Photo: Adam Selwood from Flickr (CC BY 2.0)
Eine der zwar viel kritisierten, aber dennoch effektiven Gaben Helmut Kohl war es, unliebsame Probleme einfach auszusitzen. Das konnte er wie kein anderer. Franz-Josef Strauß brachte dies zur Weißglut. Einmal sagte er über Kohl: „Er ist total unfähig. Ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür“ – und damit meinte er das Kanzleramt. 1982 kam der Gescholtene dann doch ins Amt – und saß die nächsten 16 Jahre vieles aus.
Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle war damals gerade einmal 18 Jahre alt. Doch er hat diesen Geist Kohls tief verinnerlicht. Dies wird besonders deutlich beim Umgang mit der Politik der EZB, die gestern vor dem Karlsruher Verfassungsgericht erneut verhandelt wurde. Bereits 2012 fasste der EZB-Rat den Beschluss, im Zweifel unbegrenzt Anleihen von Krisenstaaten zu kaufen (OMT-Beschluss). Die Klage mehrerer Gruppen vor dem Bundesverfassungsgericht reichten die obersten Richter in Teilen an den Europäischen Gerichtshof weiter, der am OMT-Programm nichts auszusetzen hatte. Jetzt liegt der Fall wieder auf Voßkuhles Tisch und wird erneut verhandelt. Inzwischen sind dreieinhalb Jahre vergangen. Bis das abschließende Urteil erwartet wird, werden vier Jahre vergangen sein.
Die Welt hat sich inzwischen weitergedreht. Das OMT-Programm wurde bislang nie angewandt, sondern durch ein neues Programm ersetzt, abgelöst oder vielmehr verschlimmbessert. Jetzt heißt es EAPP (Expanded Asset-Purchase Program). Auch die Begründung wurde verändert. Die Störung des „Transmissionsriemens“ wurde durch die „Bekämpfung einer drohenden Deflation“ ersetzt. Wer dagegen klagen will, muss wahrscheinlich wieder vier Jahre warten, bis er ein Urteil in der Hand halten kann.
Die EZB, mit all ihrer Kreativität und Chuzpe, ist viel effizienter als die Behäbigkeit eines öffentlich-rechtlichen Verfassungsgerichts in Deutschland. Was ist von Karlsruhe zu erwarten? Bestenfalls nicht viel. Der Prozessvertreter des Deutschen Bundestages Martin Nettesheim wies bereits den Weg, den das Verfassungsgericht gehen könnte. Es könnte Anleihenkäufe definieren, die erlaubt sind und die nicht erlaubt sind. Für dieses Wischiwaschi-Urteil hätte das Verfassungsgericht dann vier Jahre gebraucht. Bemerkenswert!
Doch Richterschelte soll hier nicht geübt werden. Darum geht es nicht. Der Grundfehler dieser Auseinandersetzung ist, dass viele meinen, es sei eine juristische Frage, wie die Geldpolitik der EZB zu interpretieren sei. Das ist es vielleicht in Teilen auch. Dennoch versperrt diese juristisch spitzfindige Diskussion zuweilen den Blick für das Wesentliche. Worum geht es eigentlich? Geht es um die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen, von Verfassungsnormen oder früheren Rechtsprechungen? Nein, es ist zuvorderst eine ökonomische Frage. Löst die Intervention in den Anleihenmarkt in Euro-Raum irgendein Problem? Nach sechs Jahren Euro-Staatsschuldenkrise kann dies bereits empirisch verneint werden. Noch nie waren die Schuldenstände im Süden Europas so hoch und der Beschäftigungsquote so niedrig.
Es ist nahezu irrelevant, ob die EZB nur Anleihen der Krisenstaaten kauft oder von allen Euro-Staaten. Hier geht es allenfalls um die Körnung in der Schrotflinte. Furchtbare Kollateralschäden verursacht jeder dieser Schüsse. Probleme können nicht dadurch gelöst werden, dass die Zentralbank Schulden von Staaten mit Geld aus dem Nichts bezahlt. Würde das funktionieren, wäre Simbabwe reich, wohlhabend und prosperierend.
Der Euro kann unter diesen Voraussetzungen nicht auf Dauer überleben. Die wachsenden ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der Euro-Staaten lassen den Druck auf der Währung immer größer werden, bis sie platzt. Es braucht endlich ein wirksames Ventil, um die Luft aus der Schuldenblase langsam abzulassen. Dieses Ventil kann entweder die Insolvenz von Staaten innerhalb des Euro-Clubs und/oder der Austritt aus dem Euro-Club sein. Gerade in der Fastenzeit sollte man sich daher an den Ökonomen Roland Baader erinnern, der gesagt hat: „Was heute verfrühstückt wird, muss morgen nachgehungert werden.“
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