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Photo: Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Von Marc Jacob, Betriebswirt, tätig im Bereich der Unternehmensfinanzierung.

Rekordeinnahmen und niedrige Arbeitslosenzahlen. Die Bundesrepublik Deutschland steht zu Beginn des Jahres 2018 in einer hervorragenden Position, um sich für die Aufgaben von Morgen bereit zu machen.  Doch die Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD haben gezeigt – die Volksparteien haben keine neuen Ideen und verschlafen die Zukunft.  Dies ist tragisch.

Es ist nicht anzunehmen, dass bei den laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD die Lektüre Sokrates zitiert wird oder eine andere Abhandlung jenes griechischen Philosophen, welcher einst die Stagnation als den Anfang vom Ende bezeichnete und mit dieser Feststellung die Koalitionsverhandlungen erheblich bereichern könnte. Denn die ersten Ergebnisse zeigen – den Parteien fällt nichts Neues ein, mehr als „Weiter so“ wird es mit der GroKo nicht geben.

Während die deutsche Wirtschaft weiter mit über 2% wächst und auch unsere europäischen Nachbarn mit substanziellen Verbesserungen der wirtschaftlichen Entwicklung glänzen können, trifft exakt diese Stagnation den politischen Betrieb in Berlin. Auch nach über 130 Tagen, seit der Bundestagswahl im vergangenen September, gibt es keine neue Bundesregierung. Während die Sondierungsgespräche und die Koalitionsverhandlungen, in denen nun endlich eine Regierung gebildet werden soll, von der alles überstrahlenden Flüchtlingsdiskussion dominiert werden, fällt das Thema der zukünftigen wirtschaftlichen Ausrichtung völlig unter den Tisch. Dabei sorgt die aktuelle hervorragende wirtschaftliche Situation überhaupt erst dafür, dass die Grundvorrausetzung für ein erfolgreiches Meistern der Flüchtlingssituation gegeben ist.

Sprudelnde Staatseinnahmen könnten dabei auch helfen, die Schwierigkeiten, vor denen die Bundesrepublik steht, zu lösen. In den verschiedensten Bereichen nagen andere Länder an der Substanz der Bundesrepublik. Die US-Steuerreform ist dabei nur eine Aktion von vielen, welche die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands angreift und dringenden Handlungsbedarf erzeugt.  Doch Deutschland ruht sich auf seiner aktuellen Position aus, neue Impulse für ein substanzielles Wachstum werden nicht gesendet.

Mit neuen Ideen für die Bildung, einer Verschlankung unserer Bürokratie und effektiven Maßnahmen in der Infrastruktur könnten substanzielle Investitionen getätigt werden. Besonders im Bereich der Infrastruktur könnten damit auch Impulse des Aufbruchs an die europäischen Nachbarstaaten gesendet werden. Stattdessen wurden schon in der letzten Wahlperiode mit falschen Entscheidungen, getriebenen durch ideologische Verbohrtheit, Branchen wie die Immobilienbrache und die Energiewirtschaft, mit Regularien überhäuft. Dies gilt auch für den Automobilbereich, jenen Sektor, welcher in Deutschland mit über 800.000 Beschäftigten einer der Motoren des aktuellen Aufschwungs ist.  Mit neuen Gesetzesvorhaben wird die Position Deutschland als uneingeschränkter Marktführer im Bereich Automobil nun von innen heraus angegriffen. Deutschland muss sich somit nicht nur der internationalen Konkurrenz stellen, sondern schafft seine Probleme selbst, eine groteske Situation.

Ein Ausblick nach vorne wird es in der kommenden Legislaturperiode nicht geben. Das Prinzip-Merkel, welches die Maxime der pragmatischen Politik vertritt, widerspricht dem Fortschrittsgedanken grundsätzlich. Dies ist besonders für die junge Generation tragisch, welche die Grundvoraussetzungen für eine prosperierende Zukunft überreicht bekommen sollten und stattdessen Probleme erben werden.

Während die Bundeskanzlerin in Davos noch mit ihrer Rede glänzte und zur zukünftigen Ausrichtung feststellte: „Wir müssen eher aufholen, als dass wir an der Spitze stehen“, wirken ihre Worte Zuhause eher wie Phrasen, als wie eine Ankündigung für neue Impulse. Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche erzeugen hierbei eher den Eindruck, dass Deutschland nicht bereit gemacht werden soll für Industrie 4.0 und Digitalisierung. Es ist fast tragisch dabei zu sehen, dass eine CDU, welche sich einst durch wirtschaftliche Kompetenz auszeichnete, heute keine wirtschaftliche Agenda mehr zu haben scheint.

Es ist nun an der Zeit, dass diese Probleme erkannt und angepackt werden.  Start-ups treffen auf Regularien von Vorgestern, innovative Unternehmen verzweifeln an ineffizienten Behörden und das schon lange nötige Einwanderungsgesetz kommt über das Dasein als Diskussionsobjekt nicht hinweg.

Sokrates lehrte einst die Jugend das eigenständige Denken und die Strukturen zu hinterfragen, damit zog er den Zorn der Herrschenden auf sich. Auch heute wäre es die Aufgabe der jungen Generation, für neue Ideen und Denkanstöße zu sorgen. Die Entscheidungen von heute sind die Basis von Morgen, deshalb müssen die vorhandenen Spielräume dazu genutzt werden, um Chancen zu ergreifen und nicht um Klientelpolitik zu betreiben.

Die Weichen für den Erfolg von Morgen werden schon heute gestellt. In den kommenden Tagen haben Union und SPD noch die Chance, den Auftrag zur Gestaltung Deutschlands anzunehmen und damit die richtigen Weichen zu stellen. Sollte dies nicht geschehen, werden die kommenden vier Jahre nichts anderes als verlorene Jahre sein.

Photo: Rosmarie Voegtli (CC BY 2.0)

Es gibt zweifelsohne populäre Sozialleistungen des Staates. Das Elterngeld gehört dazu. Ursprünglich auf 12 Monate angelegt, sollte es jungen Familien eine Transferleistung für mögliche Einkommensverluste in der Frühphase der Kindererziehung bescheren. Steigt der Partner anschließend für 2 Monate aus dem Beruf aus, kann das Elterngeld auf 14 Monate erweitert werden. Die alte große Koalition hat das Elterngeld mit einem Elterngeld Plus nochmals erweitert. Seit dem 1. Juni 2015 können Mütter oder Väter bei halbiertem Elterngeld doppelt so lange zuhause bleiben. Damit kann das Elterngeld insgesamt auf 28 Monate ausgedehnt werden. Arbeitgeber müssen in dieser Zeit flexibel sein und einen Arbeitsplatz im Betrieb weiter zur Verfügung vorhalten. VW, Siemens oder der Staat als Arbeitgeber werden damit nur wenig Probleme haben, kleinere Handwerksbetriebe dagegen schon. Sie müssen Arbeitsplätze freihalten, befristen oder umbesetzen.

Das Ganze ist nicht ganz billig zu haben. Das ehemalige Erziehungsgeld kostete den Steuerzahler 2,9 Milliarden Euro. Inzwischen werden 5,85 Milliarden Euro für das Nachfolgemodell aufgewandt (2015). Eine Verdoppelung der Ausgaben innerhalb von nicht einmal 10 Jahren. 1,6 Millionen Nutznießer gibt es. Fast 75 Prozent des Etats des Familienministeriums wird alleine dafür aufgewandt.

Wer so viel Geld verteilt, muss zwangsläufig eine positive Bilanz ziehen. Die geschäftsführende Familienministerin Katarina Barley ist daher besonders stolz auf das neue „Elterngeld Plus“ und den „Partnerschaftsbonus“: „Das Elterngeld Plus hat dazu geführt, dass Frauen wieder stärker in den Beruf einsteigen können, und dass sich Väter mehr Zeit für ihre Kinder nehmen. Mit dem Partnerschaftsbonus ermutigen wir die Eltern, die sich Zeit für Familie und Beruf partnerschaftlich aufteilen möchten, diesen Wunsch auch umzusetzen“, meint die Ministerin.

Die wirtschaftliche Situation der Bezieher zeigt, dass das Elterngeld vor allem eine Transferleistung für die Mittelschicht ist. 84 Prozent geben ihre wirtschaftliche Situation vor der Geburt als gut oder sehr gut an. Lediglich 3 Prozent als (eher) schlecht. Nur 14 Prozent der Nutzer berichten über ein aktuelles Haushaltseinkommen von weniger als 2.000 Euro.

Doch ist es sinnvoll, Sozialtransfers an die Mittelschicht auszureichen? Ist es Aufgabe des Staates, Lebensentwürfe zu steuern und zu beeinflussen? Wäre es nicht sinnvoller, Transfers auf diejenigen zu beschränken, die nicht aus eigener Kraft ihre Existenz sichern können? Das wäre sozial. Das Elterngeld ist dagegen keine soziale Wohltat. Es ist eigentlich das Gegenteil. Es ist Ausdruck der Anmaßung und des staatlichen Paternalismus.

Der Staat, seine Regierung und sein Parlament maßt sich ein Wissen an, wie die Bürger leben wollen, welche Ziele sie haben und wie sie ihre Kinderbetreuung organisieren, das keine Familienministerin und kein Familienpolitiker hat. Es sind individuelle Lebensentwürfe, die so verschieden sind, wie die Menschen. Sie steuern zu wollen, macht nicht nur diejenigen abhängig von Transferzahlungen, die es nicht aus eigener Kraft schaffen, sondern immer mehr Bürger, die es eigentlich könnten. Das führt letztlich zu einem immer größeren und mächtigeren Staatsapparat, den die gleichen Bürger bezahlen, die einen Teil davon wieder als Elterngeld, Elterngeld Plus oder Partnerschaftsbonus zurückerhalten. Übrig bleibt ein Wust an unproduktiver Bürokratie. Es ist eine Fata Morgana, die aber letztlich nur eine optische Täuschung des Steuerzahlers ist. Diese Art der Politik ist weder sozial noch gerecht, sondern führt am Ende zur Unmündigkeit der Bürger.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Mirko Walterman from Flickr (CC BY 2.0)

Der Arbeitsmarkt verändert sich. Auf vielfältige Weise. Auf der einen Seite erlebt Deutschland ein Beschäftigungswunder. Seit der Deutschen Einheit gab es noch nie so viele Beschäftigungsverhältnisse. Aktuell sind es 44,5 Millionen. Inzwischen sind nur noch durchschnittlich 2,53 Millionen als arbeitslos registriert. Die Bundesagentur für Arbeit meldet nur noch eine Quote von 5,7 Prozent. All diejenigen, die bislang meinen, es würde die Arbeit in Deutschland ausgehen, sind eines Besseren belehrt. Natürlich sind das nicht alle, die Arbeit suchen. In vielen Bereichen wird die Statistik geschönt. Der Bereich der ALG II-Empfänger gehört nicht dazu, auch diejenigen, die ein Asylverfahren durchlaufen, fallen raus und viele andere mehr. Dennoch ist die Entwicklung positiv. Denn vor 15 Jahren, als Gerhard Schröder die Reformen am deutschen Arbeitsmarkt eingeleitet hatte, lag die Arbeitslosenzahl bei rund 5 Millionen, bei nahezu ebenso vielen Menschen, die aus der Statistik herausgeschönt wurden.

Überall werden Facharbeiter und Handwerker gesucht. Nicht nur Elektriker und Fliesenleger fehlen, sondern auch LKW- und Gabelstaplerfahrer. Gerade hier liegt eine große Herausforderung für die Weiterbildung. Doch man muss sich fragen, ob dazu die Bundesagentur für Arbeit die richtige Adresse ist. Sie hat nur noch die Hälfte der „Kunden“ gegenüber Anfang des Jahrtausends, aber beschäftigt immer noch fast die gleiche Anzahl an Mitarbeitern. Ende 2016 waren es 96.800 Vollzeitkräfte und sie verwaltete einen Etat von über 35 Milliarden Euro. Wer über die Effizienz des Staates nachdenkt, muss hier ansetzen. Denn bereits vor 15 Jahren war die Nürnberger Behörde ein fast unmanövrierbarer Tanker. Unter dem langjährigen BA-Chef Frank-Jürgen Weise, der bis Ende 2017 Vorstandsvorsitzender der Behörde war, hat sich die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit unbestritten weiterentwickelt. Dennoch herrscht Reformbedarf. Die Qualifizierung und Weiterbildung ist keine staatliche Aufgabe, sondern eine privatwirtschaftliche. Dazu bedarf es Freiräume für Unternehmen und Marktteilnehmer.

Denn neben dem Beschäftigungswunder gibt es eine gravierende Veränderung des Arbeitsmarktes. Insbesondere der Drang zur Selbstständigkeit hält an. Neue Beschäftigungsformen, wie die der Clickworker, die über Portale Aufträge akquirieren, kommen zunehmend in Mode. In Deutschland, so berichtet die FAZ, arbeiten inzwischen eine halbe Million in diesem Sektor. DGB-Bundesvorstand Annelie Buntenbach, die auch Vorsitzende des BA-Verwaltungsrates ist, hat jetzt verlangt, dass Portale wie Myhammer Sozialabgaben für diejenigen bezahlen sollen, die auf ihrer Plattform Aufträge entgegennehmen. Sie gehörten in den „Schutz der Sozialversicherungen“. Ob die Selbstständigen dies wollen, mag man bezweifeln. Die allermeisten habe ihre Selbstständigkeit ja freiwillig gewählt.

Die Nachfrage von Handwerksunternehmen nach ausgebildeten Gesellen ist besonders hoch. Daher haben die Selbstständigen, die Portale nutzen, um Aufträge zu gewinnen, ihr Geschäftsfeld selbst gesucht und gewählt. Der Gesetzgeber hat gutgetan, bislang die Einbeziehung von Selbständigen in die Sozialversicherungen nur sehr behutsam zu veranlassen. Die Freiheit der Selbständigkeit beinhaltete historisch auch die Freiheit, seinen Krankenversicherungsschutz frei zu wählen oder auch seine Altersvorsorge. Wer diese Freiheit einschränken will, schafft Markteintrittshürden für Existenzgründer und verhindert so die Flexibilität in einer Marktwirtschaft. Das schadet allen. Nicht nur den Existenzgründern selbst, sondern auch den Kunden. Sie müssen in einem engeren Markt mehr für die angeforderte Dienstleistung bezahlen. Dem Millionär mag das egal sein, dem Arbeiter jedoch nicht. Er muss für eine eingekaufte Dienstleistung einen höheren Anteil seines Nettogehalts aufwenden. Er bezahlt also die Regulierungswut des Staates. Dabei profitiert der klassische Arbeitnehmer mit geringen oder durchschnittlichen Einkünften besonders von innovativen Konzepten wie Myhammer und anderen.

Erstmalig kann er ohne aufwändige Ausschreibung Aufträge vergeben und so qualitative oder preisliche Bewertungen vornehmen. Der Dienstleistungsmarkt wird so für viele Privatkunden transparenter und erschwinglich. Mehr Marktwirtschaft hilft daher dem kleinen Mann, er ist dann wirklich als Kunde König.

Photo: Markus Reinhardt from Flickr (CC BY 2.0)

Im 17. Jahrhundert öffnete das kleine Altona in Hamburgs Norden seine Grenzen für Verfolgte aus ganz Europa. Diese durften sich nur um die Straße „Große Freiheit“ herum ansiedeln, wurden dafür aber von der örtlichen Bevölkerung akzeptiert und machten Altona reich und groß. Die neue Regierung könnte manches von diesem Vorbild lernen.

Rotlichtviertel, Beatles, durchfeierte Nächte. Wer heute den Namen „Große Freiheit“ hört, verbindet unwillkürlich Ausschweifung und Freizügigkeit mit dieser Straße im Zentrum des bekannten Hamburger Party-Viertels St. Pauli. Abzweigend von der Reeperbahn zieht die Große Freiheit mit Beatles-Platz, Dollhouse und 99-Cent Bar allnächtlich Scharen von Touristen und jungen Hamburgern an. Heute steht sie für die Freiheit zum Exzess und zur, zumindest nächtlichen, Abweichung von der Alltagsnorm. Tatsächlich ist die Große Freiheit seit ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert ein Projekt der einer Einwanderungspolitik mit Augenmaß, die auch heute als Vorbild für das Einwanderungsland Deutschland dienen kann.

Der Aufstieg Altonas zum liberalen Vorreiter Europas

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war das kleine Altona („all zu nah“) ein kleines ärmliches Dorf außerhalb der Stadtmauern der reichen Handelsstadt Hamburg. Die Herren Altonas, die Grafen von Schauenburg, residierten westlich des fernen Hannover und hatten daher vordergründig nur ein Interesse: Mit ihrem Altonaer Besitz möglichst reichen Ertrag zu erwirtschaften. Um Bürger und Kaufkraft anzuziehen, erlaubten sie daher aus religiösen Gründen Verfolgten, sich in Altona niederzulassen. Diesem Ruf folgten Mennoniten, Katholiken und Juden aus ganz Europa.

Die neuen Nachbarn waren bei den alteingesessenen Altonaern jedoch nicht sonderlich beliebt. Die Altonaer fürchteten neue Konkurrenz für ihre ohnehin stets durch das nahe Hamburg gefährdeten Geschäfte. Die zur Ausübung eines Gewerbes auch in Altona notwendige Zunftmitgliedschaft blieb den Einwanderern verwehrt. Da aber arbeitslose Einwanderer keinen Ertrag erwirtschaften, nahm sich der Schauenburger Landesherr des Problems an.

Seine Lösung: Er schuf eine frühe Form der Sonderbewirtschaftungszone, indem er aus zwei bereits existierenden Straßen das neue Viertel „Freiheit“ formte. In der „Großen Freiheit“ und der „Kleinen Freiheit“ durften sich die Einwanderer von nun an niederlassen, ihre Religionen praktizieren und, gegen eine Abgabe, ihr Handwerk ausüben. Die alten Altonaer mussten nicht mehr befürchten, ein fremdes Gotteshaus oder gar wirtschaftliche Konkurrenz direkt vor die Nase gesetzt zu bekommen. Auch mag es ihrem Gerechtigkeitsempfinden entgegenkommen sein, dass die Einwanderer eine besondere Gebühr zur Ausübung ihres Handwerks zahlen mussten.

Akzeptanz mag nicht auf der Stelle in Toleranz umgeschlagen sein, doch der Grundstein war gelegt: In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Altona zu einem Zentrum der europäischen Aufklärung, und erlangte als nach Kopenhagen zweitgrößte Stadt des Königreichs Dänemark auch wirtschaftlich und politisch große Bedeutung. Das Wappen, das anderes als jenes des großen Nachbarn ein geöffnetes und nicht ein geschlossenes Stadttor zeigt, sollte bis zur Eingemeindung Altonas im Jahr 1937 das Leitbild dieser weltoffenen und toleranten Stadt prägen. Noch heute findet sich auf der Großen Freiheit inmitten von Nachtclubs und Bars die katholische St. Josephs-Kirche und zeugt von den einst fünf Gotteshäusern religiöser Minderheiten, die hier Zuflucht fanden.

Schlüsselloch-Lösungen statt Abschottung

Was ist die Moral von der Geschicht? Anstatt aus Sorge vor der Reaktion der einheimischen Bevölkerung den Zuzug von Migranten pauschal zu unterbinden, wählte der Schauenburger Landesherr einen wesentlich intelligenteren Weg. Im Grunde hätten sich die Altonaer über den Zuzug neuer Kunden freuen können. Doch Vorbehalte gegenüber den anderen Glaubensrichtungen und die Angst vor ökonomischen Verlusten schürten Ablehnung und Missgunst. Deshalb begrenzte der Landesherr die Rechte der Migranten, indem er ihre Niederlassungsfreiheit einschränkte und „unzünftiges“ Gewerbe nur gegen Gebühr in einem abgegrenzten Bereich gestattete. Eine solche Vorgehensweise wird als „Schlüsselloch-Lösung“ bezeichnet. Schlüsselloch-Lösungen zielen auf eingrenzbare Probleme (in diesem Fall die mangelnde Akzeptanz der Altonaer) innerhalb eines größeren Politikfelds (hier die Einwanderungspolitik).

Auf dieser Weise schuf der Landesherr eine Lösung, von der beide Seiten profitieren konnten. Die Altonaer akzeptierten ihre neuen Nachbarn und legten damit den Grundstein für den Aufstieg der Stadt. Die Verfolgten fanden ein neues Zuhause und mussten im Gegenzug eine relativ geringfügige Benachteiligung gegenüber den Einheimischen in Kauf nehmen. Viel wichtiger war: Sie erhielten die Chance auf ein neues Leben und wirtschaftliche Betätigung an einem sicheren Ort.

Altona im 21. Jahrhundert

Es mag nicht unbedingt intuitiv erscheinen, doch wenn sich Union, FDP und Grüne am Ende auf eine Koalition einigen können, könnte es zu solchen Schlüsselloch-Lösungen im Bereich der Einwanderungspolitik kommen. Die Koalitionäre nehmen dabei unterschiedliche Rollen ein. Die Union stellt die Akzeptanzprobleme in den Vordergrund und propagiert Beschränkungen. Grüne und FDP betonen humanitäre Argumente und die ökonomischen Vorteile der Freizügigkeit. Die von der Union geforderten jährlichen Quoten könnten dabei ebenso eine Lösung sein wie die Begrenzung von Sozialleistungen für Einwanderer. Auch eine Besteuerung von Migranten beispielsweise über einen Lohnsteueraufschlag könnte erheblich zur Akzeptanz beitragen.

Aufgrund der großen Vorbehalte innerhalb der Bevölkerung bleibt eine zunehmende Personenfreizügigkeit, auch über die EU hinaus, immer eine gewisse Herausforderung. Selbst wenn die Geschichte zeigt, dass die Vorteile in der Regel überwiegen, muss der Weg dorthin immer mit Augenmaß, Klugheit und Respekt vor der Bevölkerung genommen werden – so wie damals die Grafen von Schauenburg. Gelingt es, Sorgen der Bevölkerung mit Schlüsselloch-Lösungen gezielt auszuräumen, könnte Deutschland ein erfolgreiches Einwanderungsland werden wie einst das kleine Örtchen Altona, das heute noch nicht nur für Wohlstand und Erfolg steht, sondern vor allem für das große Ziel unserer westlichen Gesellschaften: Die individuelle Freiheit, die eben für den Besucher des Dollhouse genauso gilt wie für den des katholischen Gottesdienstes.

Photo: Predi from Flickr (CC BY-ND 2.0).

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Die Einnahmen aus Beiträgen für die Rentenversicherung machen im Jahr 2016 mehr als ein Drittel der Gesamteinnahmen der Sozialversicherungen aus. Eine Reduzierung der verpflichtenden Rentenversicherung auf eine Mindestversorgung wäre ein Weg, um die Altersvorsorge vom Arbeitsmarkt zu entkoppeln und mehr Wahlfreiheit bei der Altersvorsorge zu ermöglichen.

Die Einnahmen des Staates im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt haben sich von 32 % im Jahr 1950 auf 43 % im Jahr 2016 erhöht. Fast der gesamte Anstieg ist auf die Einnahmen der Sozialversicherungen zurückzuführen. Dadurch ist die Belastung von Arbeit durch Steuern und Abgaben in Deutschland heute schon höher als in nahezu allen übrigen OECD-Ländern. Nimmt die demographische Entwicklung wie erwartet ihren Lauf, wird der Anteil der Einnahmen der Sozialversicherungen am Bruttoinlandsprodukt weiter steigen. Eine Reduzierung der verpflichtenden Rentenversicherung auf eine Mindestversorgung im Alter wäre ein Weg, um die Altersvorsorge vom Arbeitsmarkt zu entkoppeln, reguläre Tätigkeiten attraktiver zu machen und mehr Wahlfreiheit bei der Altersvorsorge zu ermöglichen.

Sozialversicherung: 1950 noch 9 % des BIP, heute 19 %, 2040 gar 23,5 %

Der Anteil der Einnahmen der Sozialversicherungen am Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 1950 von 9 % auf 19 % mehr als verdoppelt. Die Einnahmen aus Beiträgen für die Rentenversicherung in Höhe von 215 Milliarden Euro machten dabei im Jahre 2016 mehr als ein Drittel der Gesamteinnahmen der Sozialversicherungen aus. Hinzu kommt ein Zuschuss des Bundes in Höhe von 41 Milliarden Euro, mit dem sich der Anteil der Einnahmen der Rentenversicherung an den gesamten Sozialversicherungseinnahmen auf über 42 % summiert.

Seit 2010 sank der Anteil der Einnahmen der Sozialversicherungen an den Gesamteinnahmen des Staates, weil das hohe Beschäftigungsniveau für hohe Steuereinnahmen sorgt und der Beitragssatz der Rentenversicherung aufgrund der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt schrittweise von 19,6 % auf 18,7 % gesenkt wurde.

Das Bundesfinanzministerium prognostiziert, dass durch Erhöhungen der Beitragssätze die Sozialversicherungsbeiträge bis 2040 etwa 23,5 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen werden. Dadurch würden sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse weiter an Attraktivität einbüßen und (teilweise) sozialversicherungsbefreite Tätigkeiten in abhängiger Beschäftigung oder Selbständigkeit relativ attraktiver werden.

Rentenversicherung: Pflicht auf Mindestsicherung beschränken

Eine Linderung bietet die Beschränkung der Einzahlungspflicht für jedermann ― unabhängig von der Erwerbstätigkeit ― einer verpflichtenden Rentenversicherung auf ein Minimum, welches sicherstellt, dass Menschen im Alter nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Eine derartige Mindestsicherung könnte im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung oder im Rahmen einer privaten Altersvorsorge erfolgen. Die Vorsorge über das Existenzminimum hinaus läge von der Natur der Mindestsicherung unabhängig in der Verantwortung jedes einzelnen.

Alle Erwerbstätigen hätten die Möglichkeit, nach ihren Bedürfnissen fürs Alter vorzusorgen. Wäre eine verpflichtende Rente auf die Grundsicherung beschränkt, könnten Menschen freier entscheiden, was zu ihrem Lebensentwurf passt: Ein selbstgenutztes Eigenheim, eine Lebensversicherung, ein Aktienportfolio, Staatsanleihen oder eine Mischung aus diesen Anlageformen.

Würde der Beitragssatz für die gesetzliche Rente deutlich sinken, wäre auch der Anreiz für Schwarzarbeit schwächer, wenn die Beitragszahler die jetzige gesetzliche Rentenversicherung zumindest teilweise als Steuer und nicht Altersvorsorge wahrnehmen, für die sie sich auch entschieden hätten, wenn sie eine Wahl gehabt hätten. Die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit hingegen würde attraktiver werden.

Beschränkung auf Mindestsicherung reduziert Ungleichheit

Eine derartige Rentenreform würde ferner die Vermögensungleichheit in Deutschland senken. Derzeit ist ein großer Teil der Vermögen abhängig Beschäftigter in Form zukünftiger Zahlungsansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung gebunden. Diese Form des Vermögens kann jedoch nicht als Eigenkapital beim Wohnungskauf, in finanziellen Notlagen oder als Sicherheit für einen Kredit eingesetzt werden.

Der Präsident des DIW, Marcel Fratzscher, weist gerne und zutreffend darauf hin, dass “… Rentenanwartschaften keine klassischen Vermögen sind.” Deshalb sollten Menschen nicht dazu gezwungen werden, mehr Vermögen in einer verpflichtenden Altersvorsorge zu binden, als für die Mindestsicherung im Alter nötig ist.

Finanzierung: Langfristig per Umlage oder kapitalgedeckt…

Derzeit werden die Renten der aktuellen Rentnergeneration durch die laufenden Beiträge der Beitragszahler finanziert. Eine auf die Mindestsicherung im Alter begrenzte Rentenversicherung könnte weiterhin mit einem Umlagesystem finanziert werden und dabei alle Personen unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit einschließen. Die Mindestsicherung könnte auch Kapitalgedeckt sein und den Versicherten eine Wahl zwischen privaten Anbietern geben, ähnlich wie im Rahmen der Riester-Rente. Problematisch wäre lediglich die Umstellung auf die Mindestsicherung, da die bestehenden Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung weiter finanziert werden müssten.

… und in der Übergangszeit via Steuern

Für den Übergang von der jetzigen gesetzlichen Rente zu einer auf die Mindestsicherung im Alter reduzierten verpflichtenden Rentenversicherung müsste die Finanzierungsstruktur angepasst werden, damit aktuelle Erwerbstätige nicht die Zahlungen an derzeitige Rentner finanzieren müssen, während sie deshalb selbst nur beschränkt privat vorsorgen können.

Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung geht der Staat fortlaufend Zahlungsversprechen an derzeitige Beitragszahler ein, die durch die Beiträge zukünftiger Beitragszahler zu decken sein werden. Wer Zahlungsansprüche gegen den Staat hält, wird dadurch offenbar. Wer die den Ansprüchen gegenüberstehenden Verpflichtungen in der Zukunft übernehmen wird, ist hingegen unsicher. Es ist nicht ersichtlich, warum gerade die nachfolgenden Generationen abhängig Beschäftigter für Versprechen des Staates geradestehen sollen, die vom Staat an frühere Generationen von abhängig Beschäftigten gemacht wurden.

Die Finanzierung der Auszahlung von bestehenden Rentenansprüchen könnte stattdessen in Form von langlaufenden Staatsanleihen erfolgen. Dadurch würde die Finanzierung der bestehenden Rentenansprüche auf alle heutigen Steuerzahler und zukünftige Generationen von Steuerzahlern unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus verteilt werden.

Wünschenswerter Nebeneffekt: Die derzeit versteckten Staatsschulden durch Zahlungsversprechen des Staates im Rahmen der Rentenversicherung würden zu transparenten expliziten Staatsschulden werden.

Mehr Verantwortung und mehr Wahlfreiheit

Die derzeitige Ausgestaltung der Rentenversicherung reduziert die Attraktivität sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse für Arbeitgeber und Arbeitnehmer und schränkt die Flexibilität bei der Altersvorsorge letzterer ein. Außerdem macht sie vielen abhängig Beschäftigten den Zugriff auf den größten Teil ihres Vermögens unmöglich.

Die Reduzierung der verpflichtenden Rentenversicherung auf eine Mindestsicherung im Alter für alle Personen würde diese Probleme deutlich reduzieren – unabhängig davon, ob sie durch Umlagen oder kapitalgedeckt finanziert würde. Die Mindestsicherung würde Trittbrettfahren durch Nicht-Vorsorge effektiv verhindern, reguläre Erwerbstätigkeiten attraktiver machen, Menschen mehr Gestaltungsspielraum bei ihrer Altersvorsorge geben und abhängig Beschäftigten erlauben, über einen Großteil ihres Vermögens frei zu verfügen.

Erstmals erschienen bei IREF.