Photo: Koninklijke Bibliotheek from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Der Souverän ist nackt: was in der Monarchie noch eine einzelne Person betraf, gilt inzwischen für das ganze Volk. Die deutschen Bürger werden signifikant ärmer und keiner spricht darüber. Dabei wäre Ehrlichkeit der beste Weg aus dieser Situation.

Wir haben uns kaufen lassen

Der Angriff auf die Ukraine war der Schubser, der eine Lawine ins Rutschen brachte, die sich schon seit Langem angestaut hatte. Dass Linke und Rechte versuchen, die gesamte Verantwortung auf den Krieg zu schieben, hat nicht nur mit ihrer Sympathie für Russland und das dortige Regime zu tun. Viele der Probleme, sie sich angestaut haben, lassen sich nämlich nur durch politische Maßnahmen lösen, die diesen Leuten und ihrer Klientel so gar nicht passen wie eine erhebliche Ausweitung der Zuwanderung, eine Anhebung des Rentenalters und Reformen, die die Marktwirtschaft erheblich dynamisieren würden. Die derzeitige Lage aus Inflation und Rezession ist nicht auf einen Meteoriteneinschlag zurückzuführen. Sie ist das Ergebnis einer zunehmenden Antriebslosigkeit und – das muss man schon auch mal so aussprechen: der Bereitschaft unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, sich von der Politik kaufen zu lassen. Faul und korrupt: das sind nicht (nur) Politiker – das sind die auch Wähler.

Das Problem ist: das wird keine Politikerin und vermutlich auch kein Journalist sagen, der noch bei Sinnen ist. Der Souverän ist nackt und alle schauen beschämt weg. Dabei gibt es durchaus Situationen, in denen öffentliche Akteure das klare Wort schätzen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, als Opposition der Regierung ihr Versagen vorzuwerfen. Oder wenn man vor sehr generellen und abstrakten Dingen warnt wie etwa den katastrophalen Folgen von Klimawandel oder zunehmender Migration. Doch die gegenwärtige Situation ist anders. Die Energiewende, die Rentenexplosion, die Bürokratisierung aller Lebensbereiche sind von sämtlichen seriösen Parteien durchgesetzt, getragen oder zumindest beibehalten worden. Die Krisen, mit denen wir derzeit zu kämpfen haben, sind Ergebnis einer breiten Koalition aus Politikerinnen, Journalisten und zum Teil auch Akademikern, die für ihre Rundum-Sorglos-Welt begeisterten Beifall erhalten haben.

Wer sagt dem Souverän, dass er nackt ist?

Die dreistelligen Milliarden-Summen, die gerade in eindrucksvoller Taktung über die Republik geblasen werden, kaufen nur wenige Monate Zeit. Und dann wird die Realität uns wieder schonungslos einholen. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo auch die fantastischsten Geldsummen nicht mehr zudecken können, dass wir ärmer werden. Und das bedeutet für einige im Land ein, zwei Fernreisen weniger – für viele andere wird das knallhart. Mit dieser Realität sollten wir uns besser früher als später vertraut machen.

Das größte Hindernis auf dem Weg zu einer klaren Kommunikation sind freilich die Bürger selbst. Wie viele Menschen im Land würden es wohl honorieren, wenn ihnen jemand klar machen würde, dass die staatlichen Wundertöpfe mehr als leer sind? Wer ließe sich Subventionen und Renten kürzen, Steuern und Abgaben erhöhen ohne mit wehenden Fahnen zu dem politischen Akteur überzulaufen, der einem Schonung und Privilegien verspricht? Wer will sich sagen lassen, dass man nackt ist, dass man sich wie der Kaiser hat täuschen lassen? Man muss nicht nur den Gürtel enger schnallen, sondern auch noch zugeben, dass man sich durch billiges Geld, Schulden, Subventionen, Markteingriffe und dreckige Deals einen gigantischen Bären hat aufbinden lassen.

Wir brauchen eine moralische Energiewende

Zu den wichtigsten Aufgaben, die wir alle – öffentliche Akteure ebenso wie jede und jeder einzelne von uns – in den kommenden Monaten und Jahren zu stemmen haben, gehört es, dass wir uns ehrlich machen über die Lage in unserem Land: die marode Infrastruktur, die fragile Energielage, die demographische Katastrophe. Nur wenn wir diesen Herausforderungen direkt ins Auge sehen, können wir anfangen, an Lösungen zu basteln, die nicht nur Symptome bekämpfen. Nur wenn wir wissen, wie groß die Herausforderungen wirklich sind, können wir die Kraft finden, die nötigen großen Reformen anzugehen. Weil wir nur dann verstehen, dass deren Härten ertragen werden müssen, um den viel Schlimmeren zu entgehen.

Das Ärmer-Werden wird viel Wut erzeugen. Schon jetzt kann man das an Demonstrationen und Wahlergebnissen ablesen. Wut ist eine enorm energieintensive Emotion. Man kann diese Energie so viel besser nutzen. Das zeigen historische Ereignisse wie das „Wirtschaftswunder“, die Erholungsphase nach der tiefen Rezession in Großbritannien in den 70er Jahren oder die Aufholjagd etlicher osteuropäischer Länder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Wenn es uns gelingt, die Wut- und Enttäuschungsenergie umzuwandeln in Abenteuerlust und Optimismus, dann können wir die heftige Scharte auswetzen. Wenn wir aber in unserem Wolkenkuckucksheim eingeigelt bleiben, dann werden die Stürme der Demographie, des Klimawandels und der Autokratien uns eines Tages womöglich in eine noch viel dramatischere Abwärtsspirale fegen. Wir brauchen den Mut zur Ehrlichkeit. Und es ist unsere Aufgabe als Wählerinnen und Bürger, diese Ehrlichkeit einzufordern von den Menschen in Politik, Journalismus und Wissenschaft.