Photo: Dan Meyers from Unsplah (CC 0)

Von Alexander Horn, Geschäftsführer von Novo Argumente und Unternehmensberater. Zuletzt erschien sein Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

Vor ziemlich genau zehn Jahren, kurz vor der Hannover-Messe 2011, prognostizierten Vertreter der Initiative „Industrie 4.0“ eine Transformation der industriellen Produktion, die in eine „vom Internet getriebene 4. industrielle Revolution“ führen werde. Deutschland, so vermuteten damals Henning Kagermann, Dieter Lukas und Wolfgang Walser, drei Vertreter dieser Vision aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, könne wegen seines „hochinnovativen produzierenden Gewerbes“ eine führende Rolle einnehmen.

Es gehe darum, in Wertschöpfungsprozessen eine Brücke zwischen virtueller und dinglicher Welt entstehen zu lassen und den industriellen Transformationsprozess in Richtung „noch stärkerer Automatisierung“ voranzutreiben. Hinzu komme nun „die Entwicklung intelligenter Überwachungs- und autonomer Entscheidungsprozesse, … um Unternehmen und ganze Wertschöpfungsnetzwerke in nahezu Echtzeit steuern und optimieren zu können.“[1]

Produktivitätsrätsel

Seitdem hat diese Idee einer anstehenden Verschmelzung digitaler Modelle mit der physischen Realität in Wertschöpfungsprozessen einen regelrechten Hype ausgelöst. In der Politik wurde „Industrie 4.0“ begierig aufgegriffen, weil die stärkere Digitalisierung eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sowie eine ressourcen- und energieeffizientere Wirtschaftsweise versprach. In den letzten Jahren ist die Digitalisierung sogar zu einem Mega-Thema geworden. So soll das politische Ziel erreicht werden, wirtschaftliches Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln und einen wichtigen Beitrag gegen den Klimawandel zu leisten.

Aber auch in der Wirtschaft ist viel passiert. Unternehmen entwickeln sich Schritt für Schritt von Massenproduzenten zu Herstellern von individualisierten und maßgeschneiderten Kundenlösungen, was ihnen die Fähigkeit abverlangt, kleinere Serien oder sogar in Losgröße 1 hocheffizient produzieren zu können. Viele Vorreiterunternehmen, die Grundprinzipien von „Industrie 4.0“ anwenden, haben sich durch digitale Vernetzung ihrer Produktion in Richtung sogenannter „smart factories“ entwickelt. Die breite Masse der Unternehmen ist jedoch bei der Umsetzung dieser Vision bisher kaum vorangekommen, denn die Steigerung der Arbeitsproduktivität – das typische Merkmal früherer industrieller Revolutionen – ist in den meisten Industriebranchen in Deutschland bis heute ausgeblieben.

Schon die dritte industrielle Revolution, die auf den Einsatz von Elektronik und IT seit Mitte der 1970er Jahre zurückgeführt wird, hatte in Deutschland keinen zusätzlichen Effekt in der Arbeitsproduktivität ausgelöst. Bereits vor mehr als 30 Jahren wies Robert Solow, der für seine Forschungen zum technologischen Fortschritt den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, auf die widersinnige Produktivitätsentwicklung im Kontext der digitalen Revolution hin: „Man sieht das Computerzeitalter überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken“, schrieb er damals.[2] Seitdem gab es zumindest in den USA Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre einen spürbaren Produktivitätseffekt hoher IT-Investitionen, der danach aber wieder abebbte. In anderen entwickelten Ländern wie in Deutschland trat ein solcher Effekt – wenn überhaupt – nur abgeschwächt auf.

Tatsächlich hat sich die Arbeitsproduktivität in Deutschland seit den 1970er Jahren immer schwächer entwickelt. Nachdem es der Industrie seinerzeit noch gelang, innerhalb einer Dekade die Arbeitsproduktivität um etwa 50 Prozent zu steigern, reduzierte sich der Produktivitätsfortschritt auf nur noch etwa 30 Prozent in den folgenden Jahrzehnten. Seit 2011, dem virtuellen Startschuss der vierten industriellen Revolution, hat die Industrie bis Ende 2017, also kurz vor dem Beginn der Industrierezession in Deutschland, nur noch knapp 9 Prozent erreicht. Bis 2020 ist dieser minimale Anstieg, infolge eines eingetretenen Produktivitätsrückgangs, jedoch fast vollkommen zunichte gemacht worden.[3] Das heutige Produktivitätsniveau der Industrie ist also mit dem des Jahres 2011 fast identisch.[4]

Digitale und physische Welt

Der Frage, worauf dieser Widerspruch zwischen seit Jahrzehnten steigenden IT-Investitionen der Unternehmen, die einen immer größeren Anteil der Gesamtinvestitionen ausmachen, und dennoch sogar stagnierender Arbeitsproduktivität beruhen könnte, gehen das Institut für Lernen und Innovation in Netzwerken (ILIN) und das Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) in der Studie „Wertschöpfungspotenziale 4.0“ auf den Grund. Dies zu klären, sei für das Hochlohnland Deutschland entscheidend, denn um „hochwertige Produkte zu konkurrenzfähigen Preisen herstellen zu können, ist eine hohe Produktivität von großer Wichtigkeit und somit wesentlich zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit.“[5]

Das entscheidende Manko der Digitalisierungsbestrebungen sehen die Forscher um Prof. Steffen Kinkel von der Hochschule Karlsruhe darin, dass die Unternehmen zu einseitig auf IT-Lösungen setzen, obwohl Produktivitätsfortschritte in erster Linie auf Prozessverbesserungen beruhen. Denn die Digitalisierung der Produktion, führe „nicht zwangsläufig zu Produktivitätszuwächsen. Die Digitalisierung ineffizienter Prozesse führt zu ineffizienten digitalen Prozessen.“[6]

So zielen viele Digitalisierungsprojekte ausschließlich darauf ab, die Komplexität von Produktions- und Logistikstrukturen mit Hilfe mächtiger IT-Werkzeuge zu beherrschen. Oft wird nicht der Versuch unternommen, die Komplexität der Abläufe zunächst durch Veränderungen der physischen Prozesslandschaft zu reduzieren, also leichter beherrschbar zu machen. Man glaubt, mit Hilfe von IT-Lösungen den einfachen Weg gehen zu können und den in echten Innovationen steckenden Herausforderungen ausweichen zu können. Dieser Innovationspfad ist nicht trivial und würde Thomas Alva Edison zufolge „99 Prozent Transpiration und ein Prozent Inspiration“ bedeuten.

Die zur Prozesssteuerung erforderliche Transparenz („Daten in Echtzeit“) sowie Produktivitätspotenziale oder die Fähigkeit der Einzelstückfertigung lassen sich typischerweise erst erschließen, wenn man bei der Digitalisierung ähnlich wie bei der Automatisierung vorangeht: Erst organisieren, also die Prozesse gut strukturieren, dann optimieren, also die physischen Abläufe in Richtung des Ziels, z.B. die effiziente Erzeugung individueller Kundenprodukte oder Dienstleistungen, verändern. Erst dann folgt der Schritt des Automatisierens bzw. Digitalisierens. Letztlich, so Oliver Prause, Vorstand des Instituts für Produktionserhaltung (infpro), das die Studie in Auftrag gegeben hat, müsse in das Bewusstsein der Führungskräfte in den Unternehmen gerückt werden, dass „die Verbesserung der Wertschöpfung zu Produktivitätsfortschritten führt und nicht die Digitalisierung.“

ISI und ILIN kommen aufgrund eigener wie auch fremder Forschungen sowie Experteneinschätzungen zu dem Ergebnis, dass im Verarbeitenden Gewerbe ein Wertschöpfungspotenzial von etwa 95 Milliarden Euro steckt. Das entspreche einer Arbeitsproduktivitätsverbesserung von 14,2 Prozent. Diese könne realisiert werden, wenn sogenannte Lean-Prinzipien, die insbesondere in der deutschen Automobilindustrie seit Jahrzehnten sehr erfolgreich angewendet werden und dazu dienen nicht wertschöpfende Tätigkeiten aus den Arbeitsprozessen zu eliminieren, umfänglich zur Verbesserung der physischen Prozesse eingesetzt würden. Aus den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ließe sich ableiten, dass „die Anwendung von Lean-Prinzipien und der Einsatz von Technologien zur digitalen Vernetzung der Produktion Möglichkeiten“ der Kombination böten. Zudem ließen sich aus den Ähnlichkeiten der Konzepte Synergien erschließen.[7]

Rückgang transformativer Investitionen

Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass Digitalisierungsprojekte vielfach dazu dienen, schwierigen sowie aufwendigen und zudem oft kapitalintensiven Verbesserungen der physischen Wertschöpfung auszuweichen – was die Produktivitätsentwicklung blockiert. Tatsächlich sind im Verarbeitenden Gewerbe die für technologischen Fortschritt und Arbeitsproduktivitätsverbesserungen entscheidenden Ausrüstungsinvestitionen im Verhältnis zur Bruttowertschöpfung von über 12 Prozent Anfang der 1990er Jahr auf nur noch etwa 8 Prozent in den 2010er Jahren gesunken. Sogar besonders erfolgreiche Branchen wie der Maschinenbau – mit etwa einer Million Beschäftigten eine der größten deutschen Industriebranchen – ist in Verbindung mit einer schwachen Investitionsentwicklung von einer Produktivitätsstagnation betroffen.

Eine vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) beauftragte Studie aus dem Jahr 2016 ging der Frage nach, warum es den erfolgreichen Maschinenbauern nicht gelungen war, hohe Digitalisierungsaufwendungen in Produktivitätsgewinne umzumünzen. Die „rasche Verbreitung einer umfassenden, intensiven Digitalisierung in der Produktion des Maschinenbaus trägt aktuell nicht zu Produktivitätsgewinnen bei“, analysierten die Forscher, für Investitionen in Software zeige sich im Gegenteil „sogar ein negativer Produktivitätseffekt“.[8]

Zwar haben die Maschinenbauunternehmen ihre IT-Investitionen seit Jahrzehnten stetig ausgeweitet, gleichzeitig sinkt jedoch der Anteil der Investitionen in Sachanlagen, also Ausrüstungen und Bauten, kontinuierlich. Damit folgt die Branche dem in Deutschland in allen Wirtschaftsbereichen vorherrschenden Trend: Der Anteil der Investitionen für die Verbesserung von Produkten und Prozessen wird zugunsten von Investitionen in geistiges Eigentum, vor allem Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen, sowie IT-Investitionen, reduziert. In der Industrie geht inzwischen mehr als jeder zweite investierte Euro in geistiges Eigentum.[9]

Es ist sicherlich kein Nachteil, wenn die Unternehmen zunehmend auf Forschung und Entwicklung setzen und auch auf technologische Fortschritte in IT und Elektronik. Ein Problem besteht jedoch, wenn dies immer weniger als Ergänzung zur Weiterentwicklung der Prozesse in Richtung höherer Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit geschieht, sondern Investitionen in geistiges Eigentum diese ersetzen. Daher ist die als „Paradoxon“ empfundene Diskrepanz zwischen einer Produktivitätsschwäche einerseits und voranschreitender Digitalisierung andererseits ein „Alarmzeichen“, wie der frühere VDMA-Präsident Thomas Lindner schon vor Jahren erkannte.[10] Denn wenn noch so viele neue Ideen nicht in innovativeren Produkten und produktiveren Prozessen münden, bleibt die Wettbewerbsfähigkeit auf der Strecke.


[1] https://www.dfki.de/fileadmin/user_upload/DFKI/Medien/News_Media/Presse/Presse-Highlights/vdinach2011a13-ind4.0-Internet-Dinge.pdf

[2] R. M. Solow: „We’d Better Watch Out,” New York Times, Juli 1987, S. 36.

[3] Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.5, 2020, Tabelle 2.14 Arbeitsproduktivität je geleisteter Erwerbstätigenstunde.

[4] Die im September 2021 aktualisierten Zahlen des Statistischen Bundesamtes weisen einen Anstieg des Indexes der Arbeitsproduktivität je geleisteter Erwerbstätigenstunde von 98,53 (2011) auf 102,25 (2020) für das Verarbeitende Gewerbe aus. Demnach ist die Arbeitsproduktivität in der Industrie innerhalb des Zehnjahreszeitraums um durchschnittlich etwa 0,3 Prozent pro Jahr gestiegen.

[5] Steffen Kinkel et al: „Wertschöpfungspotenziale 4.0“, 2021, S. 7.

[6] Ebd. S. 8.

[7] Ebd. S. 21.

[8] IMPULS-Stiftung für den Maschinenbau, den Anlagenbau und die Informationstechnik: „Produktivitätsparadoxon im Maschinenbau“, Oktober 2018, S. 67 u. 15.

[9] Deutsche Bank Research: „Deutsche Industrie – Wenige Sektoren tragen Investitionswachstum“ in: Deutschland-Monitor, 21.01.2019, S. 1.

[10] „Die Schattenseiten der Digitalisierung“ in: F.A.Z., 15.10.2018, S. 17.

1 Antwort
  1. Herbert Hanselmann
    Herbert Hanselmann sagte:

    Industrie 4.0 war mir von Anfang an suspekt. Es war und ist eher eine Industrie 3,2. Eine ganz normale Weiterentwicklung ohne Revolutionäres. Denn es gab ja längst umfassende Automation. Ob dann Maschinensteuerungen wireless kommunizieren statt über Kabel, ob Daten lokal gehalten werden oder sonstwo, das ändert wenig am physischen Produktionsprozess. Und Phantasien der Selbstorganisation von Maschinen waren doch etwas hoch gegriffen. Industrie 4.0 war halt für viele ein super Buzzword um Forschungsgelder abzugreifen. Mit Anträgen voller phantasievoller aber ziemlich inhaltsleerer Prosa und mit Unterjubeln und Umdeklaration von Themen die eh schon in Bearbeitung waren.

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