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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Die sogenannte Bürgerversicherung ist seit der Bundestagswahl 2017 wieder ein großes Thema in der Sozialpolitik. Doch anstatt zu versuchen, mehr Umverteilung in das Versicheurngssystem einzubauen, sollte man auf risikobasiertes Pricing setzen. Dadurch können Wettbewerb und Effizienz der Krankenkassen gesteigert werden. Sozial schwachen Haushalten könnte mit steuerlicher Umverteilung der Beitrag bezuschusst werden. Die Koalitionsverhandlungen von Union und SPD Anfang des Jahres haben das Thema Krankenkassen wieder auf die Agenda gebracht. Befürworter einer Bürgerversicherung wünschen sich unter anderen mehr Umverteilung im Rahmen der dann für alle verpflichtenden gesetzlichen Krankenversicherungen. Doch als Umverteilungsinstrumente sind die gesetzlichen Krankenkassen nicht attraktiv. Das Steuer- und Sozialsystem ist für diese Aufgabe deutlich besser geeignet. Deshalb sollten die Prämien der gesetzlichen Krankenkassen – wie im Fall der privaten Krankenkassen – auf individuellen Krankheitsrisiken basieren und nicht auf der Höhe der Arbeitseinkommen ihrer Versicherten.

Krankenkassen: Unattraktiv als Umverteilungsvehikel

Derzeit steigen die Beiträge von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherungen bis zur Beitragsbemessungsgrenze proportional mit dem Lohneinkommen. Dadurch wird auf Grundlage der Arbeitseinkommen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherungen umverteilt – schon heute. Eine Bürgerversicherung, die für alle verpflichtend wäre und möglicherweise keine Beitragsbemessungsgrenze aufwiese, würde zu mehr Umverteilung dieser Art durch die gesetzlichen Krankenversicherungen führen.

 

Die durch die gesetzlichen Krankenversicherungen herbeigeführte Umverteilung hat jedoch einen entscheidenden Nachteil. Die vom Arbeitseinkommen abhängige Berechnung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung bemisst die finanzielle Leistungsfähigkeit der Versicherten nicht treffsicher. So wird zum Beispiel Einkommen aus Vermögen nicht erfasst.

Das Gesamteinkommen zur Beitragsbemessungsgrundlage zu machen, wie es in manchen Bürgerversicherungsmodellen vorgeschlagen wird, ist keine attraktive Alternative. Denn die innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen herbeigeführte Umverteilung könnte im besten Fall die durch das Steuer- und Sozialsystem mögliche Umverteilung replizieren. Dies wäre der Fall, wenn die Krankenkassen die gleichen Informationen über die finanzielle Situation der Versicherten hätten wie die Finanz- und Sozialämter. Allerdings entstünden erhebliche Verwaltungskosten, wenn die gesetzlichen Krankenkassen neben ihrem Haupttätigkeitsfeld Aufgaben der Finanz- und Sozialämter übernehmen würden.

Krankenkassen sollten sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren: Versicherung von Gesundheitsrisiken. Dafür sind Krankenkassen Experten, nicht für Umverteilung.

Fragwürdiger Einsatz von Beitragsmitteln

Die lohnabhängigen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung bringen weitere unerwünschte Effekte mit sich. Die Versicherungen wenden Ressourcen auf, um möglichst junge, gutverdienende Versicherte zu gewinnen. Sie verursachen nur wenig Kosten und sorgen durch die lohnabhängigen Beiträge für sprudelnde Einnahmen. Krankenkassen werben um die junge gesunde Klientel, indem sie beispielsweise für gesunde Versicherte besonders attraktive Zusatzleistungen wie kostenlose Bonus- oder Fitnessprogramme anbieten.

Dagegen versuchen gesetzliche Krankenkassen, obwohl sie keine Versicherten ablehnen dürfen, Menschen mit hohen Krankheitsrisiken abzuschrecken. So berichtete das Bundesversicherungsamt im Jahre 2012, dass einige Krankenkassen ihren Vertriebsmitarbeitern keine Prämien für die Werbung einkommensschwacher oder kranker Versicherten zahlten.

Krankenkassen haben nicht nur ein Interesse, die Aufnahme teurer Versicherter zu verhindern. Das Bundesversicherungsamt berichtete weiter, dass einige Krankenkassen versucht haben sollen, behinderte und chronisch kranke Versicherte per Telefon zur Kündigung zu bewegen.

Sisyphusarbeit Gesundheitsfonds

Diese Probleme hat die Politik erkannt und versucht solchen Anreizen zu begegnen, indem der 2009 eingeführte und vom Bund finanziell bezuschusste Gesundheitsfonds für kränkere Versicherte mehr an die Krankenkassen zahlt als für gesunde. Leider führte dies zu unerwünschten Reaktionen seitens der Versicherer. Sie neigen dazu, ihre relativ gesunden Versicherten auf dem Papier möglichst krank erscheinen zu lassen. Einige Krankenkassen trafen Vereinbarungen mit der Ärzteschaft, die dazu führten, dass Ärzte finanziell davon profitierten, wenn sie ihre Patienten kränker aussehen ließen als sie waren.

Die Idee des Gesundheitsfonds, Krankenkassen einen finanziellen Anreiz zu geben, auch überdurchschnittlich Kranke aufzunehmen, ist nicht per se schlecht. Permanent werden der Gesundheitsfonds und die Auszahlungsregeln nachgebessert. Dies ist löblich, doch es ist schwierig, das notwenige Wissen zu erlangen, wie die unterschiedlichen Risiken am besten erfasst und vergütet werden. Allerdings gibt es eine Alternative, die das leisten kann: Risikoäquivalente Versicherungsprämien.

Dezentrales Wissen der Versicherten und Versicherungen nutzen

Risikoäquivalente Versicherungsprämien ergeben sich aus dem Wettbewerb verschiedener Anbieter für Versicherungsleistungen. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass Politiker und Regulierer in den Ministerien sowie Verbänden die optimale Struktur des Gesundheitsfonds auf dem Reisbrett ersinnen, sondern nutzen das dezentrale Wissen der Versicherten und der verschiedenen Versicherungsanbieter.

Wir kennen risikoäquivalente Prämien von KFZ-Versicherungen und den privaten Krankenkassen. Vor Versicherungsbeginn werden auf Grundlage des Gesundheitszustandes die zu erwartenden Gesundheitsausgaben und damit der individuelle monatliche Beitrag berechnet. Die Versicherungen haben dabei einen Anreiz, diese möglichst akkurat zu berechnen, da sie im Wettbewerb mit anderen Versicherungen um Kunden stehen. Veranschlagen sie zu hohe Prämien, werden sie von einer anderen Versicherung unterboten. Unterschätzen sie systematisch das Risiko ihrer Versicherten, können sie nicht dauerhaft bestehen.

Die risikoäquivalenten Prämien sind daher Marktpreise mit entsprechenden Signalwirkungen für Versicherte und Versicherer. Risikoäquivalente Prämien führen dazu, dass es für Krankenversicherungen auch attraktiv ist, kranke Menschen zu versichern und ihnen attraktive Leistungen zu bieten.

Risikoäquivalente Prämien in der gesetzlichen Krankenversicherung

Die gesetzliche Krankenversicherung sollte auf risikoäquivalente Beiträge umgestellt werden. Menschen, die auf Grund ihrer finanziellen Situation mit der Zahlung ihres Beitrags überfordert wären, sollte durch höhere Sozialtransfers beziehungsweise niedrigere Steuern geholfen werden.

Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger könnten bei der Zahlung der risikoäquivalenten Prämien durch anteilige Beihilfe durch den Staat unterstützt werden. Dies würde dazu führen, dass auch Hilfsbedürftige mit hohen Prämien entsprechend höhere Krankenkassenbeihilfen erhielten. Dennoch sollten die Kosten für die Prämie nicht zu 100 % übernommen werden, da sonst die Versicherten kein Interesse hätten, in eine günstigere Versicherung zu wechseln.

Ein höheres Maß an Umverteilung als heute würde durch die anteilige Übernahme der risikoäquivalenten Prämien nicht etabliert. Heute werden die Kosten für Menschen mit einem höheren Gesundheitsrisiko in der gesetzlichen Krankenversicherung lediglich verschleiert. Die risikoäquivalenten Prämien würden verhindern, dass es zu einer für kranke Menschen ungünstigen Risikoselektion kommt. Bisher von den Kassen geschmähte Versicherte mit ungünstigen Gesundheitsrisiken würden zu gefragten Kunden und könnten sich über attraktivere Leistungen freuen.

Zweiklassenmedizin abschaffen: Upgrades statt Vereinheitlichung

Der Weg aus der Zweiklassenmedizin sollte zu Upgrades des Versicherungsschutzes für die gesetzlich Versicherten führen, nicht zu der im Rahmen einer Bürgerversicherung angestrebten Vereinheitlichung. Risikoäquivalente Beiträge zu den gesetzlichen Krankenversicherungen würden den Versicherern Anreize geben, um Junge und Alte sowie Gesunde und Kranke gleichermaßen zu konkurrieren – zum Vorteil aller Versicherten. Zudem käme es nicht länger zu einer Einkommensumverteilung im Rahmen der gesetzlichen Krankenkassen. Diese Aufgabe würde stärker und transparenter als heute durch Steuern und Transfers erfolgen.

Von den Umverteilungszielen befreit, spricht ferner nichts dagegen, aus den gesetzlichen Krankenkassen private Versicherer zu machen – ob mit Gewinnerzielungsabsicht oder ohne. Denn private Versicherer müssen sich stärker als staatliche Unternehmen auf die Bedürfnisse ihrer Kunden einstellen.

 

 

Zuerst erschienen bei IREF.

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Baukindergeld, Breitbandausbau, Betreuungsgeld. Das Verteilen von Steuermitteln wird gerne mit hehren Zielen verknüpft. Unabhängig von den tatsächlichen Absichten der Akteure handelt es sich aber in vielen Fällen um ganz banale Privilegienwirtschaft.

Breitband für Oepfershausen, Quiddelbach und Kuchelmiß

Beispiel Breitbandausbau. Ein Thema, mit dem man eigentlich nur gewinnen kann, weil für jeden was dabei ist: von Digitalisierung bis Oberfranken, von Bildung bis Mittelstand, von Netflix bis Porno. Klingt nach einer guten Sache. Das dachten sich auch die Großkoalitionäre, und haben dann im Rahmen ihrer Koalitionsvereinbarung im Frühjahr den Etat dafür von den ursprünglich geplanten 4,4 Milliarden für die nächsten vier Jahre auf 10-12 Milliarden erhöht. Geld ist ja gerade reichlich vorhanden. Selbst wenn man jetzt mal die Frage beiseitelässt, ob derlei Großplanungen angesichts der Geschwindigkeit des technischen Fortschritts wirklich klug sind (ob man nicht bald mit LTE und Funk adäquaten Ersatz geschaffen haben wird – Stichwort „Anmaßung von Wissen“), ist es angebracht, in einem solchen Fall nochmal nachzuhaken.

Ein Blick auf die Karte des Bundesverkehrsministeriums zur Verfügbarkeit von Breitband zeigt, dass in den allermeisten Städten in Deutschland mindestens 75 Prozent, häufig mehr als 95 Prozent der Haushalte Zugang haben. In ländlichen Gebieten sieht es mitunter (aber mitnichten flächendeckend!) tatsächlich etwas düsterer aus: in Oepfershausen etwa, in Quiddelbach und Kuchelmiß. Unter der Fahne des Konzepts der gleichwertigen Lebensverhältnisse sollen auch den dortigen Menschen die Segnungen des schnellen Internets zuteilwerden. Und nicht zu vergessen – immer ein gutes Argument –: den dortigen Unternehmen. Ja, sie werden bestimmt eine ganze Reihe Mittelständler finden, die dringend Breitband bräuchten. Aber …

Der Mythos vom benachteiligten Land

Aber es ist etwas zu kurz gedacht, wenn man nur den Faktor Breitbandverfügbarkeit isoliert betrachtet. Denn das Leben auf dem Lande hat ja auch noch positive Seiten – sonst würden die Quiddelbacher doch schleunigst nach Cochem, Koblenz oder Bonn ziehen, wo Breitband verfügbar ist. Abgesehen von der anmutigen Landschaft und der benachbarten Familie hat der Eifel-Ort noch mancherlei Vorteile zu bieten. Bis vor wenigen Jahren konnte man von dem nahegelegenen Nürburgring profitieren, als Vermieterin von Ferienwohnungen oder Imbissbuden-Besitzer. Die Lebenshaltungskosten sind gering verglichen mit Städten. Mit dem Auto ist man schneller am Flughafen Frankfurt-Hahn als aus Frankfurt. Die Arbeitslosenquote liegt im Landkreis mit derzeit 5,4 genau auf dem Bundesschnitt und 0,7 Prozent unter dem Landesschnitt. Wem es in dem Dörflein gefällt, der hat alles in allem eine sehr gute Perspektive. Auch ohne das schnellste Internet.

Geht es beim Breitbandausbau wirklich darum, die benachteiligte Landbevölkerung mit den Segnungen der Moderne auszustatten, um ihnen endlich eine Chance zu geben? Oder werden hier Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert benutzt, um ein System der Privilegienwirtschaft zu etablieren? Es geht nicht unbedingt um den Ausgleich eines Nachteils, sondern es geht darum, einer weiteren Wählergruppe das Leben angenehmer zu machen. Oder wie könnte man sonst erklären, dass die Krankenschwester und der Elektromonteur, die mit ihren zwei Kindern in einer kleinen Wohnung in Frankfurt leben, mitbezahlen sollen für den Breitbandanschluss von Eigenheimbesitzern in Oepfershausen? Es geht nicht um eine Umverteilung zugunsten gleichwertiger Lebensverhältnisse, über deren Sinn oder Unsinn man auch noch diskutieren könnte. Es geht darum, einen Teil der Bevölkerung zu Lasten eines anderen zu bevorzugen.

Umverteilung von unten nach oben

Es ist immer wieder dasselbe Prinzip, wenn die Segnungen aus den Steuertöpfen über das Land verteilt werden. Verkündet wird mehr Gerechtigkeit, „ein Land, in dem wir gut und gerne leben“. Eigentlich aber geht es darum, bestimmten Klientelgruppen gute Gründe dafür zu liefern, dass sie einem wieder ihre Stimme geben. Dann finanziert der Lehrling über den „Rundfunkbeitrag“ dem Staatsanwalt die Olympischen Spiele. Dann fließt die Einkommensteuer der alleinerziehenden Grundschullehrerin aus Coburg in das Betreuungsgeld für die Zahnarzt-Gattin aus Starnberg. Dann sponsert der Brandenburger Rentner über die EEG-Umlage den benachbarten Großbauern. Gerade zeigte eine Studie des DIW: Das Baukindergeld hilft vor allem den Wohlhabenden. Und das Absurdeste an der Geschichte: Gerade die Parteien und politischen Gruppierungen, die sich den Benachteiligten verschrieben haben, sind oft an der vordersten Front, wenn es darum geht, diese Privilegien zu verteidigen.

Bedeutende Ökonomen wie James Buchanan, Gordon Tullock und Mancur Olson haben es zu ihrem Lebenswerk gemacht, dieses Phänomen zu erforschen – und vor allem, nach Möglichkeiten zu suchen, das Problem in den Griff zu bekommen. Der Löwenanteil an Umverteilung in unserem Land ist nicht dazu angetan, den tatsächlich Notleidenden zu helfen. Sie hilft vielmehr vor allem Politikern, die sich über Sonderbehandlungen Beliebtheit erkaufen. Um diese Unsitte einzudämmen, brauchen wir bessere Regeln und mehr institutionelle Kontrolle, wir brauchen mehr Evidenzbasierung sowie mehr Gesetze, Regulierungen und Förderungen, die mit einer sogenannten „sunset clause“ versehen sind, also ein Ablaufdatum haben. Vor allem aber brauchen wir eines: kritischere Bürger, die sich nicht abspeisen lassen mit Sonderbehandlungen.

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Alle sprechen über Armut und alle meinen etwas anderes. Eine Reise in den Zahlendschungel zeigt: wir sollten aufhören Menschen arm zu rechnen und stattdessen positiv in die Zukunft blicken.

Natürlich hat Jens Spahn Recht

Natürlich hat Jens Spahn recht, wenn er sagt „Hartz IV bedeutet nicht Armut“. Das gilt zumindest so lange, wie wir ein vernünftiges Maß für den Armutsbegriff annehmen. Wie so häufig, wird die Auseinandersetzung durch Dramatik bestimmt – auf Kosten einer präzisen Definition. Kaum eine Debatte wird so ziellos, so ideologisch geführt, entbehrt so sehr einer einheitlichen Begrifflichkeit wie jene um Armut. Gemessen werden gänzlich verschiedene „Typen“ von Armut. Ganz grob gibt es die „relative Armut“ einerseits, die Armut in Relation zum Einkommen einer gesamten Gruppe misst, und die durch ein bestimmtes Ausgabenniveau festgelegte „absolute Armut“ andererseits.

Absolut Arme gibt es in Deutschland nicht

Der Begriff der absoluten Armut ist leicht erklärt. Auf Grundlage verschiedenster Parameter berechnet die Weltbank ein tägliches Einkommen, unter dem ein Mensch als „absolut arm“ gilt, also finanziell nicht dazu in der Lage, die einfachsten Grundbedürfnisse zu befriedigen. Aktuell beträgt die weltweite absolute Armutsgrenze 1,90 US-Dollar (KKP 2011). Während 1981 noch sage und schreibe 42,2 % der Weltbevölkerung unterhalb der absoluten Armutsgrenze lebten, waren es 2013 nur noch 10,7 %. Tendenz weiter sinkend. Die Welt sieht also tatsächlich dem Ende der absoluten Armut entgegen. Ein beispielloses Produkt der Globalisierung und des Fortschritts der letzten 50 Jahre. Glücklicherweise müsste in Deutschland dank Grundsicherung niemand unterhalb der Armutsgrenze leben, niemand ist wirklich „arm“. Etwas andere zu behaupten verspottet die noch immer 700 Millionen wirklich Armen dieser Welt.

Was misst die relative Armut wirklich?

Um im deutschen Kontext trotzdem von Armut sprechen zu können, wird insbesondere auf dem linken Flügel gerne die relative Armut (auch Armutsrisiko genannt) verwendet. Relativ arm ist, wer weniger als einen bestimmten Anteil (40, 50 oder 60 %) des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Und das waren laut OECD im Jahr 2014 immerhin 9,5 % aller Deutschen. Um den Mittelwert zu bestimmen, wird der Median verwendet, also der Wert, der an der mittleren Stelle steht, wenn man alle Einkommen aufsteigend nebeneinander auflistet.

Wie viel Informationsgehalt über die ökonomische Situation der Geringverdiener steckt in der „relativen Armut“? Anders als von Kritikern häufig behauptet, führt ein steigendes Einkommen bei den 49 % am besten Verdienenden nicht zu einer höheren Armutsquote. Macht das die relative Armut zu einem guten Maßstab? Nein: denn steigen beispielsweise die mittleren Einkommen, während die unteren Einkommen gleich bleiben, sind qua Definition mehr Menschen arm. Und das, obwohl die unteren Einkommensgruppen die gleiche Kaufkraft haben wie zuvor. Verdoppeln sich hingegen alle Einkommen in einer Gesellschaft, sind trotzdem genauso viele Menschen „relativ arm“ wie zuvor. Und das, obwohl sich die Situation der unteren Einkommensklassen in diesem Szenario deutlich verbessert hat. Und absurderweise wäre eine Gesellschaft, in der 51 % aller Menschen genau 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben, während die anderen 49 % 1 Million Euro pro Trag verdienen, gänzlich frei von relativer Armut. Die relative Armut misst also vor allem die Einkommensungleichheit der 51 % weniger verdienenden einer Gesellschaft.

Sicher ergibt es Sinn, zu messen, wie viele Menschen nicht am – ohne Frage ungemeinen – Wohlstand unserer Gesellschaft teilhaben können. Hierfür wird im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung der Anteil der Personen mit „erheblichen materiellen Entbehrungen“ erhoben. Dies sind Menschen die keinen Zugang zu mindestens vier von neun vorher definierten Bereichen (bspw. Auto, Waschmaschine, einwöchiger Urlaub pro Jahr) haben. Im Jahr 2015 waren dies lediglich 4,4 % aller Deutschen. Und anders als die relative Armut sinkt dieser Wert seit 2008 (5,5 %) stetig. Selbstverständlich kann man die Güterzusammenstellung kritisieren, aber dieser Kennwert zeigt zumindest eine interpretierbare Tendenz: Und diese ist positiv!

Der Zahlendschungel verstellt den Blick auf den unfassbaren Erfolg der Menschheit

Überhaupt verschleiert der Zahlendschungel den Blick auf die wirklich wichtigen Nachrichten: Noch nie waren prozentual weniger Menschen auf unserem Globus absolut arm. Die Lebenserwartung in Deutschland steigt stetig und noch nie hatten die Deutschen so viel Freizeit zur Verfügung und waren so mobil wie heute. Es gehört wohl unausweichlich zum politischen Betrieb, mit immer neuen Zahlenspielen anzukommen, die den Menschen weismachen sollen, es ginge ihnen stetig schlechter. Schließlich gibt es kaum ein Thema, das so gut geeignet ist, zu rechtfertigen, dass Politiker aktiv werden müssen – und deshalb gewählt werden müssen.

Stattdessen sollten wir positiv in die Zukunft schauen, uns des unfassbaren Fortschritts der letzten 200 Jahre genauso bewusst sein wie der immer noch gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht. Vor allem aber sollten wir uns des Rezeptes bewusst sein, das diese Entwicklung ermöglicht hat. Dessen Hauptzutat ist die individuelle Fähigkeit, in allen Lebensbereichen Probleme zu lösen. Und Politik sollte letztlich immer das Ziel haben, diese Fähigkeit zu fördern: durch Bildung und die Sicherstellung von inklusiven und rechtsstaatlichen Institutionen, ohne sie dabei (aus Versehen) zu beschränken.

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Die enge Verzahnung von Kirchen und Staat ist ein Relikt, das beseitigt werden müsste. Es ist nicht nur fraglich geworden in einem Land, das zunehmend von Religionsvielfalt und Säkularisierung geprägt ist. Auch den Kirchen täte eine Frischzellenkur gut.

Eine Serie von PR-Debakeln

Hamburg, Freiburg, Eichstätt – die drei katholischen Bistümer haben in den letzten Monaten Schlagzeilen gemacht im Zusammenhang mit dem sehr irdischen Mammon. Das Hamburger Erzbistum hat die Schließung von bis zu acht Schulen in kirchlicher Trägerschaft verkündet – ausgerechnet in sozial schwachen Gegenden. Das Erzbistum Freiburg hat jahrelang darauf „verzichtet“, Sozialversicherungsabgaben für geringfügig Beschäftigte abzuführen. Und in Eichstätt hat sich ein veritabler Krimi abgespielt: Zwei ehemalige Angestellte des Bistums befinden sich derzeit in Untersuchungshaft, weil sie in den USA rund 56 Millionen Dollar des Kirchenvermögens in dubiosen Immobilienprojekten angelegt hatten – und dabei wohl selber auch gut verdient haben.

Auch aus anderen Gründen kommen die Kirchen immer wieder in die Schlagzeilen. Etwa im Bereich des Arbeitsrechts. Da wird geschiedenen Mitarbeitern gekündigt, weil sie mit einem neuen Partner zusammenleben. Das wäre prinzipiell vielleicht noch gar nicht so problematisch, wenn man kein glühender Anhänger des „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“ ist. Allerdings sind die kirchlichen Arbeitgeber oft nicht in einer vergleichbaren Stellung wie ein Privatunternehmer. Häufig werden ihre Einrichtungen auch in erheblichem Maße durch staatliche Zuschüsse subventioniert und profitieren von staatlichen Privilegien. Umso unfairer ist es, dass sie Ausnahmen beim Arbeitsrecht machen dürfen, die einem vollständig privaten Unternehmer nicht gestattet sind.

Kirchensteuern: das Gegenteil von Großherzigkeit

Am anschaulichsten wird die Privilegierung der Kirchen bei der Kirchensteuer. Im Jahr 2016 hat die Katholische Kirche auf diesem Weg 6,15 und die Evangelische 5,45 Milliarden Euro eingenommen. Das sind inflationsbereinigt 1,3 Milliarden bzw. 600 Millionen Euro mehr als vor dreißig Jahren. Und das, obwohl in der Zeit die Katholische Kirche 2,65 Millionen Mitglieder verloren hat und die Evangelische 3,49 Millionen. Die schieren Zahlen sind sehr eindrucksvoll. Nun muss man der Fairness halber sagen, dass das Verschwinden von Millionen in dubiosen Immobilien in Miami und Minneapolis nicht der Regelfall ist. Und auch die goldene Badewanne des ehemaligen Bischofs von Limburg ist keine übliche Investition in Kirchenkreisen. Ein erheblicher Teil des Geldes wird auch durchaus begrüßenswerten Zwecken zugeführt.

Dennoch ist die Kirchensteuer ein Problem. Anders als bei einer Spende an eine wohltätige Vereinigung hat der Steuerzahler keine Kontrolle über die Mittelverwendung. Es fehlt auch an einer bewussten Entscheidung, so dass er das Geld eher missvergnügt verschwinden sehen wird als es mit frohem Herzen und echter Großzügigkeit zu verschenken. Aus religiöser Sicht ist das größte Problem, dass der Ärger über die Kirchensteuer viele zum Kirchenaustritt führt. Theologisch gesehen ist der Austritt aus einer Kirche freilich nicht ein Verwaltungsakt, sondern kann eigentlich nur durch eine bewusste und dauerhafte Entscheidung des Menschen gegen Gott geschehen. Es grenzt aus theologischer Sicht an eine Perversion, dass die deutschen katholischen Bischöfe die Weigerung, die Kirchensteuer zu bezahlen, wie eine Entscheidung gegen Kirche und damit gegen Gott behandeln. So treibt man die Menschen erst recht aus der Kirche.

Kirchen und Staat: Zeit für den Einstieg in den Ausstieg

Es wäre unsinnig bis unmöglich, die vielfachen Verquickungen von Staat und Kirche von heute auf morgen zu lösen. Allerdings sollten sich beide Seiten – politische und kirchliche Akteure – darauf einstellen, dieses Relikt des 19. Jahrhunderts schrittweise abzubauen und perspektivisch ganz zu beseitigen. In dem Zusammenhang wäre es angebracht, darüber nachzudenken, wie etwa das Steuerrecht so gestaltet werden kann, dass Geldzuwendungen für kirchliche Aufgaben, die andernfalls vom Staat übernommen werden müssten, noch viel stärker privilegiert werden. Wobei dann freilich auch Waldorf-Schulen, islamische Wohltätigkeitsvereine und private Kältebusse für Obdachlose die gleichen Privilegien genießen sollten.

Die Hamburger Katholiken planen gerade genossenschaftliche Lösungen zum Erhalt der Schulen, die das Bistum schließen möchte. Die orthodoxe Kirche, viele evangelische Freikirchen und die allermeisten nichtchristlichen Gemeinschaften in Deutschland erheben keine Kirchensteuern. In den allermeisten Ländern der Welt leben die Kirchen einzig und allein von Spenden und Engagement ihrer Gläubigen. Diese aktive Einbindung anstelle der zwangsweisen Verpflichtung kann übrigens ganz erstaunliche Kräfte freisetzen und ein ganz neues Gefühl der Verantwortlichkeit und Loyalität gegenüber der Religionsgemeinschaft erzeugen. Ein Ausstieg aus der engen Verflechtung von Kirchen und Staat ist nicht nur angemessen wegen der abnehmenden Bedeutung der Kirchen in unserem Land, sondern kann auch aus kirchlicher Sicht eine echte Chance der Erneuerung sein. Das hat schon der ehemalige Papst Benedikt erkannt, als er – zum Entsetzen der versammelten Berufskatholiken Deutschlands – in einer Rede im September 2011 in Freiburg feststellte:

Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben. Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedesmal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt.

Photo: Rosmarie Voegtli (CC BY 2.0)

Es gibt zweifelsohne populäre Sozialleistungen des Staates. Das Elterngeld gehört dazu. Ursprünglich auf 12 Monate angelegt, sollte es jungen Familien eine Transferleistung für mögliche Einkommensverluste in der Frühphase der Kindererziehung bescheren. Steigt der Partner anschließend für 2 Monate aus dem Beruf aus, kann das Elterngeld auf 14 Monate erweitert werden. Die alte große Koalition hat das Elterngeld mit einem Elterngeld Plus nochmals erweitert. Seit dem 1. Juni 2015 können Mütter oder Väter bei halbiertem Elterngeld doppelt so lange zuhause bleiben. Damit kann das Elterngeld insgesamt auf 28 Monate ausgedehnt werden. Arbeitgeber müssen in dieser Zeit flexibel sein und einen Arbeitsplatz im Betrieb weiter zur Verfügung vorhalten. VW, Siemens oder der Staat als Arbeitgeber werden damit nur wenig Probleme haben, kleinere Handwerksbetriebe dagegen schon. Sie müssen Arbeitsplätze freihalten, befristen oder umbesetzen.

Das Ganze ist nicht ganz billig zu haben. Das ehemalige Erziehungsgeld kostete den Steuerzahler 2,9 Milliarden Euro. Inzwischen werden 5,85 Milliarden Euro für das Nachfolgemodell aufgewandt (2015). Eine Verdoppelung der Ausgaben innerhalb von nicht einmal 10 Jahren. 1,6 Millionen Nutznießer gibt es. Fast 75 Prozent des Etats des Familienministeriums wird alleine dafür aufgewandt.

Wer so viel Geld verteilt, muss zwangsläufig eine positive Bilanz ziehen. Die geschäftsführende Familienministerin Katarina Barley ist daher besonders stolz auf das neue „Elterngeld Plus“ und den „Partnerschaftsbonus“: „Das Elterngeld Plus hat dazu geführt, dass Frauen wieder stärker in den Beruf einsteigen können, und dass sich Väter mehr Zeit für ihre Kinder nehmen. Mit dem Partnerschaftsbonus ermutigen wir die Eltern, die sich Zeit für Familie und Beruf partnerschaftlich aufteilen möchten, diesen Wunsch auch umzusetzen“, meint die Ministerin.

Die wirtschaftliche Situation der Bezieher zeigt, dass das Elterngeld vor allem eine Transferleistung für die Mittelschicht ist. 84 Prozent geben ihre wirtschaftliche Situation vor der Geburt als gut oder sehr gut an. Lediglich 3 Prozent als (eher) schlecht. Nur 14 Prozent der Nutzer berichten über ein aktuelles Haushaltseinkommen von weniger als 2.000 Euro.

Doch ist es sinnvoll, Sozialtransfers an die Mittelschicht auszureichen? Ist es Aufgabe des Staates, Lebensentwürfe zu steuern und zu beeinflussen? Wäre es nicht sinnvoller, Transfers auf diejenigen zu beschränken, die nicht aus eigener Kraft ihre Existenz sichern können? Das wäre sozial. Das Elterngeld ist dagegen keine soziale Wohltat. Es ist eigentlich das Gegenteil. Es ist Ausdruck der Anmaßung und des staatlichen Paternalismus.

Der Staat, seine Regierung und sein Parlament maßt sich ein Wissen an, wie die Bürger leben wollen, welche Ziele sie haben und wie sie ihre Kinderbetreuung organisieren, das keine Familienministerin und kein Familienpolitiker hat. Es sind individuelle Lebensentwürfe, die so verschieden sind, wie die Menschen. Sie steuern zu wollen, macht nicht nur diejenigen abhängig von Transferzahlungen, die es nicht aus eigener Kraft schaffen, sondern immer mehr Bürger, die es eigentlich könnten. Das führt letztlich zu einem immer größeren und mächtigeren Staatsapparat, den die gleichen Bürger bezahlen, die einen Teil davon wieder als Elterngeld, Elterngeld Plus oder Partnerschaftsbonus zurückerhalten. Übrig bleibt ein Wust an unproduktiver Bürokratie. Es ist eine Fata Morgana, die aber letztlich nur eine optische Täuschung des Steuerzahlers ist. Diese Art der Politik ist weder sozial noch gerecht, sondern führt am Ende zur Unmündigkeit der Bürger.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.