Photo: Chris Waits from flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Statt auf die Alterung der Gesellschaft zu verweisen, sollten Politiker ihre Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen, um die Kosten und Nutzen des Gesundheitssystems besser auszutarieren.

Die Ausgaben für Gesundheit sind in Deutschland pro Kopf inflationsbereinigt von 2000 bis 2017 um 40 Prozent gestiegen. Es wird erwartet, dass sie auch in der Zukunft weiter steigen werden. Die beobachteten Kostensteigerungen werden regelmäßig auf den Anstieg der Lebenserwartung und das Altern der Bevölkerung zurückgeführt. Doch die Gesundheitsausgaben werden nicht nur von der Altersstruktur der Gesellschaft bestimmt. Unter anderem werden sie beeinflusst vom medizinischen Fortschritt und von politischen Entscheidungen, bei denen stets zwischen der Verfolgung verschiedener Ziele abgewägt werden muss. Auf Trade-offs wies auch Gesundheitsminister Jens Spahn während des Weltwirtschaftsforums in Davos hin: „Andere fliegen zum Mond, wir wollen den Krebs besiegen.“

Babyboomer vs. längere Leben: Altersstruktur und Gesundheitskosen

Es gibt – abgesehen von Migration – in gewöhnlichen Zeiten zwei maßgebliche Ursachen für die Veränderung der Altersstruktur einer Gesellschaft.

Erstens, Schwankungen in der Geburtenrate können dazu führen, dass sich die Bevölkerungsstruktur verändert. Dies kann etwa in Deutschland in den Jahren von 1955 bis 1969 beobachtet werden. In dieser Zeit wurden relativ zu den darauffolgenden Jahrzehnten viele Babys geboren. Die relativ große „Babyboomergeneration“ senkte zunächst das durchschnittliche Alter der Bevölkerung und trägt jetzt zu seinem Anstieg bei. Dadurch werden die Gesundheitsausgaben in den nächsten Jahren sicher steigen. Es ist unbestritten, dass die Gesundheitsausgaben in den letzten Jahren vor dem Tod von Menschen am höchsten sind. Je höher der Anteil der Generation im letzten Zehntel ihres Lebens an der Gesamtbevölkerung ist, desto höher fallen somit die durchschnittlichen Gesundheitskosten aus.

Zweitens, die Altersstruktur verändert sich, wenn die Lebenserwartung steigt. Lag die Lebenserwartung bei Geburt in den 1950er Jahren In Deutschland noch bei 67,5 Jahren, sind es heute 81 Jahre. Die Vereinten Nationen erwarten auch in der Zukunft weiter steigende Lebenserwartungen. Ob der Anstieg der Lebenserwartung ebenfalls die Gesundheitsausgaben steigen lässt, ist jedoch umstritten.

Gesundheitskosten und Lebenserwartung: Zwei konkurrierende Thesen

In der Literatur lassen sich zwei konkurrierende Thesen bezüglich der Auswirkungen einer höheren Lebenserwartung auf die Kosten für Pflege und Gesundheit finden.

Gemäß der ersten These treten unabhängig von der Lebenserwartung gesundheitliche Einschränkungen ab einem gewissen Alter ein. Steigt die Lebenserwartung, erhöht sich die Anzahl der Jahre, die in altersbedingter Krankheit verbracht werden. Trifft diese These zu, führen steigende Lebenserwartungen zu erhöhten Ausgaben für das Gesundheitssystem.

Der zweiten These zufolge tritt die Phase der Krankheit erst kurz vor dem Tod auf. Steigt die Lebenserwartung, verschiebt sich auch der Beginn altersbedingter Beeinträchtigungen. Die Ausgaben verschieben sich daher nur nach hinten, steigen aber pro Person nicht.

Eine Kompromissthese kombiniert beide möglichen Effekte einer erhöhten Lebenserwartung. Die meisten Menschen leben durch eine höhere Lebenserwartung zusätzliche Jahre in Gesundheit. Ein anderer Teil der Menschen verbringt die gewonnenen Lebensjahre jedoch vollständig in Krankheit bzw. in Pflegebedürftigkeit. Die Gesundheitskosten erhöhen sich gemäß der Kompromissthese durch eine steigende Lebenserwartung moderat.

Lebenserwartung und Gesundheitskosten: Empirie uneins

Welche der Thesen zutrifft, ist eine in der Literatur nicht abschließend beantwortete empirische Frage. So finden Forscher in einer Untersuchung von Daten der Gmünder Ersatzkasse aus dem Jahr 2011, dass mit einer längeren Lebenserwartung sowohl relativ als auch absolut mehr Lebenszeit in Pflegebedürftigkeit verbracht wird. Dies spricht gegen die These eines reinen Verschiebens der Pflegebedürftigkeit auf einen späteren Zeitpunkt.

Andere Untersuchungen unterstreichen dagegen, dass ein erheblicher Teil der Gesundheitskosten sich nach hinten verschiebt und dieses „gesunde Altern“ die Kosten weniger stark anschwellen lässt, als der Anstieg der Anzahl älterer Menschen zunächst vermuten lassen würde.

Gesundheitsausgaben: Eine Abwägungsfrage

Während das Ausmaß des Einflusses der Lebenserwartung auf die Gesundheitskosten umstritten ist, zeigen die Ergebnisse internationaler Untersuchungen, dass es eine Abwägungsfrage ist, wie viele Ressourcen im Gesundheitssektor eingesetzt werden. So gelten vor allem das Niveau des Bruttoinlandsprodukts, der technologische Fortschritt und der Grad der Dezentralisierung des Gesundheitssystems als zuverlässige Prädiktoren für die absolute Höhe der Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben.

Eine aktuelle Untersuchung aus dem Jahr 2018 verdeutlicht dies auch für Deutschland. So können gut ein Viertel der realen Kostensteigerungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung von 2004 bis 2015 auf die Veränderung der Altersstruktur zurückgeführt werden – dabei ist es nicht möglich die Effekte einer größeren älteren Generation und einer gestiegenen Lebenserwartung auseinanderzuhalten. Andere Faktoren, also nicht-demographische Einflüsse, machten rund drei Viertel der realen Kostensteigerungen aus. Hinter diesen nicht weiter aufgeschlüsselten Faktoren verbergen sich unter anderem der medizinische Fortschritt und die Auswirkungen politischer Entscheidungen, wie die Ausweitung von Gesundheitsleistungen.

Auch ein Blick auf andere OECD-Länder zeigt, dass die Höhe der Gesundheitsausgaben eine Abwägungsfrage ist. Im internationalen Vergleich geben nur Frankreich, die Schweiz und die Vereinigten Staaten einen höheren Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus. Diese Länder weisen allerdings einen niedrigeren Anteil über 65-Jähriger als Deutschland auf. Japan dagegen hat einen deutlich höheren Anteil älterer Menschen als alle anderen TOP-10 Länder und ist erst an sechster Stelle zu finden.

Dies deutet ebenfalls darauf hin, dass neben der Altersstruktur weitere Faktoren die Gesundheitsausgaben maßgeblich beeinflussen. Der Politik sind also bezüglich der Beeinflussung der Gesundheitskosten keinesfalls die Hände gebunden.

Für Politiker ist der Verweis auf eine alternde Bevölkerung dennoch eine willkommene Erklärung für Kostensteigerungen im Gesundheitssystem. Präsentieren Politiker die Kostenentwicklung als durch die Alterung bestimmt und somit unbeeinflussbar, bleiben ihnen eher unerfreuliche Diskussionen mit ihren Wählern über im Konflikt stehende alternative Ziele erspart. Denn Ressourcen, die im Gesundheitsbereich eingesetzt werden, können nicht mehr alternativ verwandt werden, etwa für Bildung, Forschung oder Infrastruktur.

Gesundheitssystem: Es geht besser

Statt auf die Alterung der Gesellschaft zu verweisen, sollten Politiker ihre Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen, um die Kosten und Nutzen des Gesundheitssystems besser auszutarieren.

Entscheidungen sollten möglichst dezentral von den Betroffenen selbst gefällt werden. Patienten können zusammen mit den jeweiligen Experten vor Ort, ihren behandelnden Ärzten, Apothekern und Therapeuten am besten einschätzen, welche Therapiemaßnahmen geeignet sind, um ihre Gesundheit zu verbessern.

Mehr Wettbewerb der KrankenversicherungenKrankenhäuserApotheken und Ärzte um die Gunst der Patienten könnte außerdem dazu beitragen, dass die Qualität von Gesundheitsdienstleistungen steigt und Kosten reduziert werden.

Erstmals erschienen bei IREF.

2 Kommentare
  1. MS Frei
    MS Frei sagte:

    Das Gesundheitssystem ist enorm überfrachtet mit nicht zwingen notwendigen Leistungen. Heil- und Hilfsmittel, Kuren, etc.
    Mehr als die Hälfte der Umsätze von Taxi-Unternehmen gehen auf Fahrten für Krankenkassen. Und das in Zeiten, in denen jeder mindestens einen Wagen direkt oder in der Familie hat. Ich habe Fälle erlebt, in denen der Ehemann mit dem Wagen hinter dem Taxi herfuhr.
    Die Mentaliät „steht mir zu“ führt zu barocken Auwüchsen. Zuletzt forderte Spahn populistsch Fettabsaugen als Kassenleistung. Hilfreich wären grundsätzliche Selbstbeteiligungen, wie überall außer Deutschland üblich und sinnvoll.
    Ich habe Menschen erlebt, die wegen einer kleinen Hautveränderung so „3,4“ Dermatologen aufsuchten und dieses Verhalten völlig normal finden. 3, 4 mal bei der Arbeit fehlen, klar, das außerdem.
    Die Notfallambulanzen gelten als bequeme Anlaufstelle, Ärzte und Schwestern als Dienstleister, denen man ruhig unverschämt gegenübertreten kann.
    Dazu, auch das sollte nicht unterschätzt werden, reisen sehr gern kranke Menschen gezielt nach Deutschland, um sich hier kostenlos versorgen zu lassen. Als angeblich Arbeitssuchende. Zahnsanierungen, Operationen für die sie in ihren osteuropäischen Heimatländern immer einen Teil selbst zahlen müßten. Extrem teure Krebsbehandlungen! Hier bekommt jeder, der deutschen Boden betritt, mal so eine AOK-Karte. Und Versorgung auf allerhöchstem Niveau.
    Die Industrie ist pfiffig und lobbyistisch genug, extrem teure Therapien mit nur geringem oder gar fehlendem Vorteil schnell durchzusetzen, via Apothekenumschau die Menschen zu Dränglern zu erziehen. Big Pharma probiert in D, wie weit sie mit ihren Preisen gehen können. Da ist GB wesentlich besser. Da wird bezahlt, was nachweislich (!) an zusätzlicher Lebenszeit gewonnen wird.

    Wollen wir das alles? Können wir das ? Oder ist das jetzt Rechts oder irgendwie schlechtmenschig?

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  2. chriwi
    chriwi sagte:

    Ein wesentlicher Grund für die Kostensteigerung ist in den Fallpauschalen und der Vorgabe, pseudomarktwirtschaftlich zu agieren zu sehen. Warum?
    Beides in Kombination motiviert die Krankenhäuser möglichst teure Behandlungen anzubieten. Schließlich will man ja Gewinne machen. Dafür bedarf es häufig teurer Geräte, usw. Diese müssen dann auch ausgenutzt werden. Kliniken bekommen Zielvorgaben, wieviele Patienten sie zu behandeln haben. Wird das Ziel nicht erreicht, werden Kliniken geschlossen. D.h. die Chefärzte sind motiviert, alles zu behandeln, denn die eigene Klinik bleibt groß und meist bekommt man selbst einen Bonus.
    Dieser kleine Einblick aus der Realität zeigt schon, dass das Gesundheitssystem durch ökonomische Dogmen verteuert wurde. Die Qualität sinkt dabei auch noch. Da alle Leistungen die zu schlecht vergütet werden, nicht gemacht werden (Pflege, Gespräche, etc.).

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