Die Abendlandsretter von Pegida haben zwei zentrale Punkte der Geschichte des Abendlandes nicht verstanden:
- Vermischung, Wandel, Entwicklung, Veränderung sind Grundkonstanten dessen, was man heute als Abendland bezeichnet.
- Und: Bedrohungen bekommt man nicht durch Angst in den Griff, sondern durch Mut.
Das Abendland ist Ergebnis von Offenheit
Schon die alten griechischen Philosophen und Wissenschaftler entwickelten ihre Theorien auch im beständigen Austausch mit Ägyptern, Persern und Kulturen Mesopotamiens. Das Judentum und das Christentum (die „christlich-jüdische Kultur“, die so gern beschworen wird) hat die unterschiedlichsten religiösen und kulturellen Einflüsse in sich vereinigt.
So geht es dann weiter durch die lange Geschichte des Abendlandes. Unsere Kultur hat sich aus den verschiedensten Quellen entwickelt. Gerade im Mittelalter war zum Beispiel der Einfluss der islamischen Kultur und Wissenschaft enorm.
Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset stellte schon 1953 in einer Rede fest:
„Es gehört eben zur europäischen Kultur als ihr vielleicht charakteristischster Zug, dass sie periodisch eine Krise durchmacht. Gerade das bedeutet aber, dass sie nicht, wie andere große geschichtliche Kulturen, eine verschlossene, auf immer kristallisierte Kultur ist. Es wäre daher ein Irrtum, die europäische Kultur nach bestimmten Merkmalen zu definieren.
Ihr Ruhm und ihre Kraft bestehen darin, dass sie stets bereit ist, über das, was sie war, hinauszugreifen, immer über sich selbst hinauszuwachsen. Die europäische Kultur ist eine immer fortdauernde Schöpfung. Sie ist keine Herberge, sondern ein Weg, der immer zum Gehen nötigt.“
Die abendländische Kultur lebt von dieser Offenheit, von der Bereitschaft, sich fremden Einflüssen nicht zu verschließen. Sie ist gewachsen an der fruchtbaren Begegnung mit anderen Kulturen. Niemals hätte sie überlebt oder gar eine solche Anziehungskraft entwickelt, wenn sie sich ängstlich in einem starren Kokon eingeschlossen hätte. Das Abendland, das viele der Pegida-Sympathisanten verteidigen, ist eine Fiktion, die nur in ihren Köpfen existiert.
Zuversicht statt Panik
Obwohl viele der sorgenvollen „patriotischen Europäer“ zweifellos von der Überlegenheit ihrer eigenen Kultur überzeugt sind, glauben sie offenbar nicht, dass diese Kultur für andere als für sie selbst überzeugend sein könnte. Vielleicht, weil sie nicht anerkennen wollen, dass die Offenheit der abendländischen Kultur ihre größte Stärke ist.
Wir haben im Abendland grausame Ideologien der Unterdrückung und des Hasses überwunden: Feudalherrschaft, Absolutismus, Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus, Kommunismus, Faschismus … Die Liste der Sünden des Abendlands ist lang. Die Grausamkeiten, die in unserem kulturellen Kontext verübt wurden, stehen dem Islamismus in nichts nach.
Wir haben diese Ideologien überwunden, weil das Modell der toleranten und offenen Gesellschaft letztlich immer attraktiver war und sich durchgesetzt hat. Wer das Abendland für ein so erfolgreiches Konzept hält, sollte nicht daran zweifeln, dass es auch diejenigen überzeugen wird, die heute vielleicht noch dem Islamismus anhängen.
Von abendländischen Werten überzeugen wird man nicht, indem man Angst und Panik verbreitet und sehnsuchtsvoll nach Putin als Retter ruft. Überzeugen kann man heutige und künftige Islamisten nicht, indem man das Abendland zur Festung ausbaut, sondern indem man es wie ein Zelt öffnet. Wenn wir Europa zu einem Ort der Gastfreundschaft machen, können sich Menschen von der Attraktivität unserer Kultur überzeugen. Ein altes Sprichwort hat sich noch immer bewährt: „Wie man in den Wald ruft, so schallt es hinaus.“ Wer diese Zuversicht teilt, steht in der Tradition dessen, was am Abendland das Beste ist.
Pluralismus statt Kulturkampf
Mehr als hundert Jahre bevor Samuel Huntington sein berühmtes Buch „Kampf der Kulturen“ veröffentlichte gab es in Deutschland einen „Kulturkampf„.
Getragen vom sich aufgeklärt und fortschrittlich wähnenden Bürgertum versuchte Bismarck, die Macht der als rückständig angesehenen katholischen Kirche im Deutschen Reich zu brechen. Gebracht hat das außer einer gewissen Radikalisierung der Katholiken überhaupt nichts. Verordnete Toleranz hilft eben nicht, sondern führt sich vielmehr nur selbst ad absurdum.
Das Erfolgsrezept des Abendlandes, der jüdisch-christlichen Kultur, der Aufklärung ist und bleibt der Pluralismus. Toleranz und Offenheit zu leben, ist die beste Werbung für diese Werte. Natürlich müssen Toleranz und Offenheit auch gegen ihre Feinde verteidigt werden. Aber das funktioniert nur mit den Waffen der Überzeugung und der Glaubwürdigkeit.
Der Philosoph Karl Popper sagte 1958 in einem sehr lesenswerten Vortrag zum Thema „Woran glaubt der Westen?“:
„Unser Stolz sollte es sein, dass wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen; dass wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, dass wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“
Photo: Nathan from Flickr
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