz gut einschätzen. Knifflig wird es bei Fallgruppe (III). Hier können wir weder alle potentiellen Folgen unseres Handelns noch deren Eintrittswahrscheinlichkeit einschätze. Für Knight liegt hier in dieser Tatsache der Schlüssel zum Erfolg von Unternehmern. Nur wer unter echter Unsicherheit investiert, kann übernormale Profite erwarten.

Wir versuchen Unsicherheit um jeden Preis zu vermeiden

Damit tut der Entrepreneur etwas für den Menschen sehr Untypisches. Denn üblicherweise tun wir alles, um Unsicherheit zu vermeiden, auch wenn es irrational erscheint. Darauf beruht das gesamte Geschäftsmodell der Versicherungsbranche, die gegen Geld unkalkulierbare Unsicherheiten in abschätzbare Risiken verwandelt.

Wie weit unsere Risikoaversion geht, verdeutlich das sogenannte Ellsberg-Paradox: Ein Proband wird instruiert, in einem Laborversuch eine Kugel aus einer von zwei Urnen zu ziehen. In der linken Urne befinden sich 50 rote und 50 schwarze Kugeln. In der rechten Urne rote und schwarze Kugeln in unbekannter Anzahl. In der ersten Runde verspricht die rote Kugel einen Gewinn. Üblicherweise entscheiden sich die Probanden hier für die erste Urne mit der bekannten Kugelverteilung. Werden nun in Runde 2 die Regeln geändert und die schwarze Kugel zur Gewinnkugel erklärt, dann müsste ein rationaler Proband eigentlich in die zweite Urne greifen. Denn wenn der zweiten Urne in der ersten Runde eine niedrigere Gewinnwahrscheinlichkeit zugeordnet wird, dann muss die erwartete Gewinnwahrscheinlichkeit in der zweiten Runde größer als 50 Prozent sein. Doch regelmäßig werden Probanden auch in Runde zwei die erste Urne, deren Risiko bekannt ist, der unsicheren vorziehen.

Zu Beginn versetzte die Corona-Pandemie uns in eine Lage, wie sie in der zweiten Urne herrscht. Es war mehr unklar als klar: Wie hoch ist das Ansteckungsrisiko? Wie hoch das Sterberisiko? Welchen Einfluss haben Alter und Vorerkrankungen? Was sind die Langzeitfolgen? Wie überträgt sich das Virus? Klar war nur: Es handelt sich um ein für den Menschen neuartiges Virus, das potentiell tödlich ist und sich rasant ausbreitet. Die meisten Menschen in Europa waren zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer derart großen Unsicherheit konfrontiert. Da ist sowohl irrationales Handeln als auch die vorrübergehende Abgabe von Entscheidungsverantwortung an den Staat mehr als nachvollziehbar.

Corona wird langsam von der Unsicherheit zum Risiko

So schön es wäre: nach heutigem Kenntnisstand sind Szenarien wie Zero-Covid oder eine vollständige Herdenimmunität mit den uns aktuell zur Verfügung stehenden Instrumenten nicht zu erreichen. Das mag sich in Zukunft ändern, doch vorerst muss die Welt mit dem ständig mutierenden Virus leben. Dass das auch möglich ist, haben wir der Wissenschaft zu verdanken. Allen voran die vorhandenen Impfstoffe verwandeln das Corona-Virus von einer Unsicherheit in ein kalkulierbares Risiko inklusiver statistisch fundierter Wahrscheinlichkeitswerte. Geimpfte können sich nahezu sicher sein, nicht schwer zu erkranken. Das trifft nach ersten Erkenntnissen auch auf die Delta-Variante zu. Selbst leichte symptomatische Erkrankungen sind unter Geimpften statistisch gesehen selten. Unter diesen Bedingungen ist eine Covid-Erkrankung für Geimpfte (aktuell) durchaus mit anderen Lebensrisiken, die wir alltäglich eingehen, vergleichbar. Hinzu kommt: Die Wissenschaft erforscht nicht nur das Ansteckungsrisiko. Beinahe täglich erscheinen neue Studien, die sich mit Übertragungswegen, Langzeitfolgen und Risikofaktoren beschäftigen.

Was bedeutet das für die Politik? (1) Die Narrenfreiheit der Regierungen endet. Kritiker sind nicht mehr automatisch Aluhut-tragende Spinner, sondern können auf Basis der immer umfangreicheren Informationsbasis zu einer anderen fundierten Einschätzung kommen. (2) Es ist gerechtfertigt, eine gesellschaftliche Debatte über den kollektiven Umgang mit dem Corona-Risiko zu führen. Das bedeutet nicht, dass Knall auf Fall alle Maßnahmen außer Kraft gesetzt werden sollen. Aber: Es ist legitim eine auf einer Risikoabwägung fundierte Begründung für Freiheitseinschränkungen einzufordern. Insbesondere dann, wenn Impfungen für wirklich alle zugänglich sind. Daran müssen sich Politiker und ihre Vorschläge messen lassen. (3) Ein Flickenteppich an unterschiedlichen Einschätzungen und Regeln mag vielleicht manchmal verwirrend sein, aber er bietet, egal ob auf deutscher, europäischer oder globaler Ebene, auch eine riesige Chance: Wir können von unterschiedlichen Ansätzen, die im Wettbewerb um das effizientestes Risiko-Management miteinander stehen, mehr lernen als von jeder Laborstudie. (4) Es muss erste Aufgabe internationaler Politik sein, Corona möglichst schnell für alle Menschen in ein Risiko zu verwandeln. Mit Impfungen auf Kosten der G7, nicht aber mit aberwitzigen Patententziehungen.

Eine Bemerkung zum Schluss: Es geht bei diesem Thema sprichwörtlich um Leben und Tod, da ist viel Fingerspitzengefühl gefragt. Doch das Risiko möchte ich im Sinne der von mir verlangten Debattenkultur gerne eingehen. Schreiben Sie mir, wenn Sie anderer Meinung sind.

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