Photo: Christian Wolf from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Die Europäische Union sieht sich seit Jahrzehnten im Dauerkrisenmodus und zugleich an der entscheidenden (jetzt aber wirklich!) Weggabelung. Was gegen Untergangs- und Allmachtsphantasien am besten hilft: ein paar Gänge runterschalten und zugleich in die Breite gehen.

Woher kommt die Erweiterungsskepsis?

Die Ukraine, Moldawien, womöglich sogar Georgien in die EU. Zu den prominentesten Fürsprechern dieser Idee gehören unsere Nachbarn im Osten. Und am wenigsten begeistert sind Länder wie Frankreich und (natürlich) auch Deutschland. Emmanuel Macron hat sogar das Model einer „europäischen politischen Gemeinschaft“ vorgeschlagen, was nachvollziehbarerweise von vielen wie eine Art Katzentisch gesehen wurde, an den problembehaftete Nachbarn gesetzt werden, zu denen man aber trotzdem nett sein möchte. Sind diese unterschiedlichen Sichtweisen auf Grad und Schnelligkeit neuer EU-Mitgliedschaften durch die geographische und womöglich kulturelle Nähe oder Distanz bestimmt? Oder gibt es noch andere Faktoren, die da mit hineinspielen?

Bei Polen ist eine gewisse Distanz zu Brüssel seit einigen Jahren Kernbestandteil der generellen Regierungsdoktrin. Doch auch die baltischen Staaten, Tschechien und Slowakei stehen einer zu starken Zentralisierung und Vertiefung der EU eher skeptisch gegenüber. Französischen Regierungen verschiedener Couleur kann es hingegen oft nicht schnell genug gehen bei der Errichtung neuer Instrumente wie etwa gemeinschaftlicher Verschuldung und einer europäischen Arbeitslosenversicherung oder bei der Implementation neuer Regulierungen wie Arbeits- und Sozialstandards. Kompetenzen und Mittel der EU unterliegen in dieser Logik einem notwendigen Wachstum.

Exklusivclub

Solche Dynamiken sind auf mancherlei Voraussetzungen angewiesen: Eine gewisse Homogenität der Vorstellungen und Kulturen etwa ist sehr hilfreich. Die Gründungsstaaten der EU arbeiten seit 65 Jahren eng zusammen – man kennt sich, die Probleme und Chancen; man hat Vertrauen aufgebaut und einen Grundkonsens gefunden, der auch in die öffentliche Meinung der Länder durchgesickert ist. Schon die Staaten der ersten Erweiterungsrunde, die sich vor 49 Jahren anschlossen, also Dänemark, Irland und ganz besonders natürlich Großbritannien störten dieses Miteinander immer wieder – bis heute. Mit jedem Schwung neuer Mitglieder wurde er signifikant schwerer, sich zu einigen. Oft ging das nur, weil die verhältnismäßig wohlhabenden älteren EG- und EU-Mitglieder die Portemonnaies zückten.

Was würde passieren, wenn in, sagen wir, 15 Jahren Albanien, Georgien, Moldawien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Ukraine und womöglich auch noch Bosnien-Herzegowina und Kosovo Mitglieder der EU wären? Es gäbe neun weitere Akteure, die politische Agenden verfolgen – Einigkeit wäre noch schwerer herzustellen. Die gesamte Umverteilungsbilanz würde sich verschieben und der Kuchen für alle würde kleiner, weil die Neumitglieder keine große Mitgift einbringen können. Eine EU-Erweiterung in absehbarer Zeit wäre womöglich nur um den Preis zu haben, die „immer engere Union“ aufzugeben, die der erste Satz der Präambel des EU-Vertrags beschwört. Auch wenn das nicht jeder gerne hört: die immer engere Union ist auch eine immer exklusivere. Europäisches Miteinander und Solidarität gibt es da nur noch für die Insider.

Mit dem Verzicht auf die Intensiv-EU könnte Polen wohl leben (auch wenn es natürlich wie kaum ein anderes Land von der EU-Umverteilung profitiert hat). Auch Tschechien oder Estland würde das weniger stören. Die  stärkere wirtschaftliche Integration ihrer östlichen Nachbarn könnte diesen Länder außerdem Wohlstandsgewinne ermöglichen. Und darüber hinaus hätten sie die Möglichkeit, sehr viel mehr politisches Gewicht auf die Waage zu bringen. Im Augenblick stellen die Gründungsstaaten der EWG 53,66 % der EU-Bevölkerung und die nach 2004 hinzugestoßenen 23,30 %. Würde man alle oben genannten offiziellen und inoffiziellen Kandidatenländer zulassen, würden die Ursprungs-EU-Staaten nur noch 46,94 % ausmachen, während die „Neuen“ mit 32,90 % fast ein Drittel der Bevölkerung stellen würden. Die Deutungsmacht der Gründungsländer und insbesondere Frankreichs über das Projekt Europa wäre deutlich eingeschränkt.

Europas Stärke: der kooperative Pluralismus

Fast seit Bestehen der Europäischen Gemeinschaft und später Union wird in Feuilletons und Sonntagsreden entweder deren bevorstehender Zerfall beschworen oder der nächste große Integrationsschritt gefordert. Immer großes Kino bei der EU. Dabei gerät aus dem Blick, was eigentlich an konkretem Gutem und Schlechtem geschieht, das weniger glamouröse Klein-Klein: bei der Öffnung von Märkten, der nächsten Regulierung, den gescheiterten Verhandlungen über Klimazertifikate und der Vereinfachung von Zuwanderung. Man fokussiert sich in den Debatten so sehr auf die ganz großen Fragen, dass die kleineren gar nicht mehr zur Debatte gestellt werden. (Und wundert sich anschließend, warum die Bürger sich nicht mitgenommen fühlen.)

Und hier kommt das im Titel bereits versprochene Versailles ins Spiel. Dieses Schloss sollte der Nukleus des absolutistischen Reiches werden: wo alle Kompetenz und Herrlichkeit versammelt und alle Entscheidungen getroffen werden. Ähnlich wird bisweilen Brüssel gesehen und dargestellt: als der Sehnsuchtsort, der alles richten kann – und wird. Als der Ort, von dem aus alle Bürgerinnen ihre Wohltaten empfangen, und an dem jedem vermittelt wird, wie sein Leben am besten gelingen kann. Sitz der Weisheit und Quelle der neuen, der besseren Welt.

Aber es gibt auch ein anderes Europa – und einen anderen Traum von Europa. Dessen Sinnbild ist eher das Lübecker Holstentor als der Prachtbau vor den Türen von Paris. Ein durchlässiges Tor, das weit geöffnet ist für ein Netz von verschiedensten Akteuren von Nowgorod bis London, von Krakau bis Bergen. Und dieses Netz der Hanse lebte davon, dass hier unterschiedlichste Lösungen ausprobiert wurden, dass man sich gegenseitig herausgefordert und angespornt hat. Da konnte man nicht nach Lübeck blicken, damit einem geholfen wird – das musste man schon selber in die Hand nehmen. Aber ebenso wenig wurde einem vorgegeben, was wie zu tun sei. Eine Europäische Union, die sich an diesem Vorbild orientiert, hätte kein Problem damit, neue Mitglieder rasch zu integrieren und willkommen zu heißen. Und sie würde die alte europäische Tradition des kooperativen Pluralismus institutionalisieren, um den Westen in seiner originären Stärke konkurrenzfähig zu machen in dem großen Wettbewerb der Systeme, der uns bevorsteht.

3 Kommentare
  1. Ernst Mohnike
    Ernst Mohnike sagte:

    Sehr richtig! Nowgorod, nicht zu vergessen, sowie viele weitere tatsächlich russische Städte. Andererseits, bei aller Idealisierung der Hanse: Es sollte nicht vergessen werden zu fragen, warum und woran die Hanse kaputtging (losgelöst von der Frage, warum Imperien zerfallen). Maßloses Wachstum, damit einhergehende Selbstsicherheit, wachsende Schwerfälligkeit und damit einhergehende Reformunfähigkeit, waren nicht begrenzt auf Imperien. Alle Organisationsformen neigen dazu. Vielleicht sollte man sich ab und an Trotzkis erinnern: Die „permanente Revolution“ hat was!

    Antworten

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert