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Von Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus und dem Cato Institute in Washington D.C.

Bevor Medikamente auf den Markt kommen, müssen sie umfangreich getestet werden, um Schäden durch die Anwendung zu vermeiden. Doch dabei werden diejenigen Menschen vergessen, denen durch eine schnellere Zulassung früher oder überhaupt hätte geholfen werden können. Darüberhinaus zeigt die Erfahrung, dass Patienten unter ärztlicher Betreuuung auch nicht-zugelassene Medikamente erfolgreich anwenden. Es ist Zeit für eine Reform der Medikamentenzulassung.

Wenn wir ehrlich sind, wissen wir meist nicht genau, was wir einnehmen oder wie häufig eine Nebenwirkung auftreten kann, wenn wir unsere Kopfschmerztablette, das Asthmamittel oder die Blutdrucktablette schlucken. Wir verlassen uns darauf, dass die Medikamente ausgiebig getestet wurden und staatliche Behörden sie für unbedenklich erachten. Auf den ersten Blick scheint die staatliche Medikamentenzulassung nur Vorteile zu haben.

Doch die aufwendigen staatlich geforderten Tests und Zulassungsverfahren führen nicht nur zu höheren Kosten für das Medikament, sondern bergen zudem Kosten, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind: Menschen die von einem getesteten Medikament gesundheitlich profitieren könnten, erhalten es erst verspätet oder gar nicht.

Ein aktuelles Beispiel verdeutlicht dies. Forscher in den USA haben erfolgreich eine Therapie für die seltene Blutkrankheit Hämophilie B entwickelt, die bisher als unheilbar galt. Die Therapie würde für die Betroffenen eine enorme Verbesserung ihrer Lebensumstände bedeuten. Doch Professor Oldenburg vom Universitätsklinikum Bonn dämpft die Hoffnung auf eine schnelle Verfügbarkeit:

„Dennoch wird es sicher noch drei bis fünf Jahre dauern, bis diese Therapie den meisten Hämophilie B-Patienten zur Verfügung steht.“

Vom Labor in die Apotheke

Durchschnittlich dauert die Entwicklung und Zulassung eines neuen Wirkstoffes 13,5 Jahre. In den ersten 5,5 Jahren wird der Wirkstoff in Labors untersucht und die Wirksamkeit sowie mögliche schädliche Wirkungen an Tieren getestet. Anschließend folgen in drei Phasen 6,5 Jahre klinische Tests an Menschen. In der ersten Phase werden an gesunden Menschen Tests auf Verträglichkeit durchgeführt. In der zweiten Phase wird der Wirkstoff an wenigen Patienten getestet, um in der dritten Phase an mehreren tausend Patienten erprobt zu werden. Absolviert der Wirkstoff diese Phasen erfolgreich, können die Entwickler die Zulassung beantragen und reichen dafür die Ergebnisse der vorherigen Tests bei den Zulassungsbehörden ein.

 

Die Zulassung: Sichtbare und nicht sichtbare Fehler

Der letzte Schritt, die Zulassung, ist eine kritische Phase. Hier entscheidet sich, ob sich die vorangegangenen Mühen auszahlen. Irren ist menschlich. Auch Zulassungsbehörden können irren. Dabei können sie zwei Arten von Fehlern begehen. Erstens können sie ein Medikament zulassen, das schädlich ist. Zweitens können sie einem Medikament die Zulassung verwehren, das unbedenklich ist und so Menschen helfen könnte. Beide Fehler führen dazu, dass die Gesundheit von Menschen gefährdet wird. In manchen Fällen hängen von beiden Arten von Fehlern Leben ab.

Eine fatale Asymmetrie

Der Fehler eines zugelassenen schädlichen Präparats wird automatisch korrigiert. Sollte ein Medikament sich als schädlich herausstellen, wird es vom Markt genommen. Der zweite Fehler wird hingegen nicht automatisch korrigiert. Wird ein Medikament nicht zugelassen, wird zu einem späteren Zeitpunkt auch nicht entdeckt, dass es Menschen hätte helfen können.

Schon 1972 kam der Ökonom Sam Peltzman in einer Studie zu dem Schluss, dass zu späte Zulassungen oder nicht erteilte Zulassungen von brauchbaren Medikamenten mehr geschadet haben als die Verhinderung unbrauchbarer Medikamente. Seitdem gab es einige Bemühungen die Zulassungen zu beschleunigen. So wurde beispielsweise 1992 in den USA ein entsprechendes Gesetz erlassen. Eine Studie aus dem Jahr 2008 kommt zu dem Schluss, dass die daraufhin schneller erteilten Zulassungen bis zu 310.000 Menschenleben gerettet haben.

Dieser Befund deutet zum einen darauf hin, dass durch eine weitere Beschleunigung möglicherweise zukünftig abermals mehr Leben gerettet werden könnten. Zum anderen führt er vor Augen, dass das durch nicht erfolgte Zulassungen verursachte Leid potentiell beträchtlich ist. Denn die Zulassungsbehörden sehen sich einer außergewöhnlichen Anreizstruktur ausgesetzt.

Bedenkliche Anreize für Zulassungsbehörden

Schädliche zugelassene Medikamente führen zu sichtbaren Opfern und entsprechende Reaktionen der Öffentlichkeit. Eines der wohl tragischsten Beispiele ist der Wirkstoff Thalidomid und der damit verbundene Contergan-Skandal. Die staatlichen Zulassungsstellen haben einen starken Anreiz, diese Art von Fehlern zu vermeiden.

Opfer des zweiten Fehlers bleiben dagegen im Verborgenen. Opfer des Fehlers, ein Medikament nicht zuzulassen, das hätte zugelassen werden sollen, bleiben unsichtbar. Der Anreiz der Zulassungsbehörden, derartige Fehler zu vermeiden, fällt deutlich schwächer aus. Reaktionen der Öffentlichkeit müssen sie in diesen Fällen kaum fürchten.

Medikamente sehr ausgiebig in langwierigen Verfahren zu testen und im Zweifel nicht zuzulassen, hilft den Zulassungsbehörden folglich bei der Vermeidung sichtbarer Fehler und trägt zu mehr als der optimalen Anzahl unsichtbarer Fehler bei.

Ein ehemaliger Mitarbeiter der amerikanischen
Medikamentenzulassungsbehörde beschreibt einen Fall, in dem die Behörde davon überzeugt war, dass das betreffende Medikament effektiv und unbedenklich sei. Sein Vorgesetzter weigerte sich dennoch die Zulassung zu erteilen – mit der folgenden Begründung:

„Wenn irgendwas schief geht (…) denken Sie daran, wie übel es aussieht, wenn wir das Medikament so schnell genehmigt haben.“

Schnellere Zulassungen in den USA

Seit 1997 gibt es in den USA eine „Fast Track–Zulassung“ von Medikamenten für besonders schwerwiegende und lebensbedrohliche Krankheiten. Das Konzept setzt bei den der Zulassung vorgelagerten klinischen Tests an, die gut die Hälfte der gesamten Entwicklungsdauer vereinnahmen – hier ist offensichtlich das größte Zeitersparnispotential zu finden. Die Medikamente werden schrittweise für verschiedene Patientengruppen zugelassen, noch bevor größer angelegte Feldstudien durchgeführt werden. Der Kreis der Patienten und die Zulassung werden ausgeweitet, wenn Erfahrungen über das Risiko-Nutzen-Verhältnis mit den ersten Patientengruppen gesammelt wurden.

Auch Europa sammelt Erfahrung

Die Europäische Arzneimittel-Agentur hat im Jahre 2005 sogenannte „Conditional Approval“ für Medikamente eingeführt. Diese sollen ähnlich wie in den USA ermöglichen, dass Patienten, die unter besonders schwerwiegenden Krankheiten leiden, schneller Zugang zu neuen Medikamenten bekommen. Dabei werden Medikamente unter der Auflage, dass Phase III nachgeholt wird, bereits nach Phase II zugelassen. Dies ermöglicht einen bis zu 2,5 Jahre schnelleren Zugang zum entsprechenden Medikament.

Schnelle Zulassungen genauso sicher wie konventionelle

In einer Studie aus dem Jahr 2011 wurde untersucht, ob Medikamente, die in der EU in einem Schnellzulassungsverfahren zugelassen wurden, ein höheres Risiko aufweisen als konventionell zugelassene Medikamente. Dabei wurden nicht häufiger neue Risiken nach der Zulassung erkannt, als bei konventionell zugelassenen Medikamenten, die die Phasen I bis III komplett durchliefen.

Gegenseitig Zulassungen anerkennen

Ein erster Schritt, Medikamente schneller und günstiger für Patienten verfügbar zu machen, wäre die gegenseitige Anerkennung der Zulassung von Medikamenten in den USA und Europa. In der Regel werden die gleichen Unterlagen für die jeweilige Zulassung eingereicht. Warum sollte ein Medikament, das für EU Bürger zugelassen wurde, für Amerikaner schädlich sein?

Schnellere Zulassungen allein genügen nicht

Doch schnellere Zulassungen und ihre gegenseitige Anerkennung allein genügen nicht. Sie führen nicht dazu, dass die Zulassungsbehörden einen schwächeren Anreiz haben, unbedenkliche Medikamente nicht zuzulassen. Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage, ob eine zwingende staatliche Zulassung nötig ist.

Unkonventioneller Einsatz bereits beschränkt möglich

Schon jetzt zeigen Ärzte und Patienten, dass sie bereit sind, Medikamente zu verschreiben und zu konsumieren, die nicht spezifisch getestet oder von den Behörden für diese Anwendungen zugelassen sind. Der Off-Label-Use, also die Nutzung von Medikamenten außerhalb des von den Behörden zugelassen Bereichs, ist vor allem bei Kindern weit verbreitet. So waren 2002 in Deutschland etwa 57 % aller verordneten Medikamente für gesetzlich krankenversicherte Neugeborene nicht für diese zugelassen.

Zudem ist es bereits möglich, nicht zugelassenen Medikamente im Rahmen der Härtefall-Verordnung zu erhalten. Allerdings gibt es nur sehr wenige Ausnahmen. So sind derzeit nur sieben Medikamente beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und drei weitere beim Paul Ehrlich Institut gelistet, die für Härtefälle verfügbar sind. Ferner sind nicht zugelassene Medikamente im Rahmen individueller Heilversuche erhältlich. Allerdings dürfen diese Medikamente nicht beworben werden. Der Patient oder der behandelnde Arzt muss also auf anderen Wegen auf den potentiell hilfreichen Wirkstoff aufmerksam werden.

Die Nutzung von nicht zugelassenen Medikamenten und der Einsatz außerhalb des zugelassenen Bereichs zeigen, dass Patienten und Ärzte in der Lage und willens sind, auch ohne staatliche Zulassung Risiko und Nutzen abzuwägen. Nicht bzw. noch nicht zugelassene Medikamente sollten Patienten leichter zugänglich gemacht werden als derzeit.

Freiwillige staatliche Prüfung

Natürlich gibt es Menschen, die ausschließlich auf die staatliche Zulassung vertrauen. Eine freiwillige staatliche Prüfung von Medikamenten, wodurch die Vermarktung auch noch nicht zugelassener Medikamenten möglich würde, wäre eine für beide Patientengruppen attraktive Lösung. Die Medikamente, die nicht dieser freiwilligen Prüfung unterzogen werden, könnten mit einem entsprechenden Hinweis versehen werden.

Medikamente schneller und umfangreicher verfügbar machen

Unsichtbare Opfer, die zu einem hilfreichen Medikament keinen Zugang haben, sollten nicht unberücksichtigt bleiben. Deshalb sollten in einem ersten Schritt die Zulassungsverfahren deutlich beschleunigt und die Zulassungen durch Stellen anderer Staaten anerkannt werden. Zudem sollte den bedenklichen Anreizen der Zulassungsbehörden durch freiwillige staatliche Prüfungen begegnet werden. Kosten könnten so reduziert und die Gesundheit vieler Menschen verbessert werden.

Zuerst erschienen bei IREF.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Donald Trump ist kein Freund der Freiheit. Er ist eher ein Vertreter des Kollektivs oder der Stammesgesellschaft, wie es unser Kuratoriumsvorsitzender Thomas Mayer in seinem neuesten Buch in Anlehnung an Hayek formuliert.  In „Die Ordnung der Freiheit und ihre Feinde“ (Finanzbuchverlag München) bezeichnet er die Rückbesinnung auf die Stammesgesellschaft, die sich an einem Stammesführer orientiert, als größten Angriff auf die liberale Gesellschaft. Diese Stammesgesellschaft orientiert sich nicht mehr am Individuum, das als Ideal die Gleichheit vor dem Recht kennt, sondern an dem Schutz seiner Mitglieder vor den äußeren Gefahren. Auf das Recht kommt es nicht an, sondern lediglich auf das Wohlergehen der Stammesgesellschaft insgesamt. So inszeniert sich Trump derzeit. „America First“ unterstreicht dies.

Letztlich will er das, was in der Familie funktioniert – die menschliche Nähe und die Geborgenheit – auf eine größere Einheit, den Staat, übertragen. Trump ist hier nicht allein, sondern sitzt in einem Boot mit Leuten wie Wladimir Putin. Beide verfolgen eine Politik des starken Mannes, die vorgeben, ihre Bevölkerung vor den Gefahren der Globalisierung, vor Arbeitslosigkeit und Identitätsverlust zu schützen. Auch das China des Xi Jinping kennt diesen Ansatz. Zwar setzt China derzeit auf Globalisierung, doch nicht so sehr, weil sie inhaltlich davon überzeugt sind, sondern weil es dem Land besonders nützt. Es geht der chinesischen Führung nicht darum, die Wahlfreiheit des einzelnen Bürgers zu steigern, sondern eine globale Wirtschaftsmacht zu werden. Es geht also nicht um das Individuum, sondern um das Kollektiv.

Insofern passt das chinesische Modell eigentlich sehr gut zur Ideologie des Sozialismus. Der Sozialismus will eine Gesellschaft planen, der Einzelne spielt keine Rolle, sondern nur das Ganze zählt. Dieser Konstruktivismus, eine Gesellschaft zentral formen und konstruieren zu können, sind der Stammesgesellschaft entlehnt.

Mayer sieht in der europäischen Antwort auf diese Stammesgesellschaft keine wirkliche Alternative. Diese Antwort ist der behütende Wohlfahrtsstaat. Und auch der besteht in dem Versuch, menschliche Nähe und Geborgenheit staatlich zu oktroyieren. Das Elterngeld, die Mütterrente und das Baukindergeld in Deutschland sind nur die populärsten Beispiele. Insofern unterscheidet sich der Wohlfahrtsstaat nicht fundamental von dem „make America great again“-Ansatz Donald Trumps. Wer die Stahlarbeiter in Detroit durch Zölle schützen will, unterscheidet sich nur marginal von denjenigen, die mittels staatlicher Interventionen Familienplanung beeinflussen möchte. Beide wollen, dass die eigene Stammesgesellschaft nicht untergeht.

Diese Verunklarung der Freiheitswerte des Westens sind gleichzeitig der Grund für dessen Niedergang. Deren Klarheit in der Phase des klassischen Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts war die Ursache für dessen Überlegenheit gegenüber anderen Gesellschaftssystemen: Die Orientierung am Einzelnen und an seinen individuellen Rechten. Daraus entwickelte sich eine Eigentumsordnung, die rechtssicher Eigentum erwerben ließ und übertragen konnte. Daraus entwickelte sich der Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht. Könige, Fürsten oder Regierungen standen nichtüber dem Recht, sondern waren ihm untergeordnet. Aufgabe des Staates war es, die äußere und innere Sicherheit zu schützen. Das wird für einen liberalen Staat heutiger Prägung nicht ganz ausreichen. Auch Friedrich August von Hayek wollte letztlich auf eine soziale Grundsicherung nicht verzichten. Die Sogkraft, die politischen Systemen inhärent ist, ließ ihn den Vorschlag machen, ein Zwei-Kammer-Parlament einzuführen. Die eine Kammer sollte Gesetze erlassen und die andere Kammer ausschließlich die Regierung kontrollieren. Erstere sollte von Frauen und Männer besetzt sein, die Lebenserfahrung mitbrächten und für eine längere Zeit gewählt würden, damit sie sich weniger um ihre Wiederwahl und ihre Stellung in der Partei bemühen müssten. Hayek wollte Politikern und Regierungen institutionelle Fesseln anlegen, um deren Macht nicht immer weiter anwachsen zu lassen.

Eine Rückbesinnung auf den klassischen Liberalismus ist freilich nicht durch einen großen Knall zu erreichen, sondern – Mayer weißt zurecht auf Karl Popper Stückwerk-Technik hin – von vielen kleinen Schritten. Rom ist bekanntlich auch nicht an einem Tag entstanden. Freilich steht und fällt das ganze Projekt auch mit der Bereitschaft, diese Schritte zu tun – auch gegen Widerstände von allen Seiten. Mayers Buch ist dazu eine intellektuelle Ermutigung.

Thomas Mayer: Die Ordnung der Freiheit und ihre Feinde, Finanzbuchverlag München, 2018

Photo: Mark Fahey from Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Putin, Trump, Erdogan, Orban – aber auch Merkel, Macron, Trudeau … Überall blicken die Leute auf Männer und Frauen, von denen sie sich Rettung versprechen. Dabei kamen die wirklichen Fortschritte für die Freiheit nie von den Führern, sondern stets von den Bürgern.

Die Wiederkehr der Faszination Macht

Die Faszination, die von Macht ausgeht, steckt scheinbar in unseren Genen. Durch die vielen Epochen der Geschichte hindurch erstarrten die Menschen vor Ehrfurcht, wenn die Zarin Katharina in der Kutsche an ihnen vorbeifuhr oder wenn sie auf dem Forum Romanum einen Blick auf Caesar erheischen konnten. Sie versprachen sich Weltfrieden von Gorbatschow und Befreiung von Fidel Castro. Wenn nur der richtige Mann das Ruder des Staates übernähme, dann würden Sorgen und Nöte für immer vertrieben.  Heute richten die einen ihre hoffnungsvollen Blicke auf den russischen oder amerikanischen Präsidenten, während die anderen auf den französischen Newcomer oder die „Anführerin der freien Welt“ setzen.

Sorgenfreie Zeiten wie die 1990er Jahre brachten eher Pragmatiker an die Macht. Doch mit den Verwerfungen, die sich in den letzten Jahren seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise ergeben haben, kam das Zeitalter der starken Männer zurück. Obama war einer der ersten, der auf dieser Welle reiten konnte. In China begann die Ära der Abkehr vom Pragmatismus mit dem Wechsel zum derzeitigen Präsidenten Xi Jinping. Putin wurde immer tollkühner bei seinen außenpolitischen Husarenstücken. Die Wähler Mittel- und Osteuropas suchten zunehmend ihr Heil in schillernden Charismatikern. Sebastian Kurz hat in Österreich eine traditionsreiche Partei genauso im Handstreich gekapert wie Jeremy Corbyn in Großbritannien. Und inzwischen werden sogar der Ober-Pragmatikerin Merkel messianische Wunderkräfte zugeschrieben.

Überbietungswettbewerb der Weltretter

Man könnte dieses Phänomen achselzuckend hinnehmen und einfach auf die lange Liste menschlicher Schwächen setzen. Allerdings sind die Folgen so gravierend, dass wir eigentlich alles daran setzen sollten, es zu eliminieren – in unseren Gewohnheiten wie in unseren Erzählungen. Die offensichtlichste Konsequenz ist, dass man mit dem Ruf nach dem starken Mann oder der starken Frau deren Herrschaft legitimiert. Damit bereitet man häufig nicht nur den Weg für den Ausbau von Machtstrukturen, sondern auch für deren eklatanten Missbrauch, wie man derzeit besonders anschaulich bei dem philippinischen Präsidenten Duterte beobachten kann. Manche starke Persönlichkeit ward gerufen und ersehnt, um dann mit Hilfe von Gewalt und Unterdrückung am Sessel der Macht festzukleben: Mugabe, Chavez, Erdogan …

Doch es kommen ja nicht nur Irre und Kriminelle in Amt und Würden aufgrund der Sehnsucht nach der starken Person. Kurz und Macron werden versuchen, das aus ihrer Sicht Beste zu tun für ihr Land. Und auch nur so lange, wie sie demokratisch legitimiert sind. Trotzdem sind sie ein Problem. Denn sie suggerieren durch ihr Auftreten und ihre Botschaften, dass sie in der Lage wären, grundlegende Probleme in den Griff zu bekommen. Der Blick in die Geschichte lehrt freilich, dass es ihnen niemals so gelingen wird, wie sie behaupten. Die Folge ist häufig, dass sich viele Menschen frustriert den noch simpleren Heilsbringern zuwenden, anstatt ihre Erwartungen an die Politik zurückzuschrauben. Es gibt dann eine Art Überbietungswettbewerb der Weltretter.

Macht korrumpiert auch die Untertanen

Ein weiteres Problem mit dem Konzept der starken Frauen und Männer ist, dass die Bürger immer mehr übersehen, vergessen und verdrängen, dass sie selber für die Lösung von Problemen zuständig sind. Das französische System wird sich nur reformieren, wenn sich bestimmte Mentalitäten ändern. Die USA werden erst dann „great again“, wenn sich der Unternehmergeist wieder breitmacht, der dieses Land zu seiner jetzigen Größe und Bedeutung geführt hat. Das Heil der Türkei liegt nicht in militärischer Stärke und der Unterdrückung von Minderheiten. Russlands Zukunft kann nicht auf Raketen bauen und Chinas nicht auf 4,3 Millionen Soldaten. Und Indiens Weg aus der Armut führt nicht über die Exklusion von Muslimen, sondern über gesicherte Eigentumsrechte. All die Lösungsvorschläge der Mächtigen führen dazu, dass Bürger ihre Verantwortung für das Gemeinwesen delegieren an die starken Männer. Und so korrumpiert Macht nicht nur diejenigen, die sie innehaben, sondern auch diejenigen, die sie anderen bereitwillig zugestehen. Die sich bequem zurücklehnen und ihr Schicksal in die Hand der Mächtigen legen.

Die wesentlichen Verbesserungen unseres Lebens sind nicht Ergebnis großer Taten großer Männer. Sie sind die Folge des Handelns vieler mutiger und optimistischer Individuen. Was Not tut in der Politik, sind nicht die „Retter des Abendlandes“ und „Anführerinnen der freien Welt“, sondern selbstbewusste Bürger, die sich Verantwortung weder abnehmen lassen noch sie abschieben. Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Toleranz und Demokratie sind das Ergebnis des Engagements einzelner, die diese Werte und Prinzipien in ihrem Alltag leben. Wie der geniale schottische Philosoph Adam Ferguson einmal schrieb: sie sind „Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Planens“. Und darum kann die Lösung unserer Probleme auch nicht von den Mächtigen dieser Welt kommen. Wirklich verantwortungsbewusste Politiker werden keine umfassenden Heilsversprechen machen, sondern Bedingungen schaffen und Hürden beseitigen, damit die Bürger ihre Probleme selber lösen können.

Photo: Roberto Latxaga from Flickr (CC BY 2.0)

Dieser Aufruf wurde initiiert von unserem Kuratoriumsvorsitzenden Prof. Dr. Thomas Mayer (Flossbach von Storch Research Institut), Prof. Dr. Dirk Meyer (Helmut-Schmidt-Universität), Prof. Dr. Gunther Schnabl (Universität Leipzig) und Prof. Dr. Roland Vaubel (Universität Mannheim). Unterzeichnet haben ihn inzwischen 156 Wirtschafts-Professoren.

Wir – 156 Wirtschaftsprofessoren – warnen davor, die europäische Währungs- und Bankenunion noch weiter zu einer Haftungsunion auszubauen. Die in der Berliner Koalitionsvereinbarung erwähnten Vorschläge des französischen Präsidenten Macron und des EU-Kommissionschefs Juncker bergen hohe Risiken für die europäischen Bürger.

  1. Wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wie geplant als Rückversicherung für die Sanierung von Banken (Backstop) eingesetzt wird, sinkt für Banken und Aufsichtsbehörden der Anreiz, faule Kredite zu bereinigen. Das geht zu Lasten des Wachstums und der Finanzstabilität.
  2. Wenn der ESM wie geplant als „Europäischer Währungsfonds“ (EWF) in EU-Recht überführt wird, gerät er unter den Einfluss von Ländern, die der Eurozone nicht angehören. Da einzelne Länder bei dringlichen Entscheidungen des EWF das Vetorecht verlieren sollen, könnten Gläubigerländer überstimmt werden. So würde zum Beispiel der Deutsche Bundestag sein Kontrollrecht verlieren.
  3. Wenn die Einlagensicherung für Bankguthaben wie geplant vergemeinschaftet wird, werden auch die Kosten der Fehler sozialisiert, die Banken und Regierungen in der Vergangenheit begangen haben.
  4. Der geplante europäische Investitionsfonds zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und der geplante Fonds zur Unterstützung struktureller Reformen dürften zu weiteren Transfers und Krediten an Euroländer führen, die es in der Vergangenheit versäumt haben, die notwendigen Reformmaßnahmen zu ergreifen. Es wäre falsch, Fehlverhalten zu belohnen. Über das Interbankzahlungssystem TARGET2 hat Deutschland bereits Verbindlichkeiten der EZB in Höhe von mehr als 900 Milliarden Euro akzeptiert, die nicht verzinst werden und nicht zurückgezahlt werden müssen.
  5. Ein Europäischer Finanzminister mit Fiskalkapazität würde als Gesprächspartner der EZB dazu beitragen, dass die Geldpolitik noch stärker politisiert wird. Die sehr umfangreichen Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (2550 Milliarden Euro bis September 2018) kommen schon jetzt einer Staatsfinanzierung über die Zentralbank gleich.

Das Haftungsprinzip ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Die Haftungsunion unterminiert das Wachstum und gefährdet den Wohlstand in ganz Europa. Dies zeigt sich bereits jetzt in einem sinkenden Lohnniveau für immer mehr, meist junge Menschen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückzubesinnen.

Es gilt, Strukturreformen voranzubringen, statt neue Kreditlinien und Anreize für wirtschaftliches Fehlverhalten zu schaffen. Die Privilegierung der Staatsanleihen in der Risikovorsorge der Banken ist abzuschaffen. Die Eurozone braucht ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten und ein geordnetes Austrittsverfahren. Die Kapitalmarktunion sollte vollendet werden – auch weil internationale Kapitalbewegungen asymmetrische Schocks kompensieren. Bei der EZB sollten Haftung und Stimmrechte miteinander verbunden werden. Die TARGET-Salden sind regelmäßig zu begleichen.  Die Ankäufe von Staatsanleihen sollten ein schnelles Ende finden.

 

Alle Unterzeichner

Hanjo Allinger, Rainer Alt, Peter Altmiks, Niels Angermüller, Gerhard Arminger, Philipp Bagus, Hartwig Bartling, Christian Bauer, Alexander Baumeister, Dirk Baur, Hanno Beck, Peter Bernholz, Norbert Berthold, Dirk Bethmann, Ulrich Blum, Christoph Braunschweig, Gerrit Brösel, Martin-Peter Büch, Walter Buhr, Rolf Caesar, Ronald Clapham, Erich Dauenhauer, Frank Daumann, Dietrich Dickertmann, Leef Dierks, Gerd Diethelm, Alexander Dilger, Juergen B. Donges, Norbert Eickhof, Alexander Eisenkopf, Mathias Erlei, Rolf Eschenburg, Stefan Felder, Robert Fenge, Cay Folkers, Siegfried Franke, Jan Franke-Viebach, Michael Frenkel, Andreas Freytag, Wilfried Fuhrmann, Werner Gaab, Gerhard Gehrig, Thomas Glauben, Frank Gogoll, Robert Göötz, Christiane Goodfellow, Rüdiger Grascht, Alfred Greiner, Heinz Grossekettler, Andrea Gubitz, Gerd Habermann, Hendrik Hagedorn, Gerd Hansen, Rolf Hasse, Klaus-Dirk Henke, Henner Hentze, Thomas Hering, Bernhard Herz, Stefan Hoderlein, Stephan Hornig, Guido Hülsmann, Jost Jacoby, Hans-Joachim Jarchow, Thomas Jost, Markus C. Kerber, Henning Klodt, Michael Knittel, Leonard Knoll, Andreas Knorr, Manfred Königstein, Ulrich Koester, Stefan Kooths, Walter Krämer, Dietmar Krafft, Rainer Künzel, Britta Kuhn, Werner Lachmann, Enno Langfeldt, Andreas Löhr, Tim Lohse, Helga Luckenbach, Reinar Lüdeke, Dominik Maltritz, Gerald Mann, Thomas Mayer, Dirk Meyer, Joachim Mitschke, Renate Ohr, Michael Olbrich, Werner Pascha, Hans-Georg Petersen, Wolfgang Pfaffenberger, Ingo Pies, Werner Plumpe, Mattias Polborn, Thorsten Polleit, Niklas Potrafke, Bernd Raffelhüschen, Bernd-Thomas Ramb, Richard Reichel, Hayo Reimers, Stefan Reitz, Rudolf Richter, Wolfram F. Richter, Gerhard Rösl, Roland Rollberg, Alexander Ruddies, Gerhard Rübel, Dirk Sauerland, Karlhans Sauernheimer, Andreas Schäfer, Stefan Schäfer, Wolf Schäfer, Malcolm Schauf, Bernd Scherer, Jörg Schimmelpfennig, Ingo Schmidt, Dieter Schmidtchen, Michael Schmitz, Gunther Schnabl, Jan Schnellenbach, Bruno Schönfelder, Siegfried Schoppe, Jürgen Schröder, Christian Schubert, Alfred Schüller, Peter M. Schulze, Thomas Schuster, Christian Seidl, Hans-Werner Sinn, Fritz Söllner, Peter Spahn, Jürgen Stark, Wolfgang Ströbele, Stefan Tangermann, H. Jörg Thieme, Stefan Traub, Dieter Tscheulin, Ulrich van Suntum, Roland Vaubel, Stefan Voigt, Hermann von Laer, Hans-Jürgen Vosgerau, Adolf Wagner, Heike Walterscheid, Gerhard Wegner, Rafael Weißbach, Heinz-Dieter Wenzel, Max Wewel, Hans Wielens, Otto Wiese, Rainer Willeke, Manfred Willms, Dietrich Winterhager, Michael Wohlgemuth, Hans-Werner Wohltmann, Achim Zink.

Photo: Kenneth C. Zirkel from Wikimedia Commons (CC BY SA 4.0)

Über den Tellerrand hinauszublicken, ist oft hilfreich. Erlaubt es doch den Blick in bis dahin unbekannte Gefilde. So geht es vielleicht vielen, die das Buch „Freie Privatstädte – Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt“ von Titus Gebel in die Hand nehmen. Darin führt Gebel seine Leser ein in die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens.

Er beschreibt die vielen Fehlanreize unseres Steuer- und Sozialsystems, die Bevormundung des Staates gegenüber den Bürgern und plädiert daher insgesamt für weniger Staat. Als Jurist kennt er die Probleme der Machtbegrenzung der Politik und erwartet, durch mehr Systemwettbewerb zu besseren Ergebnissen zu kommen. Sein Modell freier Privatstädte ist für ihn eine alternative Ordnung zum herkömmlichen Nationalstaat. Als erfolgreicher Unternehmer sieht er darin sogar ein Geschäftsmodell. Ihm schwebt ein Betreibermodell vor, das als gewinnorientiertes Unternehmen eine Dienstleistung anbietet, für die die Vertragspartner bezahlen müssen. Die Teilnahme an und der Verbleib in der Privatstadt ist freiwillig. Die Aufnahme in die Privatstadt regelt der Betreiber nach eigenen Regeln, die vertraglich mit den Nutzern vereinbart werden. Streitigkeiten sollen vor einem unabhängigen Schiedsgericht geklärt werden.

Das klingt utopisch, ist es aber nicht. Historisch gab es zahlreiche erfolgreiche Beispiele. Die Stadtstaaten der Antike, die Reichsstädte oder der Städtebund der Hanse im Mittelalter, um nur einige zu nennen, haben über Jahrhunderte existiert. Der heutige Nationalstaat ist eher eine jüngere Erfindung. Wer im Mittelalter die Freiheit aus der Leibeigenschaft erlangen wollte, musste in eine freie Reichstadt gelangen und dort ein Jahr lang verweilen ohne gefangen genommen zu werden. „Stadtluft macht frei“ galt daher wörtlich. Freie Städte waren historisch Horte der Freiheit.

Auch in der Gegenwart gibt es solche Beispiele: Monaco, Hong Kong und Singapur sind jeweils Städte mit unterschiedlicher Autonomie und Ausgestaltung. Gebels theoretisches Modell einer freien Privatstadt erinnert an das Fürstentum Monaco. Nicht ganz ohne Grund lebt er dort mit seiner Familie. Fast wie eine Aktiengesellschaft wird das Fürstentum geführt. Seit dem späten Mittelalter ist es ein souveräner Staat. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts lebten lediglich 300 Menschen dort. Heute sind es 38.000 Menschen. 50.000 Menschen arbeiten dort. Faktisch keine Kriminalität, keine direkten Steuern und keine Schulden machen den Ministaat so attraktiv, dass es hohe „Eintrittsgelder“ für eine Wohnrecht in Monaco gibt.

Eine andere Möglichkeit der Machtbegrenzung sieht er im Wettbewerb der Rechtssysteme. In Schwellen- und Entwicklungsländern entfaltet das dortige Rechtssystem kein Vertrauen. Wer etwas erreichen will, kommt meist auf normalen Wegen nicht weiter. Daher sind dort Korruption und Vetternwirtschaft dominierend. Gebel greift eine Idee des amerikanischen Ökonomen Paul Romer auf, der vorgeschlagen hat, in solchen Ländern die Auswahl aus unterschiedlichen Rechtsystemen zuzulassen. Sonderwirtschaftszonen sollen dies ermöglichen. Das hat durchaus seinen Charme. Nach der fortdauernden Krise in Griechenland, einer nicht funktionierenden Bürokratie und einem mangelnden Schutz privaten Eigentums, wäre es doch überlegenswert, eine Sonderwirtschaftszone dort einzurichten, in der zum Beispiel englisches Recht gilt. Wer Personal einstellt, kann das vielleicht auch nach deutschem Recht tun. Und wer Gesellschaftsverträge schließt, macht dies nach amerikanischem Recht. Ein Wettbewerb der Rechtssysteme in einem Land und nicht wie derzeit in jeweils unterschiedlichen Staaten wäre doch ein Versuch wert.

Titus Gebels Buch ist ein leidenschaftliches, kundiges und innovatives Plädoyer für Individualität und Dezentralität. Der Autor misstraut Politikern und Regierungen. Sie neigen dazu, immer mehr Macht auszuüben, um Sondervorteile auf Kosten Dritter zu erlangen. Daher plädiert er für eine Machtbegrenzung der Regierungen. Er will die etablierten Staaten durch seine Idee der freien Privatstädte in eine Wettbewerbssituation bringen, die diese zwingen, sich selbst zu verändern. Dabei strebt er keine Revolution an, sondern hofft, durch den Wegzug einiger einen evolutorischen Prozess zum Besseren einleiten zu können. Am Beginn seines Buches zitiert er Christoph Heuermann: „Gehe dorthin, wo Du am besten behandelt wirst.“

Titus Gebel: Freie Privatstädte – Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt, Aquila Urbis Verlag Walldorf, 2018