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Was haben Mikronesien, die Seychellen, Antigua und Deutschland gemeinsam? Das Sommerwetter sicherlich nicht. Auch wenn wir gerade ein heißes Spätsommerwochenende erleben, ist der Sommer 2016 doch eher ins Wasser gefallen. Was diese Länder mit Deutschland eint, ist, dass sie ebenfalls einen Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben des Staates erzielen. Es sind nicht viele Staaten auf dieser Welt, denen das aktuell gelingt, umso erfreulicher ist es für Deutschland. Deutschland erzielte im ersten halben Jahr 2016 einen Überschuss von 18,5 Milliarden Euro oder 1,2 Prozent im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Schon wird die Frage gestellt: wohin damit? Drei Möglichkeiten bieten sich an: Erstens kann der Staat seine Ausgaben erhöhen und sie einfach verfrühstücken. Zweitens kann er seine Verschuldung abbauen und Kredite tilgen. Drittens könnte er seine Einnahmen kurzfristig dadurch reduzieren, dass er den Bürgern weniger an Steuern wegnimmt.

Die erste Möglichkeit ist das Konzept der siebziger Jahre. Während der damaligen Ölkrise schwächelte die heimische Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit stieg und Helmut Schmidt begründete die höhere Neuverschuldung mit den Worten: „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“ Bekanntlich hatte er dann 1980 beide Marken übertroffen und wurde auch deshalb wenige Jahre später abgewählt. Die zweite Möglichkeit sieht den Schuldenabbau vor. Allein der Bund schiebt derzeit 1050 Milliarden Euro Schulden vor sich her. Finanzminister Schäuble will davon nichts tilgen, sondern setzt darauf, dass das Wirtschaftswachstum die Schuldenquote im Jahr 2020 unter die 60 Prozent-Norm des Maastricht-Vertrages drückt.

Dabei hat er es derzeit sehr einfach. Mario Draghis Zinsvernichtungspolitik hilft Schäuble enorm. Noch vor wenigen Jahren musste Schäuble trotz 117 Milliarden Euro höherer Schulden weniger Zinsen bezahlen. In der Hochzeit waren es über 40 Milliarden pro Jahr, im nächsten Jahr sind es nur noch 19 Milliarden Euro. Historische Vorbilder großer Volkswirtschaften für einen radikalen Schuldenabbau gibt es nicht viele. Die Schweiz ist eines. Hatte die Schweiz zum Ende des Zweiten Weltkrieges noch eine Verschuldung von 60 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung, waren es in den 1970er Jahren nur noch unter 10 Prozent. Ein relativ konstanter Schuldenberg sank prozentual im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung durch ein starkes ökonomisches Wachstum. Die Schweizer Wirtschaft wuchs in dieser Zeit um über 3 Prozent pro Jahr.

Die dritte Variante wäre es, die Einnahmen des Staates kurzfristig zu reduzieren und die Bürger steuerlich zu entlasten, damit dadurch eine neue wirtschaftliche Dynamik entsteht, die dann mittel- und langfristig die Einnahmen des Staates wieder steigen lässt. Es wäre die Variante, die Ronald Reagan in den 1980er Jahren gewählt hat und die den wirtschaftlichen Aufstieg Amerikas in dieser Zeit begründete.

Historische Betrachtungen hinken meist, auch hier.

Schmidt konnte zu Beginn der 1970er Jahre nicht auf Überschüsse zurückgreifen. Der Staat gab damals schon mehr aus, als er einnahm. Deutschland ist nicht die Schweiz. Wir sind Mitglied des Euro-Währungsraumes, der inzwischen leider die Schulden des einen Landes zu Schulden des anderen Landes gemacht hat. Die Nichtbeistandsklausel in den Europäischen Verträgen gilt nur noch auf dem Papier. Das bankrotte Griechenland demonstriert uns jeden Tag diesen Umstand. Und auch die dritte Variante hinkt ein wenig. Die Steuereinnahmen steigen in dieser Legislaturperiode um über 100 Milliarden Euro vor allem deshalb, weil die Wirtschaft wächst. Deutschland hat im Vergleich zu vielen anderen EU-Ländern sehr solide Wachstumsraten.

Deutschland sollte daher lieber einen Dreiklang der Maßnahmen favorisieren. Erstens müssen die Ausgaben viel stärker in den Ausbau der Infrastruktur, sei es in die Bildung, den Straßenverkehr oder die digitale Infrastruktur umgeschichtet werden. Zweitens sollten die Ausgaben geringer steigen als die Einnahmen, um so den Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung zu reduzieren. Und drittens muss ein kluger Finanzminister die Bürger berechenbar entlasten. Das heißt: Mindestens die Hälfte der Steuermehreinnahmen müssen künftig an die arbeitenden Bürger zurück.

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Unverantwortliche Finanzberatung steht zur Recht in der Kritik. Dass es andere Möglichkeiten gibt, dagegen vorzugehen als nur noch mehr Regulierung und noch ausführlichere Beratungsprotokolle, zeigt das Beispiel Australien.

Anlegen statt umverteilen

Wie in Neuseeland, Skandinavien und selbst in Deutschland waren es vor dreißig Jahren in Australien Sozialdemokraten, die die Notwendigkeit von Reformen erkannten und den Mut und die Energie aufbrachten, diese auch durchzuführen. Im Fall des Landes am entgegengesetzten Ende der Welt, war insbesondere das Rentensystem auf der Reformagenda. Aus Sicht der damaligen Regierung Hawke war es langfristig nicht mehr finanzierbar. Ein neues sollte her, das weiterhin jedem Australier ein Auskommen im Alter ermöglichen sollte, allerdings ohne dazu einen gewaltigen Umverteilungsapparat in Betrieb zu halten.

Auf drei Säulen sollte das neue System solide ruhen: Eine minimale staatliche Grundsicherung bei nachgewiesener Bedürftigkeit. Eine allgemeine Pflichtabgabe aller Arbeitnehmer an einen Rentenfonds. Und natürlich noch weitere Möglichkeiten zur freiwilligen Zusatzversicherung. Interessant ist vor allem die zweite Säule: Die Pflichtabgabe, die derzeit 9,5 % des Lohns beträgt, wird an unterschiedliche Anbieter zur Fondsverwaltung entrichtet. Der Arbeitnehmer hat die Möglichkeit, zu wählen, welchem Anbieter er seine Rentenrückstellungen anvertraut. Eine Mehrheit der Arbeitnehmer macht von diesem Recht jedoch keinen Gebrauch, so dass in diesen Fällen der Arbeitgeber entscheidet, in welchen Fonds die Abgabe eingezahlt wird. Im Gegensatz zum Arbeitnehmer muss er allerdings aus einer Reihe von staatlich zertifizierten Anbietern auswählen.

Der höhere ökonomische Bildungsstand

Weil die Rentensicherheit in Australien von klugen Finanzberatern abhängt, gibt es – wenig überraschend – eine erheblich größere und ausdifferenziertere Beratungsbranche in Australien als in vielen anderen Ländern. So hat das 23-Millionen-Land Australien mit 20.000 Finanzberatern ebenso viele wie das fast drei Mal so große Großbritannien. 2015 betrug das Gesamtvolumen der unterschiedlichen Fonds etwas über 2 Billionen Australische Dollar (ca. 1,4 Billionen Euro). Dabei gibt es eine Bandbreite von unterschiedlichen Investitionsmöglichkeiten. Die fundamentalste Unterscheidung ist die zwischen selbstverwalteten und treuhänderisch verwalteten.

Eine ganze Reihe von Australiern trauen sich offenbar zu – natürlich meist mit der Unterstützung von Finanzberatern –, selber über die Anlage ihrer Rückstellungen zu entscheiden. Fast 30 % des Gesamtvolumens steckt in kleinen, selbstverwalteten Fonds mit weniger als vier Mitgliedern. Das bedeutet natürlich, dass in Australien ein erheblich größerer Anteil der Bevölkerung darum bemüht ist, sich zumindest ein gewisses Grundverständnis für Finanzgeschäfte anzueignen, als in vielen anderen Ländern. Unter den treuhänderisch verwalteten sind die von Banken und Versicherern aufgelegten Fonds mit 26 % des Gesamtvolumens die beliebtesten; gefolgt von Industriefonds, die von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gemeinsam aufgelegt werden (22 %); Fonds für Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes (17 %); und schließlich Unternehmensfonds von einigen der größeren Firmen im Land (3 %).

Durch Marktdruck disziplinieren

Klar, wenn fast das gesamte Rentenvermögen eines Landes investiert wird, ist das nicht ganz ohne Risiko. Die Finanzkrise 2008 traf auch australische Rentner durchaus empfindlich. Es gibt aber auch genügend Beispiele von Staaten, die durch Misswirtschaft die Rentensicherheit aufs Spiel setzen. Und im Gegensatz zu Staaten können Fonds erheblich schneller wieder aus einer Schwächephase herauskommen. Zumindest wenn sie verantwortlich und klug verwaltet werden …

Um diese verantwortliche Verwaltung sicherzustellen, wird immer rasch nach dem Staat gerufen. Der Staat ist mit dieser Aufgabe aber notorisch überfordert. In der Regel reguliert er nur hinterher, nicht voraus. Eine wesentlich bessere Methode, um Solidität bei der Finanzberatung zu garantieren, ist der Druck des Marktes. Wenn wie in Australien der größte Teil des Rentenvermögens in Fonds steckt, dann lastet natürlich ein massiver Druck auf deren Managern, klug und verantwortlich, nachhaltig und langfristig zu investieren. Diejenigen die ihre Rentenfonds selbst verwalten, sind sich ohnehin bewusst, wie viel von ihrem verantwortlichen Handeln abhängt. Und die Treuhandverwalter werden viel mehr darauf achten müssen, nicht in Misskredit zu geraten als dort, wo der Staat die Renten garantiert. Natürlich ist eine ganz klare Haftungsregelung die Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines solchen Systems.

Eine Kultur der Verantwortlichkeit

Wenn alle – Verbraucher, Anbieter und auch staatliche Stellen – stärker auf Solidität achten, entsteht über die Zeit eine Kultur der höheren Verantwortlichkeit. Die Casino-Kultur, die manche Exzesse der modernen Finanzwirtschaft hervorgebracht hat, gründet sich ja gerade darauf, dass der Staat explizit oder zumindest implizit versprochen hat, viele Risiken aufzufangen. Wer sich hingegen auf dem Markt bewähren muss ohne die staatlichen Garantien im Hintergrund, der wird schon erheblich vorsichtiger agieren. Gerade, wenn es um so essentielle Dinge wie Renten geht. Auch im Finanzsektor gilt, was der Ökonom Milton Friedman über Unternehmen schrieb:

„Es liegt im Eigeninteresse von General Electric oder General Motors oder Westinghouse oder Rolls Royce, dass sie einen Ruf als Produzenten dauerhafter und verlässlicher Güter besitzen. Das ist die Quelle ihres ‚goodwill‘ und trägt wahrscheinlich mehr zu ihrem Wert bei als alle Fabriken und Werke, die ihnen gehören.“

 

 

Photo: Frank Jacobi from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Das Bundessozialgericht hat Anfang Dezember entschieden: In Deutschland lebende EU-Ausländer haben ein Recht auf Sozialhilfe. Diese Entscheidung nutzt vor allem denjenigen, die Sozialleistungen missbrauchen sowie den Rattenfängern am rechten Rand. Sie schadet tendenziell den ehrlichen Migranten.

Paradies Sozialhilfe?

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ So stellte das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 fest. Dieses menschenwürdige Leben wird etwas schwammig umrissen mit der Formulierung vom „typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums“.

Die Definition dieses „typischen Bedarfs“ hat schon zu viel bösem Blut geführt. Die Diskussionen reichen von „denen wird doch alles hinterher geworfen“ bis „bedürftige Menschen werden absichtlich zu kurzgehalten“, von „Sozialschmarotzer“ bis „bitterste Armut“. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte: ein angenehmes Leben haben Sozialhilfeempfänger bestimmt nicht, verglichen mit bestimmt 90 Prozent der Weltbevölkerung sind sie aber immer noch ziemlich gut dran. Insofern ist der Gedanke durchaus naheliegend, dass Menschen sich auf den Weg machen, um diesen aus ihrer Sicht besseren Lebensstandard zu erlangen – zumal wenn sie, wie die EU-Bürger aus ärmeren Ländern, problemlos nach Deutschland kommen können.

Die wenigsten Menschen wollen von staatlichen Almosen leben

Nun ist zum Glück nicht die Mehrheit aller Menschen darauf aus, von staatlichen Almosen zu leben. Selbst verdientes Geld, eine sinnvolle Tätigkeit, eigene Leistung sind für die allermeisten Menschen, ob Deutsche, Rumänen, Albaner oder Eritreer, ein erstrebenswertes Ziel. Aber unter Deutschen wie unter Zuwandernden gibt es natürlich auch solche, die es sich mit dem Existenzminimum gemütlich machen. Unter Umständen ist der Anreiz für jemanden auch noch etwas höher, der aus einem Land kommt, in dem man mit sehr viel Fleiß und Geschick immer noch deutlich weniger verdient als den Sozialhilfesatz in Deutschland.

Ja, es gibt Missbrauch von Sozialleistungen. Und jeder einzelne, der diesen Missbrauch begeht, trägt dazu bei, dass pauschale Urteile über Sozialschmarotzer und Armutszuwanderer Nahrung bekommen. Das führt nicht nur dazu, dass sich hiesige Sozialhilfeempfänger immer wieder rechtfertigen müssen. Es führt auch dazu, dass Zuwanderern oft unterstellt wird, sie kämen wegen der Sozialleistungen. Das Urteil des Bundessozialgerichts ist deshalb ein Problem, weil es diese Wahrnehmung verschärft und den tatsächlichen Missbrauchern Tür und Tor öffnet.

Personenfreizügigkeit bewahren

Es ist dringend geboten, dass die Politik sich in dieser Frage bald zu einem Umdenken bewegen lässt. Zu den Forderungen, die der britische Premier Cameron im Blick auf das EU-Referendum in seinem Land durchsetzen möchte, gehört diejenige, EU-Bürgern in den ersten vier Jahren keine Sozialleistungen auszuzahlen. Und – man höre und staune – selbst Andrea Nahles hat sich vor einigen Tagen zu dem Thema geäußert: „Wir müssen die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen.“ Camerons Vorschlag ist auf jeden Fall vernünftig. Er bewahrt vor allem das hohe Gut der Personenfreizügigkeit – die Krönung des gemeinsamen Binnenmarktes.

Mittel- und langfristig gibt es eigentlich nur zwei Alternativen: Die erste besteht darin, dass wir es beim status quo belassen oder ihn gar – auch dazu gibt es Bestrebungen – ausdehnen, indem wir uns in Richtung einer zentral gesteuerten und gemeinsam finanzierten EU-Sozialpolitik bewegen. Das wäre Zunder für das Feuer derjenigen, die das Gefühl wecken wollen, Deutschland sei das „Weltsozialamt“. Und es würde die Stimmung auch gegenüber arbeitswilligen Migranten stark verdüstern. Eine solche Lösung wäre mithin auch nicht im Sinne derjenigen, die die Chancen für Migranten verbessern wollen. Sie würde in der Konsequenz zu einer Abschottung und zu geschlossenen Grenzen führen. Denn je stärker ein Wohlfahrtsstaat ausgebaut ist, umso höher werden die Mauern um ihn errichtet.

Grenzen um den Wohlfahrtsstaat statt um das Land

Die andere Alternative besteht darin, Cameron zu folgen und die Grenzen nicht um das Land, sondern um den Wohlfahrtsstaat zu ziehen. Wer eine Renten- oder Lebensversicherung abschließt, kann erst nach einiger Zeit des Einzahlens substantielle Summen erhalten. Das ist die ökonomische Logik und die einzige Logik, nach der Versicherungen funktionieren. Der Wohlfahrtsstaat ist heute schon kein klassisches Versicherungssystem mehr, sondern eine Umverteilungsindustrie. Wir könnten wenigstens bei den Zuwandernden wieder auf den ursprünglichen Versicherungscharakter zurückgreifen. Sozialhilfe und ähnliche Leistungen sollten nur dem ausgezahlt werden, der bereits vorher eingezahlt hat.

Wenn wir unsere Systeme entsprechend umstellen – sowohl für Migranten aus der EU als auch von außerhalb –, dann kann man gleich zwei Ziele erreichen: Man nimmt den Populisten den Wind aus den Segeln, die Ängste schüren, der Kuchen werde für die Deutschen kleiner durch „Sozialschmarotzer“ aus dem Ausland. Vor allem aber werden wir nicht gezwungen, Freizügigkeit und Zuwanderung weiter zu beschränken, um das Sozialsystem funktionsfähig zu halten. So können auch weiterhin Menschen, die einen Arbeitsplatz bekommen, nach Europa und nach Deutschland kommen und dazu beitragen, dass der Wohlstand für alle wächst. Es mag hartherzig wirken, wenn man Migranten zunächst aus dem Sozialstaat ausschließt. Aber es ist der beste Weg, um zu vermeiden, dass sie nicht einmal mehr bei uns arbeiten können. Auch hier gilt, was Kurt Tucholsky einmal sagte: „Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut.“

Photo: Jorbasa Fotografie from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Dr. Karolin Herrmann, Referentin für Haushaltspolitik und Haushaltsrecht beim Deutschen Steuerzahlerinstitut

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt und als hätte man darauf gewartet, gab die Europäische Kommission unlängst eine zur Vorweihnachtszeit passende Mitteilung heraus. Darin plant sie neue Sicherheitsanforderungen für Kerzen, Kerzenhalter und Kerzenzubehör, denn diese, so die Kommission, könnten ein Risiko für die Verbrauchersicherheit darstellen. Was unter einer Kerze zu verstehen ist, liefert der Text gleich mit – nämlich ein „Produkt, das aus einem oder mehreren brennbaren Dochten besteht, die von einer bei Raumtemperatur (20 °C bis 27 °C) halbfesten Brennmasse gestützt werden.“ Um den Verbraucher zu schützen, hat sich das europäische Expertengremium besondere Sicherheitsanforderungen einfallen lassen. So sollen frei stehende Kerzen oder Kerzen, die mit einem Halter oder Behälter geliefert werden, nicht umkippen dürfen. Bei Kerzen, die ohne Halter oder Behälter geliefert werden, muss der Hersteller den Verbraucher künftig darauf hinweisen, dass die Verwendung eines geeigneten Halters erforderlich ist.

Kurzum, die meisten Passagen lesen sich wie ein Paradestück aus dem Brüsseler Kuriositätenkabinett. Warum mich solche Texte ärgern? Sie degradieren den Bürger zum Kleinkind – getreu dem Motto „Messer, Gabel, Schere, Licht – sind für kleine Kinder nicht.“ Aber ist es nicht in der europäischen Verantwortung, den Bürger vor Feuerschäden zu bewahren? Ist es nicht begrüßenswert, wenn uns die EU vor Alltagsgefahren schützt? Warum soll sich die EU nicht um unsere Sicherheit sorgen? Weil eine solche Regelung gegen die Grundprämisse gelebter Subsidiarität verstößt! Liegt es doch in der Verantwortung des Einzelnen und ist es doch eine Frage des gesunden Menschenverstands, wackelige Kerzen nicht ohne geeignete Unterlage anzuzünden. Der sichere Umgang mit entflammbaren oder scharfen Gegenständen ist Teil eines individuellen Erziehungs- und Lernprozesses und erfordert keine supranationale Initiative. Die europäische Fürsorge und Zwangsbeglückung ist Kalkül und zugleich Deckmäntelchen, um supranational mehr Kompetenzen und ein höheres Budget durchsetzen zu können. Befindet sich Europa also in der Wohlfühlfalle?

Allein in diesem Jahr wurden auf europäischer Ebene mehr als 1.800 Rechtsakte auf den Weg gebracht. Tatsächlich entbehren viele Verordnungen und Richtlinien jeglicher ordnungspolitischen Grundlage. Nehmen Sie nur die Richtlinie Nummer 603/2013, nach der die Kennzeichnung von Säuglingsnahrung so zu gestalten ist, dass sie Mütter nicht vom Stillen abhält. Der Verordnungsgeber vermutet, dass Frauen durch Babyfotos auf Milchpulververpackungen manipuliert werden könnten und verbietet ab Sommer 2016 eine entsprechende Bebilderung. Auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob sich die EU wirklich um den Schutz von Kleinkindern bemüht oder den Eltern unvermittelt Fehlverhalten unterstellt.

Spätestens hier schließt sich die grundsätzliche Frage an, wie die Kompetenzen innerhalb der Europäischen Union zu verteilen sind. Politikwissenschaftler verweisen dabei gern auf ein Demokratiedefizit in der EU. Es fehle an einer strikten Trennung der „Staatsgewalten“. Tatsächlich haben sowohl die Europäische Kommission als auch der Ministerrat Kompetenzen, die sich auf die Exekutive und auf die Legislative beziehen. Der Kommission obliegt neben dem Initiativrecht für die Gesetzgebung auch die Kompetenz, die Umsetzung des EU-Haushalts zu kontrollieren. Der Ministerrat kann Rechtsakte beschließen und internationale Verträge aushandeln, hat aber auch Kompetenzen der initiierenden und ausführenden Exekutive, denn er entscheidet aufgrund der rotierenden Ratspräsidentschaften über die Gesetzgebungsagenda.

An der Wahl der Kommission sind die Bürger weder unmittelbar noch mittelbar beteiligt. Die Kommissionsmitglieder werden alle fünf Jahre von den Mitgliedstaaten gewählt, das Europäische Parlament bestätigt das gesamte Kollegium via Zustimmungsvotum. Ein Misstrauensvotum für einzelne Kommissionsmitglieder gibt es nicht.

Der Ministerrat setzt sich je nach Sachthema aus den jeweiligen Fachministern der Mitgliedstaaten zusammen. Das Demokratiedefizit besteht in der Zusammensetzung des Ministerrats. Die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten werden nur mittelbar von den Bürgern der Europäischen Union gewählt und kontrolliert. Die Bekleidung der Ministerposten erfolgt auf nationaler Ebene über Wahlen. Hier werden die Bürger ihre Entscheidung aber primär an der nationalen Politik ausrichten.

Dem Ministerrat steht der Ausschuss der ständigen Vertreter (COREPER) zur Seite. Dem Gremium sind etwa 300 Arbeitsgruppen aus 28 EU-Mitgliedstaaten untergeordnet, in denen nationale Beamte themenbezogen zusammenarbeiten. Der COREPER bereitet die Ratssitzungen vor, beschließt die Tagesordnungen und legt dem Ministerrat entscheidungsreife Entwürfe vor, die meist nur noch der förmlichen Zustimmung bedürfen. Die Sitzungen des COREPERs und des Ministerrats finden in der Regel nicht öffentlich statt. Eine demokratische Legitimierung und Kontrolle des Ministerrats ist durch das hochgradig administrativ verflochtene COREPER nicht gegeben.

Diese wenigen Spiegelstriche verdeutlichen, dass es in der EU tatsächlich ein Demokratiedefizit gibt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass es im Zuge des Lissabon-Vertrags bereits Verbesserungen gegeben hat und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments gestärkt wurden. Die Frage ist auch, ob eine alleinige Verringerung des Demokratiedefizits in der EU genügt, um die europäischen Kompetenzen wirksam zu beschränken. Demokratie ist ein Willensbildungsverfahren und Ausdruck der jeweiligen Mehrheitsmeinung. Demokratie ist eine gute und die wahrscheinlich am ehesten Freiheit schaffende Methode, um widerstreitende Meinungen zu vereinen. Demokratie ist aber nur eine hinreichende und keine notwendige Bedingung, um Willkür, Ad-hoc-Gesetzgebung und politische Selbsterhaltungsinteressen wirksam zu begrenzen.

Europa braucht einen Ordnungsrahmen, der sich aus universalen Regeln zusammensetzt. Dazu gehört etwa die Verteidigung der mit dem europäischen Binnenmarkt verbundenen Grundfreiheiten oder die Schaffung eines Rechtsrahmens, um den grenzüberschreitenden Wettbewerb zu regeln. Hingegen kann eine politische Vertiefung nicht mit der steigenden gesellschaftlichen Komplexität und Vielfalt harmonieren. Oder akademisch ausgedrückt: Die Präferenzverfehlungskosten einer supranational koordinierten Politik steigen mit der Heterogenität der nationalen Systeme. Wie wichtig eine Prioritätensetzung in der EU ist, zeigt die aktuelle Flüchtlingskrise. Die Entgrenzung europäischer Zuständigkeiten in der Verbraucherpolitik steht im traurigen Widerspruch zum augenscheinlichen Unvermögen, auf europäischer Ebene eine Lösung der Flüchtlingskrise herbeizuführen.

Photo: Sascha Kohlmann from Flickr (CC BY-SA 2.0)

2,9 Billionen Euro wurden 2014 in Deutschland erwirtschaftet. Zur gleichen Zeit hat der Staat Sozialausgaben im Wert von 850 Milliarden Euro verteilt – das ist fast ein Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung. Geht es hier wirklich noch um die Armen?

Sozialleistungen für die Oberschicht

Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat in einer demnächst erscheinenden Studie die Strukturen der Sozialausgaben in Deutschland ausführlich analysiert. Fazit: Es geht eher um massive Umverteilung in der gesamten Gesellschaft als darum, Arme und Schwache zu unterstützen. Es mag Ihnen etwas schwer fallen, aber stellen Sie sich einmal vor, sie würden zwischen 7.000 und 10.000 Euro im Monat verdienen. Selbst dann würden Sie im Durchschnitt immer noch monatlich 625 Euro Sozialleistungen bekommen. Freilich, Sie würden auch jeden Monat 3.782 Euro zahlen, und damit ein Sechsfaches von dem, was Sie erhalten. Aber das ist noch einmal ein anderes Thema.

Sobald das Haushaltseinkommen netto über die 3000 Euro-Grenze gerutscht ist, wird der Haushalt vom Netto-Empfänger zum Netto-Zahler. Man kann darüber streiten, ob das fair ist – zu hoch oder zu niedrig. Unabhängig von der Frage, ab wann man legitimer Weise jemanden zur Kasse bittet, stellt sich allerdings eine weitere grundsätzliche Frage: Wie sinnvoll kann es sein, denjenigen, die das Sozialsystem durch ihre Steuern und Beiträge finanzieren, wiederum Leistungen zukommen zu lassen? Könnte man deren Belastung nicht einfach etwas reduzieren?

Von der einen in die andere Tasche

Die Sozialleistungen schon vor der Besteuerung zu verrechnen und mithin weniger zu besteuern, wird nur sehr schwer durchzusetzen sein. Warum? Weil es bei vielen Sozialleistungen nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorrangig darum geht, die unteren Einkommensschichten zu unterstützen. Betreuungs-, Eltern- und Kindergeld sind so Maßnahmen, die fröhlich in jedes Portemonnaie sprudeln – dem Gärtner werden sie ebenso gewährt wie der Top-Managerin. Denn bei diesen Leistungen geht es darum, ein bestimmtes Verhalten zu belohnen, nicht den Armen zu helfen.

Mit anderen Worten: Staatliche Behörden nehmen den Steuerzahlern das Geld aus der einen Tasche heraus, nur um es ihnen anschließend mit großzügiger Geste in die andere wieder hinein zu stecken. (Meistens mit gewissen Verlusten unterwegs …) Während die Politik mit solchen Maßnahmen der Sorge um die demographische Entwicklung entgegenwirkt, fühlt sich der Empfänger geschmeichelt, belohnt und umsorgt. Endlich mal jemand, der den Kindern etwas Gutes tut! Wirklich geholfen ist dem Netto-Zahler damit allerdings natürlich nicht. Überraschung: das geschieht mit seinem eigenen Geld!

Erratische Umverteilung

Einen großen Anteil an den Transferleistungen, die eben nicht nur von oben nach unten gehen, sondern erratisch, kreuz und quer und hoch und runter, durch die Schichten, gehen natürlich auch auf das Konto der umlagefinanzierten Gesundheits- und Rentensysteme. Auch hier kann man sich fragen, ob sich nicht intelligentere Lösungen finden ließen. Wäre es nicht wünschenswert, wenn man vermeiden könnte, dass hier über den Umweg des Finanzamts bzw. der Versicherungen und Rentenkassen Geld von der einen in die andere Tasche geschoben wird?

Darüber hinaus gibt es natürlich noch viele andere Bereiche staatlichen Geldausgebens, bei denen eine Umverteilung mindestens innerhalb der Mittel- und Oberschicht stattfindet, wenn nicht gar von unten nach oben. In einer Untersuchung des „Institute for Research in Economic and Fiscal Issues“ heißt es dazu:

„Das Spektrum erstreckt sich von öffentlichen Kulturangeboten wie Theatern, Museen oder Opern über bezuschusste Stadien, Sporthallen oder Schwimmbäder bis zur Subvention von Musikschulen, Universitäten und Schulen. Würden derartige nicht-monetäre Transfers mitberücksichtigt, sähe die Bilanz der Abgaben und Bezüge der Mitglieder der Einkommensmitte noch rosiger aus und das Argument für weniger Hin- und Her von Mitteln zwischen dem Staat und der Mitte wäre noch stärker.“

Effizienter und gerechter die Armen unterstützen

Es gehört zum gesellschaftlichen Konsens, dass Ärmeren und Notleidenden geholfen werden muss. Was derzeit in unserem Staat passiert, ist allerdings etwas anderes. Die Umverteilungskanäle sind undurchschaubar, das System gleicht eher einem Wunschkonzert für jedermann als einem tatsächlichen Unterstützungssystem und dient vor allem Politikern dazu, nach gusto Wohltaten an verschiedene Wählergruppen zu verteilen. Das Nachsehen haben alle: Die Netto-Empfänger, weil sie zum Teil für Wohlhabendere mitbezahlen. Und die Netto-Zahler, weil sie in diesem System nicht nur für die Empfänger bezahlen, sondern auch für sich selbst – nachdem das Geld durch die Hände von Bürokraten und Politikern gewandert ist …

Gerade jetzt, da wir uns in einer weltweiten Debatte über Ungleichheit befinden, sollten wir sehr genau hinschauen, ob das aktuelle Umverteilungssystem wirklich dem Zweck dient, Armut und Not abzumildern. Effizienter und mithin gerechter für alle Betroffenen wäre etwa das Modell einer negativen Einkommenssteuer in Kombination mit einer flat tax. Ein solches System wäre unkomplizierter, unparteiischer und fairer. Die einzigen, die dann ein Problem hätten, wären Politiker, die viel weniger Wohltaten im Land verteilen könnten.