Photo: Volt2011 from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Corona hat aus vielen Eltern Homeschooler und aus manchen Lehrern experimentierfreudige Innovatoren gemacht. Vielleicht führt diese Erfahrung ja zu einem Umdenken in Sachen Schulsystem.

Wir haben aufgehört unser Schulsystem zu hinterfragen

Fortschritt bedeutet auch, überkommene Institutionen immer wieder zu hinterfragen. Alle großen Errungenschaften unserer Zivilisation sind durch beständiges Hinterfragen und Ausprobieren entstanden: Demokratie, Gleichberechtigung, die Trennung von Staat und Kirche. Es ist nicht gut, wenn wir uns zu sehr an die uns vertrauten Institutionen gewöhnen und kritisches Hinterfragen von Wirksamkeit und Effizienz verpönt oder im schlimmsten Fall sogar verboten ist. Derart verhält es sich mit dem deutschen Schulsystem. So gut und innovativ Deutschland in vielen Bereichen aufgestellt ist, so ist unser Ideal vom Lernen auf erschreckende Art und Weise begrenzt und in die Jahre gekommen. Die weit verbreitete Idee von Schule lautet in etwa so: „Kinder haben in einem bestimmten Alter in die (am besten staatliche) Schule zu gehen. Nur dort erhalten sie die notwendige Bildung und lernen den zivilisierten Umgang miteinander.“ Was auf den ersten Blick unstrittig klingt, muss aber nicht unbedingt stimmen. Das zeigen Homeschooling-Länder wie Kanada oder die stetig wachsende Nachfrage nach alternativen Schulkonzepten in Deutschland. Vielleicht dienen die noch frischen Corona-Erfahrungen ja auch so mancher Familie als Anstoß für die Forderung nach mehr Bildungsvielfalt. Was spräche denn dagegen?

Die deutsche Staatsbeschulungsdoktrin verliert den Bildungserfolg aus dem Auge

Deutschland ist wahrlich kein Land der Bildungsvielfalt. Auf staatlicher Seite gibt es zwar sechzehn verschiedene Kultusministerien. Die Unterschiede zwischen den Schulsystemen sind jedoch marginal und finden vorwiegend auf terminologischer und struktureller Ebene statt. Egal ob Gesamtschule oder Stadtteilschule: im Endeffekt sind Lehrmethoden und Bildungsansätze doch immer gleich. Und das ist auch so gewollt. Ein Schelm, wer erwarten würde, die Länder würden miteinander in den Wettbewerb um das beste Schulwesen treten! Stattdessen sind oft Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit das Ziel – und das am besten bundesweit. Die 9 Prozent Privatschüler sind da schon das höchste der Gefühle. Eigenverantwortliche Schulen, die im Wettbewerb miteinander Bildungskonzepte erproben, oder gar Homeschooling sind nicht nur pure Illusion; die meisten Deutschen würden ein System der Bildungsvielfalt vermutlich sogar als ungerecht empfinden.

Der Grund dafür liegt in einer Art „Staatsbeschulungsdoktrin“. Diese wird (auch im eigenen Interesse) von der Politik konsequent aufrechterhalten, denn Schulreformen waren schon immer ein super Wahlkampfthema. Außerdem sind die meisten von uns ja auch in staatlichen Schulen groß geworden. Schon aus Gewohnheit verteidigen viele deshalb den Status quo. Grundlage dieser Doktrin ist eine tief verankerte Gerechtigkeitsidee. Aufgabe der Schule ist es demnach, für Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu sorgen, indem allzu große Startunterschiede von Kindern aus verschiedenen Familien ausgeglichen werden. Außerdem wird die Schule mit der Aufgabe bedacht, die nächste Generation im Sinne der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu erziehen. Nicht Teil der Rechtfertigung des staatlichen Schulwesens ist hingegen der tatsächliche individuelle Bildungserfolg.

Individualität ist Grundlage für Lernerfolg

Was aber bringt Lernerfolg? Grundlage für erfolgreiches Lernen ist, dass alle am Lernprozess Beteiligten möglichst gut auf das einzelne Individuum eingehen können. Das hat etwas mit Lerngruppengröße zu tun – in einer Klasse mit 30 schreienden Grundschülern kann der ein oder andere schon einmal untergehen. Es hat aber auch etwas mit der gesamten Ausrichtung der Bildungsorganisation zu tun – bei manchen funktionieren Montessori und Co. wunderbar, manchmal aber eben auch nicht. Ziel sollte also ein möglichst vielfältiges Schulsystem sein, in dem Eltern, Kinder und Lehrer gemeinsam das beste Lernkonzept finden. Teil eines solchen Systems können nicht nur autonome staatliche Schulen sein, sondern selbstverständlich auch Homeschooler oder freie Schulen, die Konzepte erproben, die uns aus unserer eigenen Schulzeit ganz und gar fremd sind.

Homeschooling erfordert ein hohes Maß an Hingabe und Verantwortungsbewusstsein

Und was ist mit all den Horrorszenarien? Sind Homeschooling und freie Schulen nicht ein Einfallstor für Spinner, die in aller Ruhe die nächste Generation von „Flat-Earthern“ produzieren wollen? Wenn Corona uns eines vor Augen geführt hat, dann das Homeschooling wahrlich keine Aufgabe ist, die man mal so eben nebenher erledigen kann. Anders als das deutsche Vorurteil gegenüber Homeschoolern, zeigen Erfahrungen aus Kanada und den USA, dass Familien, die sich für dieses Bildungskonzept entscheiden, mit viel Hingabe und Verantwortungsgefühl an diese Aufgabe herangehen. Ein Verantwortungsgefühl, dass man sich manchmal auch von deutschen Eltern wünschen würde, die Erziehungsaufgaben nur zu gerne an den Klassenlehrer abgeben. Natürlich ist auch den meisten Homeschoolern bewusst, dass soziale Kontakte Teil der Bildung sein müssen, weshalb „außerschulische“ Hobbies zumeist ein elementarer Bestandteil von Homeschooling Konzepten sind. Hinzu kommt: Homeschooling ist nicht gleich Homeschooling. Viele kanadische Homeschooler greifen beispielsweise auf Online-Schulen zurück, die sie und ihre Kinder beim Lernen begleiten. Und der kanadische Staat erlaubt dieses Modell nicht nur, er finanziert es pro Schüler mit bis zu 1000 Dollar im Monat.

Es gibt viel bessere Instrumente für den Bildungsaufstieg

Und das Gerechtigkeitsargument? Ironischerweise sorgt das staatliche Schulsystem ja gar nicht für besonders viele „Bildungsaufsteiger“. Es sind die gleichen Leute, die strikt an der Staatsschuldoktrin festhalten, die sich dann über mangelnde Durchlässigkeit beschweren. Mit Sicherheit waren die Aufstiegschancen in Deutschland noch nie so gut wie heute, das heißt aber nicht, dass es nicht noch viel besser ginge. Und es gäbe viel bessere Instrumente, um Kindern mit schlechteren Startbedingungen zu helfen. Zum Beispiel Bildungsgutscheine, die nicht nur für die Bildungsinstitution der Wahl (egal ob frei oder staatlich) eingesetzt werden können, sondern auch für die extracurriculare Förderung im Sportverein oder beim Musikunterricht – um einmal die Klassiker zu bedienen. Eine andere Großbaustelle bestünde darin, die auf dem Kopf stehende Bildungsfinanzierungs-Pyramide umzudrehen. Diese garantiert aktuell nämlich eine kostenfreie Universitätsausbildung für Menschen, die längst selbst Verantwortung für sich und ihre Ausbildung übernehmen könnten, fordert aber andererseits im Vergleich horrende Gebühren für frühkindliche Bildungseinrichtungen.

Es ist an der Zeit unser Schulsystem zu öffnen!

Die Argumente für das real existierende deutsche Staatsschulwesen verlieren nicht nur den Lernerfolg komplett aus dem Auge, sie sind nicht einmal besonders gut. Staatliche Schulen sind weder das letzte Bollwerk gegen demokratiefeindliche Sekten und Verschwörer, noch sind sie Garant für sozialen Aufstieg. Individueller Bildungserfolg braucht viele Konzepte – auch wenn uns so manche auf den ersten Blick fremd erscheinen. Es ist deshalb an der Zeit unser Schulsystem zu öffnen – für Bekanntes wie Homeschooler, alternative Schulkonzepte und Wettbewerb. Und für noch Unbekanntes, das sich in den Köpfen motivierter, engagierter und verantwortungsbewusster Eltern und Pädagogen entwickeln wird, wenn man sie nur machen lässt.

1 Antwort
  1. Dirk W. Kühne
    Dirk W. Kühne sagte:

    Der Beitrag „Grenzenlose Bildung“ spricht mir nicht nur aus dem Herzen, sondern auch aus dem Verstand. Als Leiter einer privaten Schule versuchen ich – zusammen mit meinen Lehrkräften – den Spagat zwischen Anforderungen der Schulbehörde und guter Schule zu meistern. Das höchste Gebot staatlichen Bildungscredos scheint heute tatsächlich die Vergleichbarkeit zu sein. Vielfalt stört. Aus kleinen Individuen sollen große Einheitsbürger werden.“Differenzierung“ ist ein Begriff, der gerne in Sonntagsreden verwendet wird, montags bis freitags aber kaum eine Rolle spielt. Lieber wird in Kerncurricula detailliert festgezurrt, wer was bis wann zu lernen hat. Schulen in freier Trägerschaft sind ohnehin ein Störfaktor. Blöd nur, dass unsere Verfassungsväter und -mütter das anders sahen…

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