Photo: Matt Jiggins from Flickr (CC BY 2.0)

Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission gegenüber einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist nichts Ungewöhnliches. Es passiert mehrmals im Jahr. Ungewöhnlich wird es dann, wenn die EU-Kommission zwar formal gegen die Bundesregierung, aber  faktisch gegen ein Urteil des Bundesverfassungsgericht vorgeht. Plötzlich wird das ganz große Fass aufgemacht und es fördert einen tiefgreifenden Konflikt zutage, der unterschwellig schon länger wabert. Es ist die Machtfrage: Wie weit reicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und wie weit diejenige des Bundesverfassungsgerichts?

Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 zum EZB-Anleihenkaufprogramm PSPP geurteilt, dass das Schuldenaufkaufprogramm der EZB ein rechtsausufernder Akt der EZB sei, weil die Zentralbank die Verhältnismäßigkeit nicht dargelegt habe und Bundesregierung und Bundestag verpflichtet seien, „auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken“. Es war in erster Linie eine Ohrfeige gegenüber Regierung und Parlament in Deutschland. Entsprechend dünnhäutig haben Bundesregierung und Bundestag anschließend diese Verhältnismäßigkeitsprüfung mehr formal nachgeholt. Dem Bundesverfassungsgericht reichte dies. Das Urteil war zugleich auch eine Ansage an den Europäischen Gerichtshof, dem das Verfassungsgericht vorwarf, seine Grenzen zu überschreiten.

Zwei Aspekte der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens sind pikant. Erstens der Zeitpunkt. Die EU-Kommission hat das Verfahren erst eingeleitet, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen den EU-Corona-Fonds „Next Generation EU“ abgewiesen hatte, die  verhindern wollte, dass der Bundespräsident das entsprechende Gesetz unterzeichnet. Wahrscheinlich hatte die Kommission Sorge, dass auch hier das Verfassungsgericht hineingrätscht. Jetzt versucht die Kommission Bundesregierung und Parlament auf der einen Seite und Verfassungsgericht auf der anderen Seite auseinander zu bringen. Daher wird interessant sein, wie die Regierung reagiert. Die Kommission verhält sich so, als seien alle drei Institutionen eine Einheit, dabei waren Regierung und Parlament mehrheitlich nicht glücklich über das PSPP-Urteil des Verfassungsgerichts, denn das oberste Gericht hatte ihnen implizit vorgeworfen, nicht sorgfältig gearbeitet zu haben. Der Rüffel saß. Ganz am Schluss des damaligen Urteils machte das Verfassungsgericht klar, dass sich Regierung und Parlament an rechtsausufernden Akten nicht beteiligen darf.

Der zweite Aspekt, der von Interesse ist, hat mit der Kommission zu tun. Was will sie mit diesem Vorgehen erreichen? Pikant ist ja schon, dass Kommission-Präsidentin von der Leyen gegen ihr Heimatland ein Verfahren anstrengt, dessen Verfassungslage ihr als ehemaliger Parlamentarierin und Ministerin eigentlich ganz gut bekannt sein sollte. Dahinter steckt wohl eine Disziplinierungsmaßnahme nicht nur gegen Deutschland. Die Kommission will sich nicht nachsagen lassen, dass sie gegen Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder Polen vorgehe, aber nicht gegen das größte Mitgliedsland. Doch wo soll das enden? In einem Verfassungskonflikt zwischen einem Staatenverbund, wie es die EU ist, und einem Bundesstaat? Das kann nicht sinnvoll sein. Daher sollte die Kommission schnell abrüsten und gleichzeitig die anstehenden Verhandlungen über eine Reform der EU nutzen, um eine Reform des Europäischen Gerichtshofes in Gang zu setzen. Dessen Richter müssen von den obersten Gerichten der Mitgliedsstaaten einmalig auf Zeit entsandt werden. Die Möglichkeit der Wiederwahl von EuGH-Richtern setzt falsche Anreize und fördert den Zentralismus in der EU. Gleichzeitig braucht es eine Parlamentskammer der EU, die über die Einhaltung der Subsidiarität von Gesetzgebungsmaßnahmen der EU entscheidet. Auch deren Mitglieder müsste von den Mitgliedsstaaten auf Zeit entsandt werden. Es könnte ein Ausschuss von Parlamentariern aus den nationalen Parlamenten sein. Die EU braucht eine bessere Abgrenzung und Kompetenzverteilung ihrer Institutionen. Letztlich geht es um Machtverteilung und Machtbegrenzung. Beides ist in einem Rechtsstaat essentiell. Nur so kann eine Demokratie ihre Strahlkraft entfalten.

2 Kommentare
  1. Ernst Mohnike
    Ernst Mohnike sagte:

    Endlich ein Beitrag, der in die richtige Richtung zeigt. Verwiesen sei noch auf Perry Anderson „Operation Europa“, in Lettre International, Nr. 132, in dem die mehr als zweifelhafte Organisation und Funktion des EuGH hingewiesen. Es heißt: „[EuGH] … stellt die einzige Institution der Union dar, deren Handlungen nicht regelmäßig (…) daraufhin kontrolliert werden, ob sie den EU-Verträgen auch entsprechen. …“ Und die Entstehungsgeschichte kann man nur als präfaschistoid bezeichnen.

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  2. Bernhard K. Kopp
    Bernhard K. Kopp sagte:

    Die EU-Kommission, Frau von der Leyen, macht sicher nichts gegen den Strich von Frau Merkel und der Koalition. Alle wollen Deutschland zu einer Provinz in EU-27 reduzieren. Man kann nicht wissen was die Leute individuell denken, aber möglicherweise glauben sie sogar, dass die EU-Institutionen demokratisch legitimierte Institutionen seien, und, dass ein EU-Bundesstaat, den sie anstreben, eine repräsentative, parlamentarische Demokratie und ein dementsprechender Rechtsstaat sein könnten. Möglicherweise wollen sie wirklich nicht wahrhaben, dass die EU in ihrem heutigen set-up nur eine post-demokratische, föderale Exekutiv-Diktatur sein kann. Aus der Exekutiv-Perspektive ist dies wünschenswert, weil die Exekutiven damit niemandem mehr für irgend etwas verantwortlich sind, von niemandem gewählt oder abgewählt werden können. Die Völker und manche regionale Elite, werden sich dies nicht so gefallen lassen. Exists sind wahrscheinlich, und das ganze EU-Konstrukt wird früher oder später an seinen Widersprüchen und unlösbaren internen Konflikten zerbröseln und scheitern. Auch die Verschuldungskapazität der EU-27, mit der EZB ist nicht völlig unbeschränkt, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der EU insgesamt stagniert und schrumpft. Jeder, der ein disponibles Kapital von mehr als € 1 Mio. hat tut gut daran außerhalb des Euro-Raums zu diversifizieren. Sehr viele haben es schon längst getan.

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