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Über die letzten Jahrzehnte hat sich in westlichen Gesellschaften eine Mentalität breit gemacht, die aus den Elementen Jammer und Selbstgefälligkeit einen Kult gebaut hat, wo sich jeder nur noch als Opfer sieht. So werden wir die offene Gesellschaft nicht verteidigen.
Gespaltene und gelähmte Gesellschaften
Veteraninnen der Frauenbewegung wie Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft und Louise Otto-Peters haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie keineswegs beabsichtigen, die Emanzipation aus der huldvollen Hand der Männer zu empfangen. Aufgrund ihrer Hautfarbe oder sexuellen Orientierung verfolgte Menschen vergangener Zeiten haben gegen die vorherrschende Meinung und gegen staatliche Zwangsapparate gestritten. Sie würden sich beim Blick auf die heutige Welt vermutlich verwundert am Kopf kratzen, wenn sie sehen würde, wie Meinungsführer und Staatsvertreter sich als Teile von Opfergruppen inszenieren. Der unternehmerische Geist der selbstbewussten Rebellion hat in unseren Gesellschaften deutlich abgenommen. Bisweilen kann man den Eindruck gewinnen, dass Menschen, die Opfer sind oder sich als Opfer empfinden, gar nicht mehr herauskommen wollen aus dieser Rolle. Vielmehr sehen sie diese Rolle als Instrument, um mehr Aufmerksamkeit, Ansprüche und im Zweifel auch Ressourcen einzufordern.
Die Dominanz der Gerechtigkeits-Narrative in der politischen Welt der Moderne hat hier ganze Arbeit geleistet: Ob Marx, der (nicht ganz ohne Grund) Gerechtigkeit gegenüber den ausgebeuteten Arbeitern forderte. Ob die Verhandlungsführer von Versailles, die Gerechtigkeit für die Schlächtereien des Ersten Weltkriegs einforderten. Oder diejenigen, die anschließend die ungerechte Behandlung bei diesen Verhandlungen wieder auszugleichen versprachen. Das Heilsversprechen der Gerechtigkeit, das zu einem Lieblingsinstrument politischer Bewegungen unterschiedlichster Couleur geworden ist, baut darauf, dass Menschen sich selbst als Opfer sehen. Die da oben, finstere Mächte, böswillige Unholde – sie alle wollen uns übervorteilen. Mit diesen Narrativen ist der Grund gelegt für Gesellschaften, in der sich immer wieder Opfer und Täter gegenüberstehen. Gespaltene und gelähmte Gesellschaften.
Das traurigere Narrativ schlägt das besserer Argument
Die bereitwillige Selbstveropferung ist übrigens kein Vorrecht einer politischen Richtung. Nicht nur Linke beherrschen den reflexhaften Aufschrei. Nicht nur Menschen, die gegen Rassismus, Transfeindlichkeit oder globale Ungerechtigkeiten kämpfen, sehen sich oder die Menschen, für die sie sich einsetzen, unter Dauerbeschuss. Die jammervolle Selbstgefälligkeit feiert auch in rechten Kreisen fröhliche Urständ. Die reflexhaften Aufregungswellen werden von links und von rechts ausgelöst, ja, in den meisten Fällen spielt man sich dabei sogar zu. Mit mathematischer Präzision kann man voraussagen, was passieren wird, wenn eine genderkritische Forscherin einen Vortrag halten will oder wenn eine provokationslustige Journalistin Antidiskriminierungsbeauftragte werden soll. Selbst die Protagonisten der folgenden Debatten lassen sich mit bemerkenswerter Präzision voraussagen. Wer würde sich schon Gelegenheiten entgehen lassen, sich und die Seinen als Opfer darstellen zu können?
Es ist zum Mäuse melken. Und zwar gleich auf mehreren Ebenen. Die Ritualisierung dieses ganzen Vorgangs ist in einer Weise selbstreferentiell, die nur noch abstoßend ist. Man verunmöglicht Debatten und Diskurse, indem sofort die hochmoralische Opfer-Täter-Dimension eingeführt wird – nicht mehr das bessere Argument hat eine Chance, sondern nur noch das traurigere Narrativ. Das ist alles so entsetzlich vorhersehbar, statisch und langweilig. Das Schlimmste an diesem Trend ist aber wahrscheinlich die Schwächung der offenen Gesellschaft, die dadurch bewirkt wird. Durch die narzisstische Selbstviktimisierung erstickt man Unternehmergeist, Selbstbewusstsein, Kritikfähigkeit (und Kritisierfähigkeit), Neugier, Toleranz … kurz: die Elemente, die eine offene und moderne Gesellschaft ausmachen. Es ist keine Überraschung, dass der Westen schwach erscheint in den Augen russischer und chinesischer Autokraten und islamistischer Dschihadisten.
Selbstbewusstsein statt Selbstbeschäftigung
Wir müssen dringend heraus aus der Selbstbeschäftigung. Wir müssen die Probleme, die oft wochenlang die Talkshows, Feuilletons und Debattenmagazine des Landes in Atem halten, in den richtigen Kontext setzen und in der richtigen Dimension einordnen. Die Probleme, die uns oft viel mehr emotionalisieren als Angriffskriege, Klimawandel und eine Rentenpolitik, die funktioniert wie das übelste Schneeballsystem. Ja, die Forderung nach mehr Rücksichten auf verschiedenste Geschlechtsidentitäten hat ihre Berechtigung. Ebenso ist es legitim, darüber zu sprechen, ob eine verstärkte Zuwanderung bedrohlich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sein könnte. Aber so lange die Inflation galoppiert, die Panzer rollen und die Gletscher schmelzen, sollte man möglicherweise sehr viel mehr Energie für diese Herausforderungen aufwenden. Manchmal scheint es fast so, als ob sich politisch interessierte und engagierte Menschen in diesen identitätspolitischen Nebenschauplätzen verkämpfen, um die viel kolossaleren Probleme zu verdrängen.
Der Westen, die Zivilisation der Freiheit, ist über die letzten zweieinhalb Jahrtausende entwickelt und getragen worden durch Menschen mit Überzeugungen, die nicht lamentiert haben, sondern nach vorne geblickt haben. Und am stärksten war der Westen bedroht in den Zeiten, in denen er sich klein gemacht hat, in sich selbst eingerollt; in den Zeiten, wo er sich in autoaggressiven Selbstzweifeln zermartert hat. Wir müssen neu lernen zu priorisieren, welche Probleme wirklich relevant sind. Und wir müssen dringend neu lernen, mit frohem Selbstbewusstsein und bisweilen auch heiligem Zorn unsere wunderbare Welt zu verteidigen.
Dann können wir standhalten gegen die Feinde der Freiheit. Und dann sind wir wieder ein Leuchtturm für Menschen in der ganzen Welt: Für die Männer und Frauen an der Front in der Ukraine. Für den indonesischen Provinzpolitiker, der gegen Korruption vorgeht. Für die nigerianische Kleinunternehmerin, die sich nicht vom chinesischen Staatsunternehmen an die Wand spielen lassen will. Für die Vorkämpfer des Säkularismus im Iran, der Homosexuellenrechte in Uganda und der Marktwirtschaft in Venezuela. Nicht durch unser Jammern und unsere Selbstgefälligkeit verändern wir die Welt, sondern durch ein glühendes Herz für die Freiheit.