Photo: Uwe Häntsch from Flickr (CC BY-SA 2.0)
Bezogen auf meinen letzten Newsletter-Beitrag „Der Liberalismus muss wieder Marathon laufen lernen“, der am 23. April auch in der „Welt“ veröffentlicht wurde, gab es zahlreiche Rückmeldungen, wie die Erneuerung des Liberalismus denn konkret aussehen könnte. Deshalb sollen an dieser Stelle drei Beispiele angeführt werden.
Die vielleicht wichtigste Eigenschaft, die der Liberalismus von seinen Freunden fordert, ist die Bereitschaft, loszulassen – daran muss sich auch liberale Tagespolitik orientieren. „Wir müssen ins Unbekannte, ins Unsichere und ins Ungewisse weiterschreiten“, formulierte Karl Popper.
Liberale Politik: der Verzicht darauf, gestalten zu wollen
Bei Friedrich August von Hayek liest sich die Forderung so: „Der Mensch ist nicht Herr seines Schicksals und wird es nie sein: Gerade seine Vernunft schreitet immer dadurch fort, dass sie ihn ins Unbekannte und Unvorhergesehene weiterführt, wo er Neues lernt.“ Und Ludwig Erhard bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Ich habe in meinem Leben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich die Freiheit und vor allem der Mut zur Freiheit immer gelohnt haben. Alles, was wir unter diesem Aspekt begonnen haben, hat sich hin zum Guten gewandelt, – überall dort aber, wo uns der Mut zur Freiheit fehlte, sind die Dinge im Unheil steckengeblieben.“ Liberalismus funktioniert nur dann, wenn Menschen den Mut aufbringen, Experimente zuzulassen und mit optimistischer Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Dieser Mut hat freilich auch viel mit Demut zu tun: indem vom Politiker gefordert wird, häufig auf das ihm so liebe Gestalten zu verzichten und sich stattdessen darauf zu beschränken, die Bedingungen zu ermöglichen, dass die einzelnen Bürger selber gestalten.
Das bedeutet, bisweilen die Kontrolle aufzugeben. Ein Gebiet, auf dem die Versuchung sehr groß ist, alles unter vollständiger Kontrolle haben zu wollen, ist die Bildung. Nicht zu Unrecht gilt sie als eine der wesentlichen Bedingungen für ein erfolgreiches und zufriedenes Leben. Deshalb möchten viele in Bildungsfragen lieber nichts dem Zufall überlassen – oder dem Wettbewerb. Bei dem krampfhaften Bemühen, allen gleiche Chancen einzuräumen, gerät oft aus dem Blick, dass das ein ohnehin zum Scheitern verurteiltes Unterfangen ist, solange Schülerinnen, Eltern und Lehrer, Schulgebäude, Heimatregionen und körperliche Konstitutionen nicht gleich gemacht werden können. Selbst bundesweit einheitliche Lehrpläne und Prüfungen werden nicht verhindern können, dass in Schulen immer und immer wieder Individuen aufeinanderprallen – mit ganz und gar unkalkulierbaren Ergebnissen.
Gegen bildungspolitische Zentralsteuerung
Ein freiheitliches Zukunftsprojekt könnte darin bestehen, die fundamentale Erkenntnis der Vordenker des Liberalismus auch in der Bildungspolitik konsequent durchzubuchstabieren: Menschen, die selber von einer Sache betroffen sind, wissen besser, was sie brauchen und was gut für sie ist, als Bürokratien und Politiker. Ein liberales Zukunftsprojekt wäre eine Bildungspolitik, die nicht in zentralplanerischer Manier eine „one size fits all“-Lösung propagiert, sondern Schulleiterinnen, Lehrern, Eltern, Pädagogen und Schülerinnen zutraut, dass sie die besten Wege finden können. Ja, der Kontrollverlust, die damit verbunden wäre, macht vielen zunächst Angst. Aber wir kennen das doch aus dem Bereich der Ökonomie: wenn die Menschen sich erst einmal an die Freiheit und individuelle Gerechtigkeit des Marktes gewöhnt haben, wachsen sie auch in einen Ethos der Selbstverantwortung hinein und zeitigen die erstaunlichsten Ergebnisse.
Der fixen Idee, die Kontrolle über etwas zu behalten oder zu erringen – das wirksamste Versprechen von Politikern – können sich Liberale noch auf einem anderen Gebiet entgegenstellen, wenn sie den Mut dazu aufbringen: bei Regulierungen und Vorschriften. Es handelt sich hier um ein vermintes Gebiet. Deregulierung, das Mantra der 80er und 90er Jahre, findet sich inzwischen in einer Schmähwort-Kategorie mit Neoliberalismus wieder. Die Finanzkrise wird ihr in die Schuhe geschoben, obwohl kaum ein Sektor in den Industrieländern durch Regulierung und Sonderbehandlung so eng an die Politik gebunden ist wie die Banken. Auch für Probleme der Infrastruktur, übergewichtige Kinder, mehr Zuwanderung und Umweltschäden steht der Schuldige für viele eindeutig fest. Die verschmähte Deregulierung braucht die Unterstützung der Liberalen, um im politischen Diskurs wieder eine Rolle zu spielen.
Deregulierung aus der Schmuddelecke befreien
Die Freunde der Freiheit müssen sich einer wettbewerbsfeindlichen und protektionistischen Maßnahme wie der Entsenderichtlinie entgegenstellen. Sie müssen sich für eine Befreiung der Bauherren von den bleiernen Fesseln der Vorschriften einsetzen. Sie müssen sich gegen die Versuche von Gewerkschaften und staatlichen Akteuren stemmen, Tariffreiheit durch Mauschelei und Kartellierung zu ersetzen. Mit anderen Worten: sie müssen die Fürsprecher derjenigen sein, die diese Welt nicht durch die kalte und eiserne Faust des Staates zu einem vorgeblich bessern Ort zwingen wollen, sondern die sie durch Innovation, Handel und Engagement für jeden voranbringen wollen. Das erfordert zwar viel Stehvermögen, weil ihnen aus Politik, Medien und Wissenschaft ein eiskalter Wind entgegenwehen wird. Aber sie sollten sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass wir die wichtigsten Fortschritte der Menschheit nicht Staatslenkern verdanken, sondern Erfinderinnen, Unternehmern und Menschen, die sich aus Idealismus für eine Sache engagieren. Diese Menschen brauchen Freiräume – die Liberalen sollten ihre Verbündeten sein.
Schließlich könnte noch eine dritte Aufgabe darin bestehen, die Strukturen und Institutionen, die unsere Demokratie und offene Gesellschaft tragen, wieder zu stärken. In Deutschland haben wir mit einem an Parteienmacht und Kanzlergewalt ausgerichteten Staatswesen inzwischen stark verkrustete Strukturen etabliert, die sich Reformvorhaben und dem Wettbewerb der Ideen mit Wucht entgegenstellen. Liberale müssten darauf hinwirken, dass der Bundestag und die Länderparlamente wieder mehr Kompetenzen zugesprochen bekommen – und für sich einfordern. Die Kanzlerin müsste eigentlich vor der Kontrolle durch das Parlament zittern, nicht umgekehrt. Der Trend, immer mehr Kompetenzen von den Ländern, Kreisen und Kommunen durch vorübergehende Geldgeschenke abzukaufen, muss umgekehrt werden. Föderalismus und Subsidiarität müssen wieder ganz neu gedacht werden – und die Kompetenz der Verantwortlichen vor Ort wieder ernstgenommen werden.
Weniger Politik – mehr Individuum
Gerade in einer zunehmend differenzierten – oder in der Kehrseite: gespaltenen – Gesellschaft wie der unseren müssen entsprechend auch viel mehr Optionen zur Verfügung stehen. Das bewährteste institutionelle Mittel, um diese Vielfalt und Wahlfreiheit zu erreichen, ist konsequente Subsidiarität. Auch das hat natürlich viel mit Loslassen zu tun: in der Bereitschaft, auf zentrale Steuerung zu verzichten, Verantwortung abzugeben und den Menschen wieder etwas zuzutrauen. Wenn der Grünen-Ko-Vorsitzende in der Bild-Zeitung sagt: „Ich möchte keine Konsumenten-Demokratie, sondern die Politik muss für bessere Zustände sorgen“, müssen ihm Liberale ein deutliches Nein entgegenschleudern. „Weniger Politik – mehr Individuum“, so muss der Ruf der Freunde der Freiheit erklingen.
In seinem Artikel „Die Intellektuellen und der Sozialismus“ schreibt Hayek: „Was uns heute mangelt, ist eine liberale Utopie, … ein liberaler Radikalismus, der weder die Empfindlichkeiten der bestehenden Interessengruppen schont, noch glaubt, so ‚praktisch‘ sein zu müssen, dass er sich auf Dinge beschränkt, die heute politisch möglich erscheinen.“ Schulfreiheit, Deregulierung, die Entmachtung der Politik – das alles erscheint heute nicht politisch möglich. Aber dies sind vielleicht Ideen, die Menschen wieder begeistern könnten, die ihre Phantasie anregen und ihren Mut wecken könnten; die nicht nur eine Klientel sättigen, sondern in vielen Menschen Durst nach mehr Freiheit wecken können. Auch bei anderen drängenden Fragen der Zeit, in Fragen der Umwelt, der Digitalisierung, der Migration, der Gleichberechtigung, des Freihandels, müssen Liberale den Mut zu großen Ideen haben. Die großen Ideen sind nicht nur das Tor „ins Unbekannte, ins Unsichere und ins Ungewisse“, sondern auch die Voraussetzung dafür, dass die Menschheit sich weiterentwickelt. Wenn Sie daran noch zweifeln, fragen Sie die Unternehmerin, den Forscher oder die Aktivisten Ihres Vertrauens.
Weitgehend sehr lesenswert und unterstützenswert! Aber „Entmachtung der Politik“ ist eine viel zu drastische und unangebrachte Sprache, die vermieden werden sollte! Verkleinerung und Begrenzung des Staates (small and limited government) wäre vorzuziehen
Ich spiele hier mal den advocatus diaboli. Mein Eindruck ist: Der Geist der Zeit ist ein Geist der Überforderung. Klimawandel, internationaler Terrorismus, Banken- und Finanzkrise, um nur einige zu nennen: Die Generation der unter 40-jährigen erlebt die Welt in einer permanenten Krisenhaftigkeit. Angesichts globaler Entwicklungen und scheinbar unüberwindbarer Herausforderungen entsteht der Eindruck des Kontrollverluste. Ob dies tatsächlich zutrifft oder ein Effekt medialer Vermittlung ist, sei einmal dahingestellt – aber die subjektive Wahrnehmung scheint oft so zu sein. Die Wahl Donald Trumps, der Brexit, Fridays for Future und Greta Thunbergs Appell, in Panik auszubrechen sind nur die gegenwärtigsten Reaktionen auf diese Wahrnehmung von Krisenhaftigkeit und der verzweifelte Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen.
Und diese Wahrnehmung des Kontrollverlustes bezieht sich nicht nur auf das Politische; Sie findet auch im privaten statt. Immer neue Studien über vermeintliche oder tatsächliche Risiken bestimmter Lebensmittel, ein Überangebot an Möglichkeiten, sei es im beruflichen, freizeitlichen oder romantisch-sexuellen Raum und das steigende Bewusstsein für die ökologischen Nebeneffekte der eigenen Lebensweise, bis hin zum Trend, selbst etwas scheinbar so selbstverständliches wie sein Geschlecht zu hinterfragen – um nur einige Beispiele zu nennen – führen auch hier zu einem Gefühl der Überforderung. Es gibt so vieles zu bedenken, dass jede Entscheidung am Ende falsch erscheint. Ein Rekordstand an psychischen Erkrankungen erscheint dann nicht mehr überraschend, auch wenn der zum Teil sicherlich auf ein erhöhtes Bewusstsein für solche Probleme zurückzuführen sein mag.
Da ist es nachvollziehbar, dass Menschen sich nach einer Richtung sehnen, dass sie sich weigern, ganz erwachsen zu werden – also Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Und so überrascht mich auch nicht der immer lauter werdende Ruf nach Vater Staat, nach Regulierung, nach einer wohlwollenden Einschränkung von Freiheit. Freiheit ist anstrengend, und sie kann zu anstrengend werden. Manchen schneller als anderen. Auch in diesem Zusammenhang werden autoritäre Bewegungen nachvollziehbarer, sei es die völkische um die AfD, oder die grün-sozialistische um Kevin Kühnert, Robert Habeck oder die „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“-Kampagne.
Meine Befürchtung ist: Der Freiheit stehen schwere Zeiten bevor. Die Angst vor dem Kontrollverlust – an sich ja aus liberaler Perspektive nachvollziehbar – kann leicht zu illiberalen Maßnahmen führen.