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Von Dr. Stephen Davies, Head of Education beim Institute of Economic Affairs in London.
Noch ehe das Corona Virus die Welt in seinen Bann schlug, wuchs die Zahl der Stimmen, die einen Epochenwechsel verkündeten: Nun würde die postliberale Ära beginnen. Der Begriff „postliberal“ fand sowohl als Fremd- als auch bei der Selbstbeschreibung Verwendung. Die These vom Ende der liberalen Epoche hat sich nun im Gefolge der Pandemie und der staatlichen Reaktionen noch rascher durchgesetzt. Der Eindruck, dass ein Ereignis dieser Größenordnung eine Art Schlussstrich oder Wendepunkt markiert, ist weit verbreitet und nachvollziehbar.
Interessanterweise identifizieren viele Menschen den Wendepunkt als Moment, in dem wir von einer liberalen Ära in das postliberale Zeitalter eintreten, in dem liberale Ideen und Politikmaßnahmen vermutlich der Vergangenheit angehören werden. Diese Einschätzung ist freilich nicht die einzige mögliche Entwicklung, die sich aus einer solchen Zeitenwende ergeben müsste: Warum sollte uns nicht eine vollkommen andere Art von Zukunft erwarten? Die Einschätzung folgt aus einer bestimmten Wahrnehmung der Vergangenheit und dem Gefühl, zu verstehen, was durch diese Pandemie offenbar werde. An dieser Argumentation ist etwas dran, aber wir müssen noch genauer hinsehen.
Die vielen unterschiedlichen Liberalen sollten sich allerdings nicht irre machen lassen und befürchten, dass die Lichter der liberalen Zivilisation in ganz Europa erlöschen: Wenn sie die derzeitigen Veränderungen besser verstehen, könnte das am Ende zu einer Verbesserung gegenüber dem Status Quo der letzten zwei bis drei Jahrzehnte führen.
Was bedeutet das Schlagwort postliberal eigentlich? Wenn wir den Begriff analysieren, hat er zwei unterschiedliche Bedeutungen. Erstens impliziert die Vorsilbe „post“, dass wir uns in einer liberalen Ära befanden, in der liberale Ideen und liberale Politik dominierten. Diese Sicht der Dinge ist bei der Linken weit verbreitet und wird auch von manchen konservativen oder rechten Denkern vertreten.
Diese sehr unterschiedlichen Menschen sind alle der Meinung, dass die öffentliche Debatte und das politische Geschehen von spezifisch liberalen (oder auch „neoliberalen“) Ideen dominiert wurden wie freien Märkten, Globalisierung, offenen Grenzen, kulturellem und intellektuellem Individualismus und einer Beschränkung der Regierungsmacht. Ein Kommentator ging so weit zu behaupten, dass Ludwig von Mises der einflussreichste Ökonom der letzten vierzig Jahre gewesen sei.
Zweitens suggeriert der Begriff postliberal, dass wir diese liberal geprägte Welt nun hinter uns gelassen hätten und uns auf dem Weg in eine andere Welt befänden, in der nicht-liberale Ideen die öffentliche Debatte beherrschen werden, ohne dass sies notwendigerweise eine antiliberale Welt sein muss. Ein Teil des Erbes der liberalen Periode kann durchaus überleben. Genau diese Einschätzung ist auch vor jenem schicksalhaften Sommer 1914 aufgetreten und wurde zu einem Gemeinplatz in den Jahren nach dem Krieg.
Die erste Implikation wird bei vielen klassisch Liberalen und Individualisten für zynische Heiterkeit sorgen. Manch einer dürfte gar in schallendes Gelächter ausbrechen bei der Vorstellung, dass die vergangenen Jahrzehnte von freien Märkten, beschränkter Regierungsmacht und Individualismus geprägt gewesen seien: „Ach, wenn dem doch nur so wäre …“
All das ist jedoch Ansichtssache: Ein Sozialist oder Konservativer wird viel stärker den Eindruck haben, dass sich die Gesellschaft tatsächlich weit in eine liberale Richtung bewegt hat (oder vielmehr das, was sie als liberal ansehen). Ein Liberaler hingegen wird viel eher den gegenteiligen Eindruck haben oder zumindest bedauernd feststellen, wie begrenzt die Entwicklung bisher war. Es hilft hier, wie eigentlich immer, die historische Perspektive.
Diese zeigt uns, dass die Kritiker des Liberalismus nicht ganz Unrecht haben: Über einen längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hat es eine Verschiebung in Richtung Liberalismus gegeben. Insbesondere ist ein Rückgang des Einflusses von eindeutig nicht- oder antiliberalen Denk- und Handlungsweisen in der Politik und darüber hinaus zu beobachten. In der jüngeren Vergangenheit, insbesondere in den letzten dreißig Jahren, haben allerdings häufig als liberal bezeichnete Vorhaben Formen angenommen, die vielen Liberalen widerstreben. Auch deshalb können sie sie das von ihren Kritikern gezeichnete Bild häufig gar nicht erkennen.
Blicken wir zurück auf die späten 1940er Jahre. Damals befand sich der Liberalismus auf einem Tiefpunkt und blieb es auch für eine ganze Weile. Auch wenn der Faschismus (und mithin der reaktionäre Konservatismus) im Zweiten Weltkrieg besiegt worden war, waren antiliberale Ideen immer noch weit verbreitet und einflussreich. Sowohl in den USA als auch im Vereinigten Königreich herrschte ein heftiger politischer und intellektueller Wettstreit darüber, ob die umfangreichen staatlichen Kontrollen, die während des Krieges eingeführt worden waren, beibehalten werden sollten. Der Ausgang dieses Streits blieb für lange Zeit ungewiss.
Noch offensichtlicher war die globale Bedrohung durch explizit antiliberale Ideen, die durch Militärmacht unterstützt wurde: Der internationale Kommunismus in Gestalt der UdSSR und ihrer ausländischen Unterstützer, aber auch der revolutionäre Nationalismus, der in der Zwischenkriegszeit viele antikoloniale Bewegungen erfasst hatte. Auch der traditionelle Despotismus in Gegenden wie Lateinamerika und dem Nahen Osten, den der liberale Westen aus geopolitischen Gründen tolerierte oder sogar unterstützte. Selbst in demokratisch verfassten Ländern bildeten die Liberalen in der Regel eine kleine Minderheit.
Die freiheitlichen Demokratien, die die Errungenschaften des Liberalismus des 19. Jahrhunderts verwirklichten, wurden politisch von Traditionslinien dominiert, die während der Krise des klassischen Liberalismus am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden waren: demokratischer Konservatismus oder Christdemokratie auf der rechten Seite, Sozialdemokratie auf der linken. Zu jener Zeit waren beide Traditionen in ihren Grundüberzeugungen und einem Großteil ihrer Politik nicht liberal. Die Liberalen hatten keine andere Wahl, als mit einer oder beiden dieser Bewegungen ein Zweckbündnis einzugehen.
Ab Mitte der 1960er Jahre waren die Bemühungen dieser liberalen Politiker, und damit auch die Vorarbeit der Intellektuellen, teilweise erfolgreich. Vereinfacht dargestellt, überredeten die klassischen oder marktwirtschaftlichen Liberalen die demokratischen Konservativen, sich auf Ideen des wirtschaftlichen Liberalismus einzulassen. Zugleich gelang es Liberalen, die Sozialdemokraten zur Unterstützung wichtiger Anliegen des gesellschaftlichen Liberalismus zu bewegen. (Wir vergessen oft, dass Sozialdemokraten und Arbeiterbewegungen vor den 1960er oder 1970er Jahren genauso konservativ waren wie die eigentlichen Konservativen, wenn nicht sogar noch mehr.)
Nach 1990, gelang es, einige Konservative von positiven Aspekten des gesellschaftlichen Liberalismus zu überzeugen und einige Sozialdemokraten von den Vorteilen der wirtschaftlichen Freiheit. In diesem Sinne haben die Gegner des Liberalismus Recht: Es gab in den Jahren nach 1970 eine Bewegung hin zum Liberalismus, und liberale Ideen und politische Maßnahmen haben größere Verbreitung gefunden.
Diese Entwicklung muss aber differenziert betrachtet werden. Während die demokratische Rechte wirtschaftlich liberal und die Linke gesellschaftlich liberal wurde, überzeugte das kaum Anhänger einer der beiden Seiten vollumfänglich vom Liberalismus und dessen fundamentalen Prinzipien. Obwohl liberale Ideen an Einfluss gewannen und einige politische Entscheidungen beeinflussten, gewann damit der Liberalismus als solcher nicht an Gewicht. Stattdessen sind eigenartige ideologische Mischformen entstanden.
1989/90 endete der Kalte Krieg und die Sowjetunion brach zusammen. China blieb zwar eine Diktatur, regiert von von einer rücksichtslosen Oligarchie, folgte aber bereits nicht mehr einer kommunistischen Ideologie. Damals schien es, als ob die verschiedensten liberalen Ideen den Siegeszug anträten. Sie hätten die wichtigsten demokratischen Ideologie-Traditionen auf ihre Seite gezogen, und nun sei die zweite große antiliberale Kraft des 20. Jahrhunderts untergegangen. Wenn die Kritiker des Liberalismus behaupten, dass wir eine Epoche des (Neo-)Liberalismus hinter uns hätten, dann haben sie die 30 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer im Blick.
Es schien, als gebe es keine andere Ideologie mehr, wie der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama behauptete. Und doch war dieser vermeintliche Triumph für den Liberalismus eher ein Nachteil. Liberale Ideen wurden nämlich nicht etwa plötzlich bewusst und offen vertreten und prägten auch nicht Diskurs und Politik. Stattdessen wurden nur explizit antiliberale Ideen diskreditiert.
So wurde zwar in einigen Bereichen Politik betrieben, die liberal geprägt war. Doch nicht deshalb, weil sich jemand den Idealen und Werten des Liberalismus verpflichtet hätte, sondern vielmehr, weil diese Maßnahmen technisch überlegen schienen oder dem scheinbaren Mittelweg folgten. Falls man überhaupt davon sprechen kann, dass die Politik der letzten 30 Jahre eine Art theoretischer Grundlage gehabt habe, ließe die sich wohl als Technokratie der Manager beschreiben. Dies ist die Überzeugung, dass sich das wirtschaftliche und soziale Leben, und zunehmend auch das Privatleben, am besten organisieren lässt, indem man die Vorgaben der Wissenschaft praktisch umsetzt.
Dies äußerte sich in zwei Arten von Politik, die heute im Zentrum der Kritik am Liberalismus stehen. Einerseits: Es wurde zwar marktfreundliche Politik betreiben, sie basierte aber darauf, dass Marktbeziehungen vom technokratischen Staat und fachkundigen Ökonomen in Gang gebracht und erhalten wurden, und war nicht das Ergebnis der Interaktionen unabhängiger und freier Individuen. Die Folge war ein Wirtschaftssystem, das immer stärker vom Einfluss von Sonderinteressen geprägt war: Es begannen die Ära einer Kaste der Manager und leitenden Angestellten, die sich durch eine bestimmte, eng gefasste Ausbildung qualifizierte, und das Zeitalter der untereinander vernetzten Großkonzerne, insbesondere in der Finanzindustrie. Ein zentraler Bestandteil dieses neuen Systems war eine zunehmend verzerrte Geldpolitik, die wie eine heimtückische Droge wirkte, und das Wirtschaftsgefüge zunehmend in der Substanz schädigte.
Der zweite Aspekt war eine Gesellschaftspolitik, die sozialen und kulturellen Individualismus förderte, sich aber von konkreten sozialen Beziehungen und Verantwortlichkeiten entfernte. Dies ging einher mit einer Ausweitung des Wohlfahrtsstaates und der Umverteilung, begründet durch eine Verbindung der Ideen von Gleichheit und Individualismus.
Entscheidend für unsere Überlegungen ist: Obwohl liberale Ideen breites Gehör fanden, gab es nicht mehr selbstbewusste und prinzipientreue Liberale jeglicher Couleur als Anfang der 1960er Jahre. Die Grundüberzeugungen verloren ihre fundamentale Bedeutung und wurden mehr aus Pragmatismus als aus Leidenschaft verfolgt. Diese Art technokratischer Politik konnte nicht unbegrenzt überleben, weil sie eine ganze Reihe von grundlegenden Fragen unbeantwortet ließ.
Als Reaktion darauf gewannen nicht-liberale oder explizit antiliberale Ideen und Philosophien langsam wieder an Boden und fanden neue Ausdrucksformen. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums hat dies unterschiedliche Formen angenommen: Ein Revival des traditionellen reaktionären Konservatismus (insbesondere in Europa, aber auch in den angelsächsischen Ländern); offen antiliberale religiöse Bewegungen; und der vermehrte Einsatz populistischer Taktik, die Nationalismus und Interventionismus mit einer feindseligen Einstellung gegenüber Kosmopolitismus und gesellschaftlichem Liberalismus verbindet.
Auf der linken Seite gibt es zwei Tendenzen, die zunehmend in erbittertem Konflikt sowohl zueinander als auch mit dem status quo und natürlich mit liberalen Ideen stehen. Die erste ist eine Wiederbelebung des klassischen Sozialismus und des Marxismus. Die zweite Tendenz ist die identitätspolitische Linke, die man auch als Social Justice Warriors bezeichnet, die in der Tradition der Postmoderne stehen. Sie verbinden eine radikal subjektivistische Idee von Identität mit einer tribalistischen Vorstellung vom gesellschaftlichen Leben und einer höchst intoleranten Sicht darüber, wie öffentliche Diskurse abzulaufen haben.
All diese Bewegungen stellen sich selbstbewusst gegen den Status quo, den sie als Ausdruck des Liberalismus sehen, den sie auch in einem tieferen Sinne ablehnen. Politisch waren diese Bewegungen zunehmend erfolgreich, auch schon vor dem Schock der Corona-Pandemie und der von ihr ausgelösten Wirtschaftskrise.
Das sieht alles nicht so gut aus. Und in mancherlei Hinsicht ist es das auch wirklich nicht. Es ist jedoch denkbar, dass die Antwort auf diese Herausforderungen am Ende viel Gute bewirkt. Was die Liberalen in der Nachkriegszeit erlebten, führte dazu, dass ihre Ideen und ihre Identität sich abschwächten, auch wenn ihr Einfluss auf politische Entscheidungen teilweise zunahm. Die gegenwärtige Position erfordert, dass die Liberalen im Allgemeinen und die klassisch Liberalen im Besonderen ihre Grundprinzipien wiederentdecken müssen (die nicht mit einer bestimmten politischen Perspektive verwechselt werden sollten), und dass sie sich ihrer eigenen unverwechselbaren philosophischen und ideologischen Identität stärker bewusst werden müssen.
Wenn man mit einer explizit antiliberalen Politik konfrontiert ist, gibt es nur einen Weg nach vorn, nämlich den, eine ganzheitliche liberale Antwort zu geben. Dies impliziert dreierlei: Grundlegende liberale Ideen und Werte neu zu formulieren wie etwa das Konzept der persönlichen Autonomie und die Begrenzung des Wirkungsbereichs der Politik (und das ist mehr als deren Begrenzung aus reinen Effizienzgründen). Die gesamte Bandbreite liberalen Denkens in einer Vielzahl von Fragen zu erkunden und weiterzudenken, anstatt sich nur auf einen Bereich oder eine Disziplin zu verengen. Und die Teile der liberalen Tradition zusammenzuführen, die über die Zeit auseinander gedriftet sind, die in den Grundlagen übereinstimmen, obwohl sie vielleicht in einzelnen Bereichen, wie etwas in Fragen der Wirtschaft, unterschiedliche Ansichten haben.
Politische Identitäten und Traditionen entstehen oft als Antwort auf eine Herausforderung durch ihre Gegner. Nach 1945 stand der Gegner eindeutig fest, woraus sich eine ganze Reihe von taktischen Allianzen ergaben. Jetzt, wo wir mit antiliberalen Angriffen von verschiedenen Seiten konfrontiert werden, dürfen wir sehr darauf hoffen, dass als Antwort eine stimmige liberale Identität wiederersteht. Falls uns das gelingt, werden wir in der angeblich postliberalen Ära auf ein Gedankengebäude zurückgreifen können, das wieder eindeutiger und klarer liberale Ideen und liberalen Aktivismus ermöglicht als das zuvor der Fall war.
Erstmals erschienen auf dem Blog des American Institute for Economic Research.
Eine saubere Analyse und eine saubere Schlussfolgerung, auf die sich aufbauen lässt!