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Initiativen privater Solidarität sind in den meisten Fällen erheblich wirksamer als Maßnahmen des Sozialstaates oder der Entwicklungshilfe. Über Spenden und Freiwilligenarbeit hinaus gibt es noch eine Möglichkeit privater Solidarität: Das soziale Unternehmertum.

Rendite für die Ärmsten

Am Mittwoch hat die Meldung Furore gemacht, dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg rund 45 Milliarden Dollar spenden möchte. Die Stiftung, die er anlässlich der Geburt seiner Tochter einzurichten ankündigte, soll weltweit Gesundheitsversorgung, Bildung, eine nachhaltige Entwicklung und ähnliche Zwecke fördern. Damit setzt er eine Tradition der Philanthropie fort, die in den Vereinigten Staaten von Andrew Carnegie bis Bill Gates natürlicher Bestandteil des Selbstverständnisses von Unternehmern ist. Aber auch in Europa und bei uns in Deutschland stellen sehr viele Unternehmer erhebliche Geldsummen zur Verfügung, deren Rendite nicht auf ihrem Konto landet, sondern der Gesellschaft zugutekommt – oft ihren ärmsten und schwächsten Gliedern.

Die Motive für solche Großzügigkeit sind sehr vielfältig: Die einen wollen „der Gesellschaft etwas zurückgeben“, andere handeln aus bestimmten philosophischen oder religiösen Überzeugungen heraus, wieder andere werden angestachelt durch ihren Fortschrittsoptimismus, den sie mit dem unbedingten Willen verbinden, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Eines haben sie freilich alle gemeinsam: Obwohl sie alle Jahr für Jahr einen erheblichen Beitrag in den Steuersäckel werfen müssen, rufen sie nicht nach dem Staat, um soziale Probleme zu lösen. Vielleicht auch, weil sie sehr genau wissen, dass Politik und Bürokratie generell keine Experten für Problemlösung sind …

Jeder nach seinen Möglichkeiten

„Zuckerberg kann problemlos so viel abgeben. Der wird ja auch danach noch zu den reichsten Menschen der Welt gehören.“ Aus der Perspektive einer Familie mit drei Kindern, die Miete zu bezahlen hat und fünf Leute mit Nahrung, Essen, Kleidung und vielleicht auch noch einem Flugticket für den Kanada-Austausch der Ältesten ausstatten muss, ist ein solcher Einwand nachvollziehbar. Der indischen Familie, die sich mit diesen Geldern endlich eine Toilette bauen kann, wird das herzlich egal sein. Ebenso den Bauern im bolivianischen Hochland, die jetzt eine Schule im eigenen Dorf haben. Und um diese Menschen soll es ja auch primär gehen!

Gleichwohl muss nicht jeder ein Zuckerberg oder Buffett sein, um etwas gegen Armut und Not, Krankheit, Elend und Tod zu tun. In den vergangenen zwölf Monaten haben das Hunderttausende unserer Mitbürger sehr eindrucksvoll bewiesen, indem sie sich eingebracht haben bei der Unterstützung von Flüchtlingen – in Kleiderkammern und Volkshochschulen, bei Behörden und in ihren eigenen Wohnungen. Auch jenseits solch aktueller Ereignisse wie den Kriegsflüchtlingen gehen junge Menschen nach dem Abitur für ein Jahr in ein Kinderheim in Ostafrika, verbringen Ärzte ihren Jahresurlaub mit Operationen in Bangladesch und organisieren Kegelvereine den Transport von Krankenhausbetten nach Moldawien. Wichtig ist nicht, wieviel man gibt. Und erst recht nicht, wie viel einem danach noch übrig bleibt. Wichtig ist, dass Menschen geholfen wird.

Wir brauchen soziale Unternehmer

Spenden und Freiwilligenarbeit sind jedoch nicht die einzigen Optionen, wie man seinen Mitmenschen helfen kann. Vor einer Woche war ich in Lviv in der Ukraine und habe dort eine weitere Option kennengelernt, die mich auf Anhieb begeistert hat. Ich durfte zu Gast sein bei Yuriy, einem Freund aus meinen Studiumstagen. Yuriys Sorge gilt obdachlosen Frauen, die auf den Straßen der westukrainischen Stadt leben. Darum hat er ein Frauenhaus ins Leben gerufen, um den Frauen Schutz und Zugang zu Nahrung und Hygiene zu geben. Aber auch, um ihnen Arbeit zu geben. Denn diese Arbeit gibt ihnen die Möglichkeit, einen neuen Sinn im Leben zu finden und Fertigkeiten einzuüben, die für die Teilhabe an der Gesellschaft wichtig sind. Das Frauenhaus lebt aber nicht primär von staatlichen Zuwendungen, Spenden oder Freiwilligenarbeit. Es ist ein unternehmerisches Projekt. Yuriy versteht sich als Unternehmer. Er will den Frauen helfen. Und darum packt er an.

Zuerst hat er das Frauenhaus mit Hilfe einer Kerzenwerkstatt finanziert. Seit einiger Zeit ist es vor allem eine Bäckerei, die den Geldfluss gewährleistet und gleichzeitig den Frauen die Möglichkeit gibt, sich mit ihren Fähigkeiten einzubringen. In der derzeit sehr lebhaften IT-Branche in Lviv sind die Kekse von Yuriys Bäckerei inzwischen ein so fester Bestandteil der Mitarbeitermotivation wie die Sitzsäcke und die Playstation. Derzeit planen Yuriy und seine Freunde, ins Nuss-Geschäft einzusteigen, um das Frauenhaus weiter ausbauen zu können.

Zuckerbergs gigantische Spende ist sehr ehrenvoll und wird auf jeden Fall für eine große Zahl an Menschen, auch weit in die Zukunft hinein, enormes bedeuten. Mindestens genauso wichtig aber ist es, dass es Menschen wie Yuriy gibt. Die ihr Anliegen, anderen in Not zu helfen, nicht dazu bringt, dass sie erst einmal nach dem nächsten Staatstopf Ausschau halten. Die das Anliegen als ihr eigenes verstehen, nicht als eines, das man outsourced oder vergemeinschaftet. Wenn man sich ein schönes Auto kaufen will, muss man hart arbeiten. Genauso muss man hart arbeiten, wenn man ein Frauenhaus gründen und unterhalten will. Einen solchen Ansatz sozialen Unternehmertums könnten wir auch hierzulande gut gebrauchen: Wenn ich eine andere Welt will, muss ich selber anpacken!

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2,9 Billionen Euro wurden 2014 in Deutschland erwirtschaftet. Zur gleichen Zeit hat der Staat Sozialausgaben im Wert von 850 Milliarden Euro verteilt – das ist fast ein Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung. Geht es hier wirklich noch um die Armen?

Sozialleistungen für die Oberschicht

Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat in einer demnächst erscheinenden Studie die Strukturen der Sozialausgaben in Deutschland ausführlich analysiert. Fazit: Es geht eher um massive Umverteilung in der gesamten Gesellschaft als darum, Arme und Schwache zu unterstützen. Es mag Ihnen etwas schwer fallen, aber stellen Sie sich einmal vor, sie würden zwischen 7.000 und 10.000 Euro im Monat verdienen. Selbst dann würden Sie im Durchschnitt immer noch monatlich 625 Euro Sozialleistungen bekommen. Freilich, Sie würden auch jeden Monat 3.782 Euro zahlen, und damit ein Sechsfaches von dem, was Sie erhalten. Aber das ist noch einmal ein anderes Thema.

Sobald das Haushaltseinkommen netto über die 3000 Euro-Grenze gerutscht ist, wird der Haushalt vom Netto-Empfänger zum Netto-Zahler. Man kann darüber streiten, ob das fair ist – zu hoch oder zu niedrig. Unabhängig von der Frage, ab wann man legitimer Weise jemanden zur Kasse bittet, stellt sich allerdings eine weitere grundsätzliche Frage: Wie sinnvoll kann es sein, denjenigen, die das Sozialsystem durch ihre Steuern und Beiträge finanzieren, wiederum Leistungen zukommen zu lassen? Könnte man deren Belastung nicht einfach etwas reduzieren?

Von der einen in die andere Tasche

Die Sozialleistungen schon vor der Besteuerung zu verrechnen und mithin weniger zu besteuern, wird nur sehr schwer durchzusetzen sein. Warum? Weil es bei vielen Sozialleistungen nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorrangig darum geht, die unteren Einkommensschichten zu unterstützen. Betreuungs-, Eltern- und Kindergeld sind so Maßnahmen, die fröhlich in jedes Portemonnaie sprudeln – dem Gärtner werden sie ebenso gewährt wie der Top-Managerin. Denn bei diesen Leistungen geht es darum, ein bestimmtes Verhalten zu belohnen, nicht den Armen zu helfen.

Mit anderen Worten: Staatliche Behörden nehmen den Steuerzahlern das Geld aus der einen Tasche heraus, nur um es ihnen anschließend mit großzügiger Geste in die andere wieder hinein zu stecken. (Meistens mit gewissen Verlusten unterwegs …) Während die Politik mit solchen Maßnahmen der Sorge um die demographische Entwicklung entgegenwirkt, fühlt sich der Empfänger geschmeichelt, belohnt und umsorgt. Endlich mal jemand, der den Kindern etwas Gutes tut! Wirklich geholfen ist dem Netto-Zahler damit allerdings natürlich nicht. Überraschung: das geschieht mit seinem eigenen Geld!

Erratische Umverteilung

Einen großen Anteil an den Transferleistungen, die eben nicht nur von oben nach unten gehen, sondern erratisch, kreuz und quer und hoch und runter, durch die Schichten, gehen natürlich auch auf das Konto der umlagefinanzierten Gesundheits- und Rentensysteme. Auch hier kann man sich fragen, ob sich nicht intelligentere Lösungen finden ließen. Wäre es nicht wünschenswert, wenn man vermeiden könnte, dass hier über den Umweg des Finanzamts bzw. der Versicherungen und Rentenkassen Geld von der einen in die andere Tasche geschoben wird?

Darüber hinaus gibt es natürlich noch viele andere Bereiche staatlichen Geldausgebens, bei denen eine Umverteilung mindestens innerhalb der Mittel- und Oberschicht stattfindet, wenn nicht gar von unten nach oben. In einer Untersuchung des „Institute for Research in Economic and Fiscal Issues“ heißt es dazu:

„Das Spektrum erstreckt sich von öffentlichen Kulturangeboten wie Theatern, Museen oder Opern über bezuschusste Stadien, Sporthallen oder Schwimmbäder bis zur Subvention von Musikschulen, Universitäten und Schulen. Würden derartige nicht-monetäre Transfers mitberücksichtigt, sähe die Bilanz der Abgaben und Bezüge der Mitglieder der Einkommensmitte noch rosiger aus und das Argument für weniger Hin- und Her von Mitteln zwischen dem Staat und der Mitte wäre noch stärker.“

Effizienter und gerechter die Armen unterstützen

Es gehört zum gesellschaftlichen Konsens, dass Ärmeren und Notleidenden geholfen werden muss. Was derzeit in unserem Staat passiert, ist allerdings etwas anderes. Die Umverteilungskanäle sind undurchschaubar, das System gleicht eher einem Wunschkonzert für jedermann als einem tatsächlichen Unterstützungssystem und dient vor allem Politikern dazu, nach gusto Wohltaten an verschiedene Wählergruppen zu verteilen. Das Nachsehen haben alle: Die Netto-Empfänger, weil sie zum Teil für Wohlhabendere mitbezahlen. Und die Netto-Zahler, weil sie in diesem System nicht nur für die Empfänger bezahlen, sondern auch für sich selbst – nachdem das Geld durch die Hände von Bürokraten und Politikern gewandert ist …

Gerade jetzt, da wir uns in einer weltweiten Debatte über Ungleichheit befinden, sollten wir sehr genau hinschauen, ob das aktuelle Umverteilungssystem wirklich dem Zweck dient, Armut und Not abzumildern. Effizienter und mithin gerechter für alle Betroffenen wäre etwa das Modell einer negativen Einkommenssteuer in Kombination mit einer flat tax. Ein solches System wäre unkomplizierter, unparteiischer und fairer. Die einzigen, die dann ein Problem hätten, wären Politiker, die viel weniger Wohltaten im Land verteilen könnten.

Photo: blu-news.org from Flick (CC BY-SA 2.0)

Mindestlohn, Mietpreisbremse, Mütterrente, Tarifeinheitsgesetz: All diese Maßnahmen werden verkauft als Teil eines Kreuzzugs gegen die wachsende Ungleichheit. Tatsächlich sind sie reine Klientelpolitik und sichern nur Besitzstände.

Lobbyismus im sozialen Schafspelz

Lobbyismus hat zu Recht nicht den allerbesten Ruf, geht es doch darum, unter Umgehung des Wettbewerbs und zu Lasten der Allgemeinheit die eigenen Gewinne zu maximieren. Bei Lobbyismus denken die meisten an Banken und Pharmakonzerne, an die Hotelsteuer und die Glühbirne. Dabei finden wir das Phänomen etwa auch bei der Mietpreisbremse. Die schützt nämlich vor allem gut verdienende Bewohner schöner Altbauwohnungen in größeren Städten. Die junge Familie, die in ein neu gebautes Häuschen im Grünen ziehen möchte, muss hingegen gerade wegen der Mietpreisbremse mit noch höheren Kosten rechnen. Angepriesen wird das unter „bezahlbare Mieten“. Tatsächlich ist dieses Produkt aber nur für eine ausgewählte Gruppe zu haben, die ohnehin oft schon privilegiert ist.

Ein fast noch krasseres Beispiel für erfolgreichen Lobbyismus zu Lasten des Wettbewerbs ist das kürzlich vom Bundestag beschlossene Tarifeinheitsgesetz. Andrea Nahles beschwor die Gefahr, die bestehende Koalitionsfreiheit würde „die Arbeitnehmerseite entsolidarisieren und damit die Sozialpartnerschaft insgesamt schwächen. Deshalb stärken wir das Mehrheitsprinzip.“ Dass Arbeitnehmer frei ihre Interessenvertretung wählen, wird als ein Akt wider die Solidarität uminterpretiert. Dabei werden durch das Gesetz mitnichten Individuen gestärkt, sondern vielmehr nur die Besitzstände der großen Gewerkschaften gesichert. Diese Gewerkschaften benehmen sich nicht anders als die großen Konzerne, deren Lobbyisten in Behörden, Ministerien und Parlamenten in Berlin und Brüssel ein und aus gehen. Auch wenn sie gerne so tun, als seien sie der Gegenentwurf zu diesen bösen Konzernen.

Die Sache mit dem Kuchen

Diese Inkonsistenzen wiederholen sich dann auf einer noch viel größeren Ebene. Die Rachegötter der Ungleichheit sind nicht selten auch diejenigen, die vor den Gefahren der Globalisierung warnen, Freihandel pauschal als brandgefährlich einstufen und erbitterte Kritik an der „Wachstumsbesessenheit“ des Kapitalismus üben. Mit anderen Worten: diejenigen, die finden, dass ein Teil der Bevölkerung mehr vom Kuchen abbekommen sollte, sind zugleich auch diejenigen, die verhindern wollen, dass günstigere Kuchen ins Land kommen und dass mehr Kuchen gebacken werden. Sie wollen Armut beseitigen und schließen zugleich all jene Mittel aus, die das besonders effektiv tun. Wenn man Armen die Möglichkeiten nimmt, ihr Leben zu verbessern, bleibt eben nur noch die Möglichkeit, Reichen etwas wegzunehmen.

Die Globalisierung und der Rückzug sozialistischer Wirtschaftssysteme haben weltweit zu einem absolut atemberaubenden Anstieg des Lebensstandards geführt. Der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, also 1,25 Dollar oder weniger pro Tag zur Verfügung haben, ist in den Jahren 1990 bis 2010 von 36 auf 18 Prozent der Weltbevölkerung zurückgegangen. Gleichzeitig haben technische Neuerungen von Mobiltelefonen bis zu genetisch verbesserten Nahrungsmitteln das Leben von hunderten von Million Menschen in Entwicklungsländern substantiell verbessert. Einen Großteil dieser Entwicklung verdanken wir dem beständigen Wirtschaftswachstum und dem Abbau von Handelsschranken.

Globale Ungleichheit durch Abschottung

Dieser globale Blick lässt uns auch viel deutlicher die Absurdität der Ungleichheitsdebatte erkennen. Klar, es geht auch in unserem Land vielen Menschen substantiell schlechter als anderen. Aber diese Menschen haben eben sauberes Wasser, Zugang zu Bildung und können auf ein sehr fortschrittliches Gesundheitssystem zugreifen. Zudem genießen sie den Schutz des Rechtsstaats, haben die Möglichkeit zu wählen und sich frei zu äußern und haben prinzipiell Zugang zu einem gigantischen, die gesamte EU umfassenden Arbeitsmarkt. All das haben die Menschen in Burma, Venezuela und Sudan nicht.

Die tatsächliche Ungleichheit finden wir eben nicht innerhalb der hochindustrialisierten Länder, sondern weltweit. Quelle dieser Ungleichheit ist aber nicht etwa das Fehlen eines globalen Umverteilungsapparates. Das Ausmaß dieser Ungleichheit rührt vor allem daher, dass sich die Länder des Nordens und des Westens abschotten. Die Agrarpolitik, die Handelsbeschränkungen, die ausufernden Verbraucherschutznormen und die teilweise Abschottung der Arbeitsmärkte sind Schutzmaßnahmen der Besitzstandwahrenden. Sie zementieren weltweite Ungleichheit.

„Auf den Kapitalismus zu vertrauen bedeutet vor allem, an die Menschheit zu glauben.“

Das Ziel der Rachegötter der Ungleichheit ist nicht die Beseitigung von Armut, sondern die Beseitigung von Unterschieden. Die Globalisierung, der weltweite Anstieg des Wirtschaftswachstums und der technische Fortschritt haben hingegen in den letzten Jahrzehnten einen großen Teil der Weltbevölkerung aus der bittersten Armut geholt. Wenn wir sie nicht hemmen, ist da noch sehr viel Raum nach oben. Wenn es den Rittern wider die Ungleichheit nicht um die Beseitigung von Unterschieden ginge, sondern um die Beseitigung von Not und Armut, dann sollten sie sich dem Kapitalismus zuwenden …

Der schwedische Journalist Johan Norberg schrieb in seinem Buch „Verteidigung des Globalen Kapitalismus“:

„Genau genommen glaube ich weder an Kapitalismus noch an Globalisierung. Ich glaube eher an die Fähigkeit des Menschen, Großes zu erreichen, und an die Dynamik, die aus Begegnung und Austausch entsteht. Ich plädiere für mehr Freiheit und eine offenere Welt, weil so das Individuum und dessen Kreativität frei gesetzt werden. So wird die Dynamik in Gang gesetzt, die den menschlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritt hervorgebracht hat und auch weiter hervorbringen wird. Auf Kapitalismus zu vertrauen, bedeutet nicht, an Wachstum, Wirtschaft oder Effizienz zu glauben. So erstrebenswert sie sind – sie sind nur das Ergebnis des Kapitalismus. Auf den Kapitalismus zu vertrauen bedeutet vor allem, an die Menschheit zu glauben.“

Photo: Jasonparreira from Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG

Der Sozialstaat gilt vielen als unverzichtbare Errungenschaft moderner Staaten. Er soll Lebensrisiken wie Hunger, Krankheit und Armut absichern und jedem ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Diese Ziele sind ehrenhaft und nicht zu beanstanden. Der Sozialstaat (1) ist aber kein geeignetes Vehikel, sie dauerhaft zu erreichen. Er führt in den Ruin, entmündigt und verursacht unsoziales Verhalten. Im Ergebnis verschlimmert er die Zustände, die er bekämpfen will. Der Sozialstaat hat daher keine Zukunft. Die gute Nachricht ist: es gibt funktionierende und erprobte Alternativen. Sie dienen den aufstrebenden Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts als Beispiel, wie soziale Sicherung effektiv und ohne Zwang funktionieren kann.

I. Konstruktionsfehler des Sozialstaates

Der Sozialstaat weist mehrere Konstruktionsfehler auf. Die wesentliche funktionelle Unzulänglichkeit ist dabei die systematische Setzung von Fehlanreizen. Sowohl die Politik, als auch die Verwaltung, als auch die Leistungsempfänger sehen sich massiven Anreizen ausgesetzt, das System zum eigenen Vorteil auszunutzen. Der Sozialstaat unterliegt damit ebenfalls der Tragik der Allmende. Frei nach Frederic Bastiat ist der Sozialstaat die große Fiktion, nach der jedermann glaubt, auf Kosten von jedermann leben zu können. Aber das ist eben nur eine Fiktion.

1) Politische Fehlanreize

Der bedeutendste Fehlanreiz für die Politik ist der Stimmenkauf durch soziale Wohltaten. Anders ausgedrückt, die kurzfristige Bestechung der Wähler ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen: die Erhöhung des Kindergeldes, die Absenkung des Renteneintrittsalters, die Ausweitung von Krankenversicherungsleistungen, die Aufstockung der Sozialhilfe usw. Den bisher größten Wahlsieg in der Geschichte der CDU fuhr Konrad Adenauer im Jahre 1957 ein. Dies gelang ihm, weil er -entgegen ausdrücklicher Bedenken der Experten- ein reines Umlageverfahren für die Rentenversicherung durchsetzte und die durchschnittliche Rentenleistung dadurch signifikant anheben konnte. Und so ging das im Laufe der Jahre immer weiter, in Deutschland wie anderswo. Die sozialen Leistungskataloge wurden unter dem Beifall von Wählern und Medien beständig ausgedehnt und das Niveau der Leistungen angehoben. Politiker, die Leistungskürzungen befürworten, werden über kurz oder lang abgewählt.

Ein weiterer politischer Fehlanreiz ist die Ausweitung von Macht durch Erweiterung des Sozialstaates. Je mehr Sachverhalte dem Staat zugewiesen sind, je mehr Leistungsempfänger es gibt, desto mächtiger ist die Politik. Daher strebt diese danach, genau das zu erreichen, unabhängig von den Folgen. Dieser Anreiz lag bereits der Schaffung des Sozialstaats zugrunde. Der moderne Sozialstaat ist keine Errungenschaft der Sozialdemokratie. Er wurde vielmehr vom deutschen Reichskanzler Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts von oben eingeführt. Ziel war, die Machtposition der Gewerkschaften zu schwächen und die Bindung der Arbeiter an den Staat zu stärken. Anstelle der sozialen Selbsthilfe in Gewerkschaften und Gewerkvereinen trat eine paternalistische Zwangslösung. Bismarck sah in unabhängigen, besitzenden Arbeitern eine politische Gefahr (2). Entsprechend wurde der Sozialstaat immer weiter ausgedehnt. In Deutschland war die verpflichtende Krankenversicherung ursprünglich auf Arbeiter der unteren Einkommensschichten beschränkt, ist aber stetig ausgeweitet worden. 1927 kam eine Arbeitslosenversicherung dazu. 1995 wurde eine Pflegepflichtversicherung eingeführt. Seit 2009 sind endlich alle in Deutschland Lebenden verpflichtet, sich gegen Krankheit zu versichern. Auch Freiberufler müssen sich zwangsweise rentenversichern, Selbstständige dürften demnächst folgen. Ob die Betroffenen das auch möchten, interessiert nicht.

2) Bürokratische Fehlanreize

Der Fehlanreiz für die Verwaltung ist die Belohnung von Misserfolg. Mehr soziale Probleme, mehr Bedürftige bedeuten größere Budgets und mehr Mitarbeiter für die Sozialbürokratie. Da jede Bürokratie danach strebt, Macht und Einfluss auszubauen, besteht von dieser Seite ein stetiger Impuls, Probleme nicht zu lösen oder für erledigt zu erklären, sondern das Gegenteil zu tun. Steigen die Benzinpreise, wird nicht etwa eine Senkung der Mineralölsteuer erwogen, um „Armen“ wieder die Teilnahme am Straßenverkehr zu erleichtern. Stattdessen werden Beihilfen oder Benzingutscheine für Bedürftige vorgeschlagen, denn dies erfordert eine weitere Behörde und vergrößert die Macht von Verwaltung und Politik. Ein erheblicher Teil der sozialen Aufwendungen kommt gar nicht mehr den Bedürftigen zu gute. Er wandert direkt in die ständig wachsende Umverteilungsmaschine.

3) Leistungsbezogene Fehlanreize

Der Fehlanreiz für die Leistungsempfänger ist, die angebotenen Leistungen übermäßig und auch ohne Bedarf auszunutzen, da sie scheinbar umsonst sind. Der Sozialstaat bestraft Bescheidenheit und Zurückhaltung und belohnt Überkonsum sowie Unehrlichkeit. Denn es gilt mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes: jede Subvention lässt die Menge der subventionierten Güter wachsen. Der Grund hierfür liegt in dem jeden Menschen innewohnenden Drang, seinen Lebensstandard mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu steigern. Als die britische Kolonialherrschaft einer Kobraplage in Indien Herr werden wollte, wurde eine Rupie für jeden ausgelobt, der eine tote Kobra ablieferte. In der Folge wuchs die Kobrapopulation auf ein nie gekanntes Maß: Kobras wurden gezüchtet, nur um an die Prämie zu kommen. Eine entsprechende Erfahrung machte der englische Sozialstaat vor wenigen Jahren, als allen minderjährigen alleinerziehenden Müttern eine Wohnung auf Staatskosten zugesagt wurde. Auch hier explodierte die Zahl minderjähriger alleinerziehender Mütter. Wie man später herausfand, wollten zahlreiche 16- und 17-jährige unbedingt von zu Hause ausziehen. Die Sorge um die Bewältigung der Aufgabe Kindererziehung trat dabei offenbar in den Hintergrund. Vor einigen Jahren wurde Deutschland von einem flächendeckenden Lokführerstreik in Atem gehalten. Als wichtige Verhandlungen anstanden, war der Vorsitzende auf einmal verschwunden. Die Presse mutmaßte bereits über Machtkämpfe in der Gewerkschaftsführung, als bekannt wurde, dass der Chef lediglich eine ihm zustehende Kur angetreten hatte (3). Diese Kur war bereits mehrfach verschoben worden und wäre bei einer weiteren Verschiebung verfallen. Als Kind des Sozialstaates konnte er offenbar gar nicht anders, als im Moment höchster Bewährung die kämpfende Truppe zu verlassen. Wehe, der Anspruch wäre ungenutzt verfallen! Es geht also nicht darum, ob gute Absichten vorliegen oder nicht. Entscheidend ist das Resultat. Wenn dafür bezahlt wird, arm, arbeitsunfähig, krank oder alleinerziehend zu sein, so werden auch diese Zustände häufiger auftreten (4).

Ein weiterer Fehlanreiz des Sozialstaates besteht darin, privates Vorsorgedenken und Verantwortungsübernahme auszuschalten. Warum soll man auf den eigenen Gesundheitszustand achten, wenn Anspruch auf volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall besteht? Warum soll man Vorsorge für Lebensrisiken treffen oder Nahestehende dazu ermutigen? Jeder hat doch einen Rechtsanspruch auf „notwendigen Lebensunterhalt“. Dazu gehören heute Theater-, Kino-, Konzertbesuche, Telefon, Radio, TV und Internet-Anschluss sowie das Abonnement einer Zeitung. Zu diesen Regelsätzen kommen einmalige Beihilfen für besondere Anschaffungen, die komplette Übernahme der Miet- und Versicherungskosten und ein Weihnachtsgeld (5).

Daneben besteht der Anreiz, ständig neue Leistungen zu fordern. Entgegen landläufiger Annahme wird im Sozialstaat nicht vorwiegend von Reich zu Arm umgeschichtet. Stattdessen findet immerfort eine Umverteilung zwischen allen Einkommensgruppen statt, um bestimmten Gruppen Sondervorteile zu gewähren: etwa alleinerziehenden Müttern, Studenten, Theaterliebhabern, Betroffenen von Naturkatastrophen, usw. Da die Umverteilung nicht in eine bestimmte Richtung erfolgt, kann schwer eingeschätzt werden, wer unter dem Strich einen Netto-Vorteil hat und wer nicht. Hat eine organisierte Interessengruppe einmal gelernt, dass sie -im Namen sozialer Gerechtigkeit- nur lautstark genug eine Leistung fordern muss, wird sie dieses Verhalten wiederholen. Andere gesellschaftliche Gruppen ziehen nach, wohl wissend, dass sie andernfalls nur Zahlstellen für die Vergünstigungen der aktiveren Gruppen sind.

Die Problematik wird verschärft durch die Wanderungsbewegungen. Aufgrund der hohen Sozialabgaben wandern qualifizierte Einzahler ab, dafür wandern arbeitsunwillige Leistungsempfänger zu. Dem Autor sind persönlich einige Fälle von leitenden Angestellten bekannt, die aus Deutschland bzw. Österreich in die Schweiz ausgewandert sind. Beweggrund waren neben den Steuern die in der Schweiz immer noch niedrigeren Sozialabgaben. Umgekehrt hat ein asiatischer Zuwanderer einmal berichtet, dass es für ihn keinen Anreiz gebe zu arbeiten, denn als Familienvater würde er Anspruch auf Sozialhilfe in einer Höhe haben, die ein Ministergehalt (!) in seiner Heimat übersteige. Wer in einem Entwicklungsland täglich zehn Stunden harte Arbeit verrichtet und dafür 100 Dollar pro Monat nach Hause trägt, wird sich in der Tat überlegen, ob er sich nicht besser in Mitteleuropa niederlässt. Hier bekommt er faktisch 1.000 Dollar im Monat fürs Nichtstun, hervorragende Infrastruktur inklusive. Folgerichtig geht etwa in der Schweiz nur jeder siebte anerkannte, aufenthaltsberechtigte Asylant einer geregelten Arbeit nach (6). Tragischer Weise führt dieses Anreizsystem sogar dazu, dass in ihren Heimatländern produktive Leistungsträger dazu verführt werden, in Sozialstaaten auszuwandern um dort alimentierte Leistungsempfänger zu werden.

Sozialstaatsauswanderer wie -einwanderer handeln menschlich, indem sie eine Erhöhung ihres Lebensstandards anstreben. Sie nutzen dabei die Anreizsysteme, die ihnen angeboten werden. Im Ergebnis verliert der Sozialstaat Geber und bekommt dafür mehr Nehmer. Aus diesen Realitäten folgt auch, dass die Kombination aus offenen Grenzen und Sozialstaat nicht funktioniert beziehungsweise das sichere Rezept für ein Desaster ist.

II. Die Folgen: Überschuldung, Bevormundung und unsoziales Verhalten

1) Überschuldung

Der Sozialstaat ist Schuldenstaat, der die versprochenen Leistungen künftigen Generationen nicht mehr auszahlen kann. Aufgrund der aufgezeigten Anreizstruktur werden dem System immer mehr Einzahler entzogen bei gleichzeitigem Anwachsen der Zahl der Leistungsempfänger. Parallel steigen die Leistungsniveaus stetig an und die Sozialbürokratie bläht sich auf. Dadurch steigen nicht nur die Staatsausgaben ständig, sondern auch das mögliche Wirtschaftswachstum wird reduziert. Denn immer weniger Personen sind im produktiven Sektor tätig. Weniger Wirtschaftswachstum führt aber wiederum zu einer Erhöhung der Anzahl an Bedürftigen. Ein Teufelskreis ist in Gang gesetzt. Der Sozialstaat bekämpft immer verzweifelter die Probleme, die er selbst verursacht hat.

Das Umlageverfahren beschleunigt den Weg in den finanziellen Ruin. Die meisten „Sozialversicherungen“ beruhen auf dem Umlageverfahren (Rente, Krankheit, Arbeitslosigkeit), d.h. die eingezahlten Beträge werden sofort weiter verteilt an die Leistungsempfänger. Da Mittel schlicht umverteilt werden, wird nichts gespart, es wird nicht investiert und damit werden auch keine Erträge erwirtschaftet (7). Werden die Einzahler immer weniger, immer älter und bekommen immer weniger Kinder, hat das System ein ernstes Problem. Das enorme, konstruktionsbedingte Kostenwachstum der Sozialsysteme kann daher seit Jahrzehnten nur noch durch die ständige Ausweitung der Staatsverschuldung bestritten werden. Reformen des Sozialstaats sind entweder Kosmetik oder hinterlassen auf Sicht von 15-20 Jahren nur einen Knick in der stetig steigenden Ausgabenkurve. Die dem Sozialstaat zurechenbaren Ausgaben machen in Deutschland heute mehr als 50% des Staatshaushaltes aus. Von 1979 bis heute wuchsen die deutschen Staatsschulden von 64 Milliarden Euro auf 2000 Milliarden Euro! Rechnet man alle Pensions- und Sozialansprüche der Kommunen und Länder mit ein, kommt man gar auf 8000 Milliarden bzw. 8 Billionen (8). In anderen westlichen Sozialstaaten sieht es ähnlich aus.

Wenn die Zahl der Nehmer immer weiter wächst, die Zahl der Geber immer weiter sinkt, und dabei die Sozialbürokratie größer wird, ist der Ruin der Staats- und Sozialhaushalte aber nur noch eine Frage der Zeit. Auch fiskalische Tricks der Zentralbanken wie die Zinsmanipulationen nach unten oder der Aufkauf eigener Staatsanleihen können dieses Ergebnis nur verzögern, nicht verhindern.

2) Bevormundung

Der Sozialstaat ist Obrigkeitsstaat – der Staat ordnet an, was zu tun ist, der Bürger hat zu gehorchen. Egal, ob dieser die gleichmäßige Verteilung seiner Einkünfte auf alle Lebensphasen, wie die gesetzliche Rentenversicherung vorschreibt, gar nicht möchte. Egal, ob er eine Minimal-Krankenversicherung nur gegen Hochrisiken bevorzugen würde. Individuelle Lebensentwürfe sind im System immer weniger zugelassen. Daraus folgt eine zunehmende Gängelung, Bevormundung und damit Freiheitseinschränkung. Der Bürger wird sowohl gehindert, eigene Wege zu gehen, als auch eigene Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen. Der Weg in die Unmündigkeit ist vorgezeichnet. Und woraus ergibt sich eigentlich das Recht, friedliche Mitmenschen zu Mitgliedschaften zu zwingen, die sie nicht eingehen möchten? Weil irgendjemand glaubt besser zu wissen als der Betroffene, was gut für diesen ist? Was ist eigentlich aus dem Ideal des mündigen Bürgers geworden, der seine eigenen Angelegenheiten selbst wahrnehmen kann und soll?

3) Unsoziales Verhalten

Der Sozialstaat fördert unsoziales Verhalten. Wie gezeigt, bestehen massive Anreize, sich unehrlich und unanständig zu verhalten. An die Stelle von Eigenvorsorge tritt Abhängigkeit. An die Stelle von Verantwortungsübernahme tritt Unmündigkeit. An die Stelle der Nächstenliebe tritt das Bestreben, das Maximum herausholen. An die Stelle des Verlangens nach Bewährung tritt die Suche nach unverdientem Einkommen. An die Stelle von Dankbarkeit tritt aggressives Anspruchsdenken.

Die im Sozialstaat allgegenwärtige Forderung gesellschaftlicher Gruppen nach Umverteilung steht darüber hinaus der Aufforderung zu einer Straftat gleich. Denn Umverteilung ist nur möglich, indem man Menschen die Früchte ihrer Arbeit wegnimmt. Die Folge sind nie endende Verteilungskämpfe, sozialer Unfriede und Neid. Es gibt keinen allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, der zwei Menschen erlaubt, einen Dritten zu enteignen. Auch persönliches Pech oder Unvermögen begründen nicht das Privileg, andere auszubeuten.

Verteidiger des Sozialstaats werden einwenden, dass „Solidarität“ und „soziale Gerechtigkeit“ anders nicht hergestellt werden könnten. Aber unter Androhung von Gewalt erzwungene Solidarität ist keine. „Soziale Gerechtigkeit“ ist ein undefinierbarer Kampfbegriff und hängt stets vom Standpunkt des Betrachters ab. Was qualifiziert einen Menschen, auf Kosten eines anderen zu leben und wer ist der Richter, der darüber befindet? Mit welchem Recht entscheiden A und B darüber, was C an D zu zahlen hat?

Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei: Ein wie auch immer legitimiertes System, welches per Gesetz Enteignungen zugunsten Dritter vorsieht (in Form von Steuererhebungen und Sozialabgaben), kann auf Dauer weder ein friedliches, noch ein berechenbares Miteinander schaffen. Es zerstört die Grundlagen und Resultate freiwilliger Kooperation durch staatliche Macht. Es vernichtet dadurch das, was eine Gesellschaft erfolgreich und attraktiv macht.

III. Alternativen zum Sozialstaat

Glücklicherweise gibt es funktionierende und erprobte Alternativen zum Sozialstaat. Und damit ist nicht die Verteilung von Almosen durch reiche Gönner gemeint.

1) Kollektive Selbsthilfeeinrichtungen

Während des 19. und bis ins frühe 20. Jahrhundert waren die meisten Familie stolz darauf, sich selbst unterhalten zu können. Aber wenn der Hauptverdiener krank wurde oder starb, geriet die Familie in schwere Not. Die Antwort der Menschen, also des Marktes, auf diese harte Realität war die Schaffung kollektiver Selbsthilfeeinrichtungen. In England waren das die „Friendly Societies“, in den USA die „Fraternal Societies“, in Deutschland die Gewerkvereine und Genossenschaften. Ihnen war gemeinsam, dass die Führer dieser Vereinigungen der paternalistische Wohlfahrt (Charity) sehr kritisch gegenüber standen. Sie betrachteten es als Bestandteil ihrer Würde, nicht von solchen Almosen abhängig zu sein, sondern sich untereinander selbst helfen zu können. Ziel war, die Arbeiter zu emanzipieren, anstelle sie in Abhängigkeit von Staat oder Kirche zu bringen.

Diese selbstverwalteten Gesellschaften waren von vielfältiger Erscheinung, funktionierten aber mehr oder weniger nach dem gleichen Muster: Wer regelmäßige Beiträge in einen gemeinsamen Fonds leistete oder Hilfeleistung für andere in Naturalien erbrachte, war berechtigt, im Notfall entsprechende Leistungen zu beziehen. So konnten Unterstützungen bei Bewerbungsreisen, Umzügen, Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, außergewöhnliche Notfällen und bei Sterbefällen gewährt werden. Die Unterstützungsleistungen waren stets nur als äußerste Nothilfe konzipiert. Jeder Missbrauch wurde aufmerksam verfolgt und in der Regel mit dem Ausschluss geahndet. Darin unterschieden sich übrigens diese Gesellschaften nicht von ihren Kollegen der sozialistischen Gewerkschaften, welche vergleichbare Hilfskassen eingerichtet hatten.

In Deutschland sind vor allem die vom liberalen Amtsrichter Hermann Schulze aus Delitzsch initiierten Gewerkvereine und Genossenschaften zu nennen. Schulze-Delitzsch lehnte staatliche und andere „Hilfe von außen“ ab, weil sie unselbstständig und abhängig mache. Es sei eine deutsche Unsitte, immer nach dem Staat zu rufen, anstatt an Selbsthilfe zu denken. Sein Ansatz war, aus der Vereinigung vieler kleiner Kräfte eine so genannte Großkraft zu schaffen, wenn die persönliche Kraft eines Einzelnen nicht ausreicht. Denn die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft kann man nach seiner Auffassung nicht überwinden, darum muss man sich ihrer zum eigenen Vorteil bedienen. Er konzipierte unter anderem Vorschuss-, Kredit- und Darlehensvereine, Volksbanken, Rohstoff- und Konsumgenossenschaften, Krankenkosten-, Gesundheitspflege- und Magazinvereine (9). Volksbanken und Konsumgenossenschaften haben bis heute überlebt. Es ist bemerkenswert, dass Schulze-Delitzsch in den Diskussionen des 19. Jahrhunderts bereits nahezu sämtliche Probleme voraussah, die den heutigen Sozialstaat plagen (10). Er erkannte unter anderem:

Alle Hilfe jenseits der Gegenseitigkeit ist nur Almosen. Und Almosen demoralisiert, nimmt alle Selbstachtung, jeden Ansporn zu tüchtigem Tun, stumpft Intelligenz und Tatkraft, lähmt das Vertrauen auf sich selbst und überliefert der Trägheit und dem Leichtsinn. Nimmt man den Menschen die Sorge um die Existenz, so nimmt man ihm zugleich die beste Freude, die Freude am eigenen Schaffen und an dessen Früchten.

Die amerikanischen Fraternal Societies umfassten zu ihren Hochzeiten um 1920 etwa 18 Millionen Amerikaner, das waren damals etwa 30 % aller männlichen Erwachsenen. Wie sah die Wirklichkeit der Menschen im Rentenalter damals aus? Einer 1930 durchgeführten Erhebung des Staates New York zufolge waren 43 % der Alten aufgrund eigener Tätigkeiten, Ersparnisse oder Rentenansprüche (Versicherungen, Fraternal Societies) versorgt, während Familie und Freunde weitere 50 % unterstützten. Weniger als 4 % der Alten waren demnach abhängig von öffentlicher oder privater Fürsorge. Zeitgenössische Erhebungen berichten, dass die Kombination aus Eigenverantwortung, familiärer Unterstützung und kollektiven Selbsthilfeeinrichtungen auch in sehr armen Wohngegenden verantwortliches Verhalten nach sich zog. Besonders populär waren die Fraternal Societies bei der schwarzen Bevölkerung der USA, die häufig im Niedriglohnbereich arbeitete. Sie hielten hergebrachte kulturelle und zivilisatorische Standards aufrecht, übernahmen Verantwortung für ihre eigenes Leben, zeigten Stolz, Unabhängigkeit und Stärke. Für junge Schwarze war es in den 1920er Jahren, im Gegensatz zu heute, ebenso wahrscheinlich wie für Weiße, in Familien mit zwei Elternteilen aufzuwachsen (11). Auch das spricht dafür, dass der Sozialstaat die Übel, die er zu bekämpfen vorgibt, selbst verursacht hat.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren auch die britischen Friendly Societies feste Bestandteile der Gesellschaft. Als die britische Regierung im Jahre 1911, dem Bismarck’schen Beispiel folgend, eine verpflichtende Sozialversicherung für 12 Millionen Menschen einführte, waren knapp 7 Millionen Mitglieder bereits in etwa 27.000 Friendly Societies versichert (mit stark steigender Tendenz) , weitere 2 Millionen waren in unregistrierten Vereinen auf Gegenseitigkeit organisiert. Im Augenblick ihres größten Erfolges wurden diese auf freiwilligem Zusammenschluss beruhenden Gesellschaften also vom Staat durch seine Zwangsversicherung verdrängt (12). Für die entsprechenden deutschen und amerikanischen Gesellschaften gilt im Prinzip dasselbe. Im Umkehrschluss gilt: wird der Sozialstaat abgeschafft, leben kollektive Selbsthilfeeinrichtungen wieder auf.

2) Private Versicherungen

Neben der Mitgliedschaft in kollektiven Selbsthilfeeinrichtungen, die praktisch Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind, besteht die Möglichkeit, sich über kommerzielle Versicherungen zu versichern. Das betrifft insbesondere Renten- und Krankenversicherung. Private Unternehmen können immer effizienter und effektiver arbeiten als Staatsbetriebe. Nicht weil sie klüger oder geschickter wären. Sie haben einfach die besseren Anreize: nach oben hin den Gewinn und nach unten hin das Risiko des Verschwindens. Im Ergebnis werden private Anbieter wesentlich mehr für dasselbe Geld leisten, sei es in der Altersversorgung, im Gesundheits- oder dem Bildungssystem. Auch die Schweiz hat diese Erfahrung machen müssen. Erst 1996 wurde ein Krankenversicherungszwang eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt waren aber bereits 97% aller Schweizer freiwillig privat krankenversichert! Die gesetzlichen Vorgaben und Privilegien des neuen Zwangsversicherungsregimes setzen dieselben Fehlanreize, die an anderer Stelle bereits erörtert wurden. Die logische Folge: seither haben sich die Gesundheitskosten knapp verdoppelt und sind dreimal schneller gewachsen als die realen Einkommen (13).

Woanders wurde der umgekehrte Weg beschritten: Chile hat trotz alternder Bevölkerung bereits 1980 geschafft, was in Europa vielerorts als unmöglich gilt. Die Rede ist vom Wechsel der gesetzlichen Rentenversicherung vom Umlagesystem zum Kapitaldeckungsverfahren. Finanziert wurde der Übergang durch Steuern und (vorübergehende) Schuldenaufnahme. Es besteht nur noch eine einzige Verpflichtung, nämlich 10% des Bruttoeinkommens auf ein Rentensparkonto einzuzahlen. Wer möchte, kann freiwillig mehr bezahlen. Dafür gibt es zertifizierte private Rentenversicherungsanbieter, welche die entsprechenden Gelder anlegen und unter denen die Einzahler frei wählen können. Das Rentensparkonto ist das persönliche Eigentum des Arbeitnehmers. Ist die Altersrente von 65 Jahren erreicht, kann der Berechtigte seine Leistungen abrufen, aber auf Wunsch daneben trotzdem weiterarbeiten und zusätzlich verdienen. Umgekehrt kann altersunabhängig jeder, der Ansprüche angespart hat, die eine Rente in Höhe von mindestens 50% des Durchschnittseinkommens der letzten 10 Jahre ermöglichen, in den Ruhestand gehen. Nach 30 Jahren lautet das Fazit: Die Leistungen des neuen Systems liegen heute bereits um 50-100% über denen des alten Systems. Durchschnittlich werden Rentenquoten von ca. 80% des Durchschnittseinkommens der letzten zehn Jahre erreicht. Die Wachstumsrate der chilenischen Wirtschaft hatte sich aufgrund des dadurch neu gewonnenen Anlagekapitals über einen langen Zeitraum nahezu verdoppelt. Die Arbeitnehmer haben ein direktes Interesse an der Wirtschaft entwickelt, sind sie jetzt doch Anteilseigner der größten chilenischen Unternehmen. Demografische Probleme sind irrelevant (14).

Das von Chile etablierte System ist zwar immer noch eines, das tendenziell vom unmündigen Bürger ausgeht, der zu dumm ist, für sich selbst vorzusorgen und daher gezwungen werden muss. Es ist aber bereits ein Mischsystem, das weit überwiegend private Anteile und marktkonforme Anreize hat: etwa die Entscheidungsfreiheit zwischen mehreren Anbietern, die Selbstvorsorge und Übernahme von Eigenverantwortung. Die Illusion der Gratisleistung wird vermieden. Mehrere Staaten haben das chilenische Modell bereits übernommen, u.a. Australien. Derartige Systeme weisen den Weg ins 21. Jahrhundert. Sie zeigen überdies, dass der europäische Sozialstaat seinen Zenit als weltweit leuchtendes Ideal überschritten hat.

3) Familie, Freunde und Bekannte

Schließlich bleibt die älteste Form der Hilfe für die Schwachen: die Unterstützung durch Familie, Freunde und Bekannte. Ein guter Bekannter des Autors, ein Anhänger des Sozialstaates, gab sein eigenes Beispiel zu bedenken. Er habe vor einem halben Jahr überraschend die Diagnose Gehirntumor erhalten und eine sehr teure –zum Glück erfolgreiche- Operation war die Folge. Ohne Sozialstaat, so seine Auffassung, wäre diese Operation nicht möglich gewesen. Aber stimmt das? Nehmen wir an, ein Sozialstaat sei nicht existent und der Betroffene habe weder eine private Krankenversicherung noch wäre Mitglied einer kollektiven Selbsthilfeeinrichtung. Was wäre dann geschehen? Zunächst einmal hätte seine Familie versucht, das Geld für diese Operation zusammen zu bringen. Wäre das nicht gelungen, dann hätte sich die Familie an nahestehende Freunde gewandt mit der Bitte zu helfen. Diese hätten die Angelegenheit voraussichtlich im weiteren Bekanntenkreis publik gemacht und um Unterstützung gebeten. Es wäre also eine Anteilnahme einer relativ großen Gruppe von Menschen am Schicksal des Bekannten erfolgt. In Wirklichkeit hat kaum jemand davon erfahren. In echten existenzbedrohenden Situationen stehen Verwandte und Freunde zusammen, gerade weil sie sich und den Betroffenen kennen. Eine soziale Kontrolle zur Verhinderung von Missbrauch ist möglich und wirksam. Aber entscheidend an dem Beispiel ist, dass der gesamte Vorgang der Anteilnahme, der Suche nach Unterstützung und die echte, weil freiwillige Solidarität tatsächlich nicht stattgefunden haben. Und das liegt am Sozialstaat.

4) Karitative Einrichtungen

Nun gibt es unbestritten Fälle, in denen Familie oder Freundeskreis die notwendige Hilfe aus finanziellen Gründen nicht aufbringen können. Lediglich für solche Fälle, in denen daneben auch keine Versicherung oder Selbsthilfeeinrichtung eintritt, kommt eine mildtätige oder karikative Zuwendung in Frage. Das schließt etwa familien- und mittellose Alte, Schwerbehinderte oder chronisch Kranke mit sehr teuren Behandlungen ein, für die sich keine bezahlbare Versicherung finden lässt. Daten hierzu zeigen, wie auch das obige Beispiel aus dem Staat New York, dass die Gruppe dieser Personen in entwickelten Ländern in der Regel nicht mehr als 5 %, der Bevölkerung beträgt. Angesichts der Unsummen, die bereits heute im Bereich freiwilliger Wohltätigkeit (Charity) aufgewendet werden, scheint es schwer vorstellbar, dass hierzu nicht genügend Mittel aufgebracht werden können. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass in einem solchen Szenario die exorbitanten Ausgaben für den Sozialstaat wegfallen würde, also jeder Beschäftigte erheblich höhere Netto-Einkünfte hätte.

5) Staatliche Mindestsicherung

Die beschriebenen Unterstützungsmöglichkeiten über

– Kollektive Selbsthilfeeinrichtungen
– Private Versicherungen
– Familie und Freundeskreis
– Karikative Einrichtungen

sollten mithin ausreichend sein, um sämtliche Fälle von echter Bedürftigkeit in einer Gesellschaft aufzufangen. Doch möglicherweise bedarf es darüber hinaus noch einer Art Rückversicherung, um ruhiger schlafen zu können. Insofern könnte ergänzend eine (steuerfinanzierte) staatliche Mindestsicherung von Leib und Leben sozusagen als Überlebensgarantie erfolgen. Voraussetzung wäre der Nachweis der Bedürftigkeit und Nichtbestehen bzw. Nichtleistung der anderen Sicherungssysteme. Prüfung und Leistung erfolgen ausschließlich auf kommunaler Ebene! Denn nur in der noch überschaubaren Struktur einer Gemeinde/eines Stadtviertels kann eine soziale Kontrolle dergestalt stattfinden, dass Missbrauch vermieden oder doch weitgehend eingedämmt wird.

IV. Die Folgen: Aufschwung und stabile soziale Verhältnisse

Im Ergebnis ist das aufgezeigte mehrstufige Modell wesentlich sozialer als heutige Sozialstaaten. Denn es mobilisiert das Beste im Menschen. Dazu gehört die Übernahme von Verantwortung für sich und andere, echte Anteilnahme, die Stärkung von Familie und kleinen Gemeinschaften, Ideen- und Erfindungsreichtum zur Überwindung von Schwierigkeiten, freiwillige Solidarität und im Gegenzug Dankbarkeit sowie nicht zuletzt Stolz und Zufriedenheit, sein Leben aus eigener Kraft zu meistern.

Es ist weiter geeignet, Mündigkeit und Selbstständigkeit zu fördern. Denn es trägt zum Verstehen wichtiger Prinzipien bei. Da ist zum einen das bereits angesprochene Prinzip do ut des, also die Erkenntnis, dass Leistung auf Gegenleistung beruht. Ferner die Goldene Regel: Behandle Andere so, wie Du selbst behandelt werden möchtest und schließlich das Nichtaggressionsprinzip, also der Vorrang von freiwilliger Kooperation gegenüber Zwang und Enteignung. Ständige Verteilungskämpfe und das Aufwiegeln gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander gehören der Vergangenheit an. Durch die Bildung von echten Kapitalrücklagen steigt die Investitionsquote. Weniger Kosten fallen an, bei gleichzeitig besserer sozialer Sicherung. Wirtschaftlicher Aufschwung und gesellschaftliche Stabilität sind die Folge.

V. Der Weg dorthin

Wie aber gelangt man zu einer neuen Sozialordnung angesichts der politischen Attraktivität und den Beharrungskräften des bestehenden Systems? Im 21. Jahrhundert wird die Welt neu zusammengesetzt. Bisher konnte sich jede Regierung darauf verlassen, dass ein Großteil ihrer produktiven Bürger immer im Lande blieb, auch wenn einzelne abwanderten. Das wird sich ändern, weil die Menschen rein technisch viel mobiler geworden sind und die Bindung an einen festen Ort, ein Land oder eine Region aus vielerlei Gründen schwächer geworden ist. Die Heimat der Zukunft wird Wahlheimat sein. Das hat Auswirkungen auf die Zukunft des Sozialstaates. Dessen Einwohner haben heute schon im Supermarkt unter unzähligen Produkten die Wahl, können zwischen verschiedensten Versicherungen für alle Lebensbereiche wählen und erhalten ständig neue technische Produkte angeboten. Warum sollten sie sich im Bereich sozialer Absicherung für eine Zwangslösung entscheiden, die teuer ist und schlecht funktioniert? Diese Diskrepanz zwischen staatlicher Bevormundung einerseits und täglicher Wahlfreiheit andererseits kann derzeit noch mit viel Propaganda und Sozialgetöse verschleiert werden. Das wird aber nicht auf ewig gehen. Die zunehmende Vernetzung der Welt sorgt dafür, dass sich neue Erkenntnisse schneller verbreiten als früher. Dazu gehört die Kunde von der Untauglichkeit des Sozialstaats und des Bestehens von Alternativen. Verweigert der Staat diese, wird ausgewandert. Die zunehmende Abwanderung erhöht dann wiederum den Druck im Inland, etwas zu ändern. Das Ende des über 100 Jahre alten Irrweges Sozialstaat könnte also schneller kommen, als man sich heute vorstellen mag.

Am leichtesten werden neue Modelle freilich in Staaten entstehen können, die sich gerade erst in Richtung einer vollindustrialisierten Gesellschaft entwickeln. Sie können beobachten, vergleichen und sich schließlich für ein System entscheiden. Denn einflussreiche, organisierte Interessengruppen, die vom Sozialstaat profitieren, sind bei Ihnen noch nicht entstanden. Aber auch in etablierten Sozialstaaten gibt es die Möglichkeit, in abgrenzbaren Verwaltungseinheiten oder für eine Gruppe von Freiwilligen neue Modelle zum Versuch zuzulassen. So könnte der „Wettbewerb der Sozialsysteme“ als Entdeckungsverfahren genutzt werden. Weil hier der Versuchscharakter im Vordergrund steht, dürfte die Zustimmung leichter erreichbar sein als bei einer Totalreform. Man stelle sich etwa vor, ein kleiner Schweizer Kanton votierte für den Ausstieg aus dem Schweizer Sozialstaat und für die Einführung des aufgezeigten fünfstufigen Sicherungssystems nach einer bestimmten Übergangszeit. Die Bevölkerung der Restschweiz würde dies billigen, weil sie sich die Auswirkungen der Alternativlösung anschauen möchte. Es wäre beim Vorliegen entsprechender Mehrheiten schwierig für die Politik, dies gänzlich zu unterbinden, selbst in Staaten, die keine direkte Demokratie kennen. Auf die Einrichtung derartiger Versuchszonen hinzuarbeiten, ist möglicherweise einfacher, als sich in das politische Tagesgeschäft zu stürzen und eine umfassende Sozialstaatsreform anzustreben. Das Bestehende zu bekämpfen, ist schwer, langwierig und oft wenig erfolgreich. Lohnender erscheint, etwas Neues zu schaffen, welches das Alte unattraktiv und überflüssig macht.

Dieser Artikel erschien erstmals beim Deutschen Arbeitgeber Verband (Teil 1 und Teil 2).


(1) Unter Sozialstaat sei verstanden ein Mitglieds- und Beitragszwang für die Bereiche Rente, Gesundheit und Arbeitslosigkeit bzw. deren Bezuschussung über Steuermittel. Daneben erfolgt eine Umverteilung durch eine steuerfinanzierte Grundversorgung für Bedürftige (Sozialhilfe), sowie nicht rückzahlbare Beihilfen und Zuschüsse für diverse Sachverhalte. Hinzu treten mannigfaltige Vorschriften zugunsten bestimmter Gruppen, insbesondere im Arbeitsrecht.

(2) Gerd Habermann, Der Wohlfahrtsstaat – Ende einer Illusion, Finanzbuchverlag, München 2013, 182

(3) Die Welt vom 18.10.2007, Heute Lokführerstreik – und der Gewerkschaftschef fährt zur Kur

(4) Christian Hoffmann, Scheitern anerkennen – Alternativen erkunden, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 7-17; 9.

(5) In Deutschland, Habermann, 226.

(6) Weltwoche 51/52, 2014, Sozialstaat einfach.

(7) Hoffmann, 7.

(8) Michael von Prollius, Siamesische Zwillinge: Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftskrisen, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 57-77; 65.

(9) Habermann, 156f.

(10) Habermann, 158-161

(11) David Beito, Mutual Aid for Social Welfare: The Case of American Fraternal Societies, in: Tom Palmer (Hrsg.), After the Welfare State, Jameson Books, Ottawa 2012, 67-88.

(12) David Green, The Evolution of Mutual Aid, in: Tom Palmer (Hrsg.), After the Welfare State, Jameson Books, Ottawa 2012, 55-65.

(13) Pierre Bessard, Der lange Irrweg zum Schweizer Sozialstaat, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 37-53; 49.

(14) José Pinera, Private Altersvorsorge in einer alternden Gesellschaft – Das chilenische Modell des Rentensparens, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 143-164.

Photo: leo gonzales from Flickr (CC BY 2.0)

Sie packen an. Sie arbeiten zusammen. Sie schaffen ein Umfeld, in dem sich Menschen zusammentun, um Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. Die Bürgerplattformen sind die funktionierenden Alternativen zu politischen und bürokratischen Lösungsversuchen.

Ein Korrektiv zur Politik

Am Montagabend trafen sich etwa 650 Berliner auf dem Gelände der Rütli-Schule in Neukölln mit dem Regierenden Bürgermeister. Anders als das bei solchen glamourösen Veranstaltungen sonst oft der Fall ist, war das Event freilich nicht dazu da, um dem Bürgermeister eine Bühne zu bieten, sondern vor allem, um ihn zum Zuhören zu bringen. Den größten Teil des Abends über stellten sich die Bürgerplattformen der Berliner Stadtteile Treptow-Köpenick, Neukölln und Wedding-Moabit vor. Erst in der letzten Viertelstunde durfte der „Landesvater“ drei Fragen beantworten.

Diese Herangehensweise passt zu dem Format der Bürgerplattformen, die weder Ansammlungen von Wutbürgern sind noch von langweiligen, kritiklosen Claqueuren. Sie sehen sich als Korrektiv zur Politik. Es passt, dass sie über ihre finanziellen Ressourcen folgendermaßen Auskunft geben: „Um als gleichberechtigter Partner in der Auseinandersetzung mit Politik und Verwaltung auftreten zu können, legen wir großen Wert auf Selbstständigkeit im Handeln und eine finanzielle Unabhängigkeit von staatlicher Förderung.“ Die Organisationen finanzieren sich allein durch Mitgliedsbeiträge und Spenden.

Konkrete Probleme lösen

80 zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die insgesamt etwa 100.000 Menschen in Berlin erreichen, haben sich in den drei Netzwerken zusammengeschlossen. Begonnen hat das dieses „community organizing“ in den 60er Jahren in den USA. Also in einer Zeit, in der die Frage der Rassentrennung, der Vietnamkrieg und allgemeine soziale Unruhen zu massiven Verwerfungen führten. Politiker waren in vielen Städten wie Chicago oder New York entweder tief korrupt oder buchstäblich nicht mehr imstande, ihren Aufgaben nachzukommen.

Einer der großen Vordenker des Konzepts war Saul Alinsky, eine höchst streitbare Persönlichkeit, der die dramatischen Zustände in den amerikanischen Großstädten und Problemzonen nicht mehr hinnehmen wollte. Alinsky lässt sich politisch kaum einordnen – Marxisten haben ihn ebenso zu vereinnahmen versucht wie auch jüngst die Tea Party. Er selbst sagte einmal im Interview mit dem Playboy: „Ich konnte niemals ein starres Dogma oder eine Ideologie akzeptieren, weder Christentum noch Marxismus. … Wenn Du denkst, Du habest einen direkten Draht zur absoluten Wahrheit, dann wirst Du doktrinär, humorlos und intellektuell verstopft.“ Ihm ging es nicht darum, eine bestimmte Heilslehre zu verwirklichen, sondern darum, konkrete Probleme zu lösen.

Verantwortung übernehmen

Alinsky ging es um Veränderung und Verbesserung. Er rief nicht nach der nächsten Lösung durch den politischen Apparat. Er versteckte sich nicht hinter hohlen Phrasen. Sondern er packte an und brachte zivilgesellschaftliche Gruppen an einen Tisch. Ein wichtiges Element seiner Arbeit war die Kontrolle der Politik durch engagierte Bürger – ein dringend notwendiges Element der Machtbeschränkung in dem immer verfilzter werdenden System seiner Zeit. Noch wichtiger aber und noch nachhaltiger war die Idee, dass Bürger selber Lösungen finden und an ihrer Verwirklichung mitarbeiten können.

Um einen Spielplatz wieder benutzbar zu machen, um Transportmöglichkeiten für die Alten im Stadtviertel zu schaffen, um den Bürgersteig zu reparieren, sogar um Schulen zu gründen – für all das braucht man zunächst weder Behörden noch Politiker. All das kann man auch selber machen – und oft viel effizienter. Das ist der eigentlich bemerkenswerte Kerngedanke des „community organizing“: Den Menschen die Augen dafür zu öffnen, dass sie selber Verantwortung übernehmen können. „Verantwortung übernehmen“ war dann auch die Formulierung, die bei dem Treffen der Bürgerplattformen am häufigsten fiel.

Hier wachsen positive Mentalitäten heran

Bei den Bürgerplattformen treffen unterschiedlichste Menschen aus verschiedensten Milieus aufeinander und ergänzen sich bei der gemeinsamen Aufgabe, Probleme zu lösen. Da ist der Küchenmeister aus dem Berliner Südosten, der zu DDR-Zeiten den offenen Konflikt mit den Herrschenden nicht gescheut hat. Neben ihm steht ein 15jähriger Schülersprecher, der eindrucksvoll sein Wort zu machen versteht. Da ist die Frau aus dem anatolischen Dorf, Mutter von sechs Kindern, die mit kräftiger Stimme ruft: „Ich wollte weiterkommen! Darum habe ich mich gebildet, habe über Physik und Chemie und über Geschichte gelernt – und bin nach Deutschland gekommen. Viele Leute aus meinem Dorf haben es mir nachgemacht, weil auch sie etwas erreichen wollten.“ Und daneben steht der bürgerliche Familienvater, der sich in seiner katholischen Gemeinde engagiert. Sprachschulen für indonesische Studenten, muslimische Pfadfindergruppen, das Projekt der Weddinger Bürgerschule – all dies entsteht aus der Mitte der Bürgerplattformen.

Was all diese Menschen eint, ist der Wille, Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen weiterkommen und etwas erreichen: für sich, für ihre Familien, für ihre Nachbarn. Dieser Impuls ist ja in der Tat der Motor für echte Veränderung. Für Veränderung, die nicht von oben verordnet und organisiert ist, sondern die von den Menschen selbst gestaltet wird. Man kann nur hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht und viele Nachahmer findet. Nicht nur, weil diese selbstverantwortliche Organisation Probleme effizienter und informierter löst. Sondern insbesondere auch, weil das Übernehmen von Verantwortung Menschen glücklicher macht. Wenn sie etwas erreicht haben, ist es ihr Spielplatz, ihre Kleiderkammer, ihre Schule. Und dieser verdiente Stolz wird sie prägen – sie und die nachwachsenden Generationen. Hier wachsen positive Mentalitäten heran und entstehen veritable Freiheitsinseln!