Photo: European Union Naval Force from Flickr (CC BY-ND 2.0)
Unterlassene Hilfeleistung ist im Straßenverkehr strafbar. Seit dem Beginn der Eurokrise im Frühjahr 2010 ist auch die grob fahrlässige Hilfeleistung strafbar – zumindest politisch. Denn niemand wird behaupten können, dass das heutige Desaster in Griechenland nicht vorhersehbar gewesen wäre. Schon der Schuldenstand Griechenlands 2010 von 330 Milliarden Euro war nicht tragfähig, sonst wäre Griechenland nicht an den Euro-Club herangetreten. Als 2011 der zweite Schuldenschirm über die griechischen Staatsschulden gespannt wurde, betrug die Verschuldung bereits 355 Milliarden Euro. Und als nach dem Schuldenschnitt über 107 Milliarden Euro im Herbst 2012 faktisch ein 3. Hilfspaket vereinbart wurde, indem die Zinsen reduziert und die Laufzeit verlängert wurden, war auch allen Beteiligten klar, dass selbst die 304 Milliarden Euro Verschuldung Griechenlands nicht tragfähig für das Land sein werden. Auf alte Schulden kamen immer neue oben drauf.
Die Staats- und Regierungschefs und deren Finanzminister haben sich die Situation in Griechenland immer schöngeredet. Als Symbol für die Reformagenda galt lange, dass Griechenland endlich ein Grundbuch bräuchte. Viele Millionen wurden in den letzten Jahren dafür ausgegeben. Jetzt wurde das Projekt abgesagt, da der Zeitplan bis zur Realisierung im Jahr 2020 nicht eingehalten werden kann. Es fehlen 220 Millionen Euro.
Selbst der Blick in die Nachbarländer ist ernüchternd im Hinblick auf die Reformerfolge. Der italienische Staat hat heute die absolut (2,2 Billionen Euro) und relativ (137 Prozent zum BIP) höchste Verschuldung seit dem 2. Weltkrieg, und auch faule Kredite haben in Italien einen historischen Höchststand erreicht. Spaniens Industrieproduktion ist auf dem Niveau von vor 20 Jahren. Das zarte Pflänzlein in der Automobilindustrie ist durch eine Abwrackprämie teuer erkauft. Die Bauindustrie, die bei der spanischen Krise eine fatale Rolle gespielt hatte, ist nach wie vor am Boden.
In Portugal und Frankreich sieht es nicht anders aus. Auch dort sind die Industrieproduktionen auf dem Niveau von vor 20 Jahren. Die 1990 verabschiedete Lissabon-Strategie der EU, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum auf der Welt zu machen, ist nach 25 Jahren Subventionen und Umverteilung fast schon ins Gegenteil verkehrt. Die EU ist als Wirtschaftsraum zurückgefallen. Der Euro wird nur noch durch die unbegrenzte Intervention und die Zinsmanipulation der Zentralbank zusammengehalten. Die Überschuldungslawine kann weder in Griechenland noch in Italien, weder in Spanien noch in Portugal gestoppt, geschweige denn kann man aus ihr herauswachsen. Würde die Zentralbank den Zinszügel wieder anziehen, wäre sofort Schluss. Griechenland muss den Euroraum verlassen. Nicht so sehr, weil es durch eine Abwertung der eigenen Währung schneller wettbewerbsfähig werden könnte. Das kann so sein, muss aber nicht. Das Beispiel Simbabwe zeigt, dass das alleine auch nicht ausreicht. Griechenland muss den Euroraum verlassen, weil es der eindringlichste, der aussichtsloseste und der überschaubarste Fall in der Eurozone ist. Griechenland ist der Präzedenzfall, ob ein Austritt aus dem Euro möglich, beherrschbar und gleichzeitig für die anderen Krisenstaaten abschreckend genug ist, um alles zu tun, damit die Regeln des Euro eingehalten werden.
Nur wenn der Erpressungsversuch von Tsipras und Varoufakis durchbrochen wird, hat die Eurozone eine Chance. Wahrscheinlich ist das nicht, denn Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Mario Draghi und auch Jean-Claude Juncker wollen die Erfolgsgeschichte des Euro weiter erzählen. Sie wollen nicht, dass sie Forderungen abschreiben müssen und plötzlich die verlorenen Gelder in den jeweiligen Haushalten und Bilanzen sichtbar werden. Das würde ihrem Eintrag ins Geschichtsbuch ein unschönes Kapitel hinzufügen. Deshalb ist zu befürchten, dass der von Anbeginn verfolgte Plan von Tsipras und Varoufakis aufgehen wird. Zwar werden die Gläubiger lauthals Zeter und Mordio schreien. Beide Seiten werden sich gegenseitig beschimpfen, beleidigen und mit Dreck bewerfen. Vielleicht wird der Bundestag erst in der Sommerpause zu einer Sondersitzung zusammenkommen, doch am Ende wird Griechenland frisches Geld und geringere Auflagen erhalten und weiter am Tropf des Euro hängen. Geht der Euro-Club diesen einfacheren Weg des „Weiter so“, dann werden alle vom Schuldenvirus und der Politik des „Handaufhaltens“ infiziert. Das wäre dann politischer Vorsatz und nicht mehr nur grob fahrlässige Hilfeleistung.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Fuldaer Zeitung.
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