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Photo: Greg Neate from flickr (CC BY 2.0)

Unverantwortliche Finanzberatung steht zur Recht in der Kritik. Dass es andere Möglichkeiten gibt, dagegen vorzugehen als nur noch mehr Regulierung und noch ausführlichere Beratungsprotokolle, zeigt das Beispiel Australien.

Anlegen statt umverteilen

Wie in Neuseeland, Skandinavien und selbst in Deutschland waren es vor dreißig Jahren in Australien Sozialdemokraten, die die Notwendigkeit von Reformen erkannten und den Mut und die Energie aufbrachten, diese auch durchzuführen. Im Fall des Landes am entgegengesetzten Ende der Welt, war insbesondere das Rentensystem auf der Reformagenda. Aus Sicht der damaligen Regierung Hawke war es langfristig nicht mehr finanzierbar. Ein neues sollte her, das weiterhin jedem Australier ein Auskommen im Alter ermöglichen sollte, allerdings ohne dazu einen gewaltigen Umverteilungsapparat in Betrieb zu halten.

Auf drei Säulen sollte das neue System solide ruhen: Eine minimale staatliche Grundsicherung bei nachgewiesener Bedürftigkeit. Eine allgemeine Pflichtabgabe aller Arbeitnehmer an einen Rentenfonds. Und natürlich noch weitere Möglichkeiten zur freiwilligen Zusatzversicherung. Interessant ist vor allem die zweite Säule: Die Pflichtabgabe, die derzeit 9,5 % des Lohns beträgt, wird an unterschiedliche Anbieter zur Fondsverwaltung entrichtet. Der Arbeitnehmer hat die Möglichkeit, zu wählen, welchem Anbieter er seine Rentenrückstellungen anvertraut. Eine Mehrheit der Arbeitnehmer macht von diesem Recht jedoch keinen Gebrauch, so dass in diesen Fällen der Arbeitgeber entscheidet, in welchen Fonds die Abgabe eingezahlt wird. Im Gegensatz zum Arbeitnehmer muss er allerdings aus einer Reihe von staatlich zertifizierten Anbietern auswählen.

Der höhere ökonomische Bildungsstand

Weil die Rentensicherheit in Australien von klugen Finanzberatern abhängt, gibt es – wenig überraschend – eine erheblich größere und ausdifferenziertere Beratungsbranche in Australien als in vielen anderen Ländern. So hat das 23-Millionen-Land Australien mit 20.000 Finanzberatern ebenso viele wie das fast drei Mal so große Großbritannien. 2015 betrug das Gesamtvolumen der unterschiedlichen Fonds etwas über 2 Billionen Australische Dollar (ca. 1,4 Billionen Euro). Dabei gibt es eine Bandbreite von unterschiedlichen Investitionsmöglichkeiten. Die fundamentalste Unterscheidung ist die zwischen selbstverwalteten und treuhänderisch verwalteten.

Eine ganze Reihe von Australiern trauen sich offenbar zu – natürlich meist mit der Unterstützung von Finanzberatern –, selber über die Anlage ihrer Rückstellungen zu entscheiden. Fast 30 % des Gesamtvolumens steckt in kleinen, selbstverwalteten Fonds mit weniger als vier Mitgliedern. Das bedeutet natürlich, dass in Australien ein erheblich größerer Anteil der Bevölkerung darum bemüht ist, sich zumindest ein gewisses Grundverständnis für Finanzgeschäfte anzueignen, als in vielen anderen Ländern. Unter den treuhänderisch verwalteten sind die von Banken und Versicherern aufgelegten Fonds mit 26 % des Gesamtvolumens die beliebtesten; gefolgt von Industriefonds, die von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gemeinsam aufgelegt werden (22 %); Fonds für Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes (17 %); und schließlich Unternehmensfonds von einigen der größeren Firmen im Land (3 %).

Durch Marktdruck disziplinieren

Klar, wenn fast das gesamte Rentenvermögen eines Landes investiert wird, ist das nicht ganz ohne Risiko. Die Finanzkrise 2008 traf auch australische Rentner durchaus empfindlich. Es gibt aber auch genügend Beispiele von Staaten, die durch Misswirtschaft die Rentensicherheit aufs Spiel setzen. Und im Gegensatz zu Staaten können Fonds erheblich schneller wieder aus einer Schwächephase herauskommen. Zumindest wenn sie verantwortlich und klug verwaltet werden …

Um diese verantwortliche Verwaltung sicherzustellen, wird immer rasch nach dem Staat gerufen. Der Staat ist mit dieser Aufgabe aber notorisch überfordert. In der Regel reguliert er nur hinterher, nicht voraus. Eine wesentlich bessere Methode, um Solidität bei der Finanzberatung zu garantieren, ist der Druck des Marktes. Wenn wie in Australien der größte Teil des Rentenvermögens in Fonds steckt, dann lastet natürlich ein massiver Druck auf deren Managern, klug und verantwortlich, nachhaltig und langfristig zu investieren. Diejenigen die ihre Rentenfonds selbst verwalten, sind sich ohnehin bewusst, wie viel von ihrem verantwortlichen Handeln abhängt. Und die Treuhandverwalter werden viel mehr darauf achten müssen, nicht in Misskredit zu geraten als dort, wo der Staat die Renten garantiert. Natürlich ist eine ganz klare Haftungsregelung die Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines solchen Systems.

Eine Kultur der Verantwortlichkeit

Wenn alle – Verbraucher, Anbieter und auch staatliche Stellen – stärker auf Solidität achten, entsteht über die Zeit eine Kultur der höheren Verantwortlichkeit. Die Casino-Kultur, die manche Exzesse der modernen Finanzwirtschaft hervorgebracht hat, gründet sich ja gerade darauf, dass der Staat explizit oder zumindest implizit versprochen hat, viele Risiken aufzufangen. Wer sich hingegen auf dem Markt bewähren muss ohne die staatlichen Garantien im Hintergrund, der wird schon erheblich vorsichtiger agieren. Gerade, wenn es um so essentielle Dinge wie Renten geht. Auch im Finanzsektor gilt, was der Ökonom Milton Friedman über Unternehmen schrieb:

„Es liegt im Eigeninteresse von General Electric oder General Motors oder Westinghouse oder Rolls Royce, dass sie einen Ruf als Produzenten dauerhafter und verlässlicher Güter besitzen. Das ist die Quelle ihres ‚goodwill‘ und trägt wahrscheinlich mehr zu ihrem Wert bei als alle Fabriken und Werke, die ihnen gehören.“

 

 

Die Bundesregierung hat in dieser Woche ein „nationales Programm für nachhaltigen Konsum“ beschlossen. Jetzt ist Vorsicht geboten. Denn sie meint damit nicht, dass Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel oder Kanzleramtsminister Peter Altmaier mehr Maß halten und mehr vom täglichen Kalorienkuchen an Dritte abgeben sollen. Sondern es geht im vom Kabinett beschlossenen Programm um nicht mehr und nicht weniger als um den hehren Anspruch, „heute so zu konsumieren, dass die Bedürfnisbefriedigung heutiger und zukünftiger Generationen unter Beachtung der Belastbarkeitsgrenzen der Erde nicht gefährdet wird.“ Mehr Pathos geht nicht!

Es bedeutet „auch eine kritische Auseinandersetzung mit unseren Lebensstilen und unserem Wohlstandskonzept“. Nichts gegen Selbstreflexion, aber wen meint die Bundesregierung mit „unseren Lebensstilen“ und „unserem Wohlstandskonzept“? Den Lebensstil der Kanzlerin, die gerne wandert? Oder meint sie Heiko Maas, der uns gerne überwacht? Oder ist es doch der Lebensstil von Frank-Walter Steinmeier, der schon berufsbedingt permanent durch die Welt jetten muss? Mit welchem dieser Lebensstile sollen wir uns gründlich auseinandersetzen? Und was ist mit der Auseinandersetzung mit „unserem Wohlstandskonzept“ gemeint? Soll der Staat seinen Wohlstand zurückfahren – Schwimmbäder, Theater und Museen schließen? Oder geht es doch um etwas anderes? Geht es darum, dass die Regierung uns mehr an die Hand nehmen will. Vater Staat sagt, was die kleinen Bürger zu tun und zu lassen haben. Und wer nicht brav ist und folgt, darf abends nicht fernsehen.

Also geht es doch um all das, was die neuen Jakobiner uns aufs Auge drücken wollen: Weniger Fleisch essen, weniger Autofahren, die Hauswand begrünen und damit die Welt vor dem sonst sicheren Untergang retten? Eine freie Gesellschaft hat eine andere Philosophie: Dort hat kein Mensch, keine Gruppe, keine noch so demokratisch gewählte Mehrheit und kein Staat das Recht, Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu sein.

Doch diese Regierung geht einen anderen Weg. Sie will uns zwangsbeglücken. Schon bald werden Forschungsgelder verteilt, Personal eingestellt, Programme aufgelegt, Gesetze und Verordnungen erfunden oder einfach nur in die richtige Richtung „gestupst“ (neudeutsch: Nudging), um den „nachhaltigen Konsum“ schwarz-roter Prägung umzusetzen. Die Grundlage für all das, liegt jetzt auf dem Tisch. Man könnte zum Schluß kommen und meinen, das Land und seine Menschen hätten aktuell andere Probleme – Flüchtlinge, Euro und so weiter, doch weit gefehlt. So will die Regierung ein Projekt „Slow Fashion“ fördern, welches „auf eine freiwillige Entschleunigung und damit einhergehende Einschränkung des Bekleidungskonsums durch eine Verlängerung der Nutzungsphase von Kleidung abzielt“. Vielleicht kann man dann auch noch erreichen, dass der Waschzyklus dieser Bekleidung verlängert wird. Das riecht dann etwas strenger, aber spart Wasser. Und bei der Kleidersammlung will sich die Regierung künftig auch beteiligen. Sie will die „Erhöhung des Einsatzes von Recyclingfasern, zum Beispiel durch das öffentliche Beschaffungswesen“ verbessern. Konsequenterweise sollen auch „klimafreundliche Urlaubsreisen“ gefördert werden. Dazu passt dann auch die Forderung nach einer Intensivierung der „Unterstützung des Fußverkehrs“ „z.B. durch Entwicklung einer Fußverkehrsstrategie für Deutschland“. Was folgt daraus? Am Besten Sie stornieren Ihre Urlaubsreise nach Mallorca und bleiben im Sommer zu Hause, da ist es eh am Schönsten!

Photo: Petra B. Fritz from Flickr

Photo: Universität Salzburg from Flickr (CC BY 2.0)

Umverteilung findet oft nicht von Reich zu Arm statt. Meist sind die Umverteilungsströme undurchsichtig und kommen am Ende doch nicht den Bedürftigen zugute. Zum Beispiel beim Thema Bildungsfinanzierung. Da lässt sich noch einiges ändern.

Akademiker sind teuer

Etwa 2,75 Millionen junge Menschen studieren derzeit in Deutschland. 1,35 Millionen befinden sich in der Ausbildung. Die Zukunftsaussichten beider Gruppen sind natürlich so unterschiedlich wie die Individuen selbst. Dennoch kann man relativ sicher sagen, dass die Mehrheit der Studierenden nicht hinter dem Steuer eines Taxis landen werden. Genauso wie die Mehrzahl der Auszubildenden wohl nicht in 25 Jahren selbständige Unternehmer mit saftigen Renditen sein werden. Akademiker, so eine OECD-Studie aus dem Jahr 2014, verdienen in Deutschland im Schnitt 74 Prozent mehr als Berufstätige, die weder Uni noch Fachhochschule oder Meisterschule besucht haben.

Akademiker verdienen aber nicht nur oft sehr ordentlich – sie kosten auch erstmal eine Zeit lang ordentlich Geld. Am billigsten sind, ausweislich des Statistischen Bundesamtes, übrigens Juristen, BWLer, Volkswirte und Sozialwissenschaftler, die pro Jahr mit etwa 3.600 Euro zu Buche schlagen. Verhältnismäßig günstig sind auch noch Sprach- und Kulturwissenschaftler (5.000 €), Ingenieure (6.580 €) oder Naturwissenschaftler und Mathematiker (8.670 €). Spitzenreiter sind mit großem Abstand die Humanmediziner, die Jahr für Jahr rund 31.000 € kosten. Das sind jetzt freilich nur die Kosten für das laufende Studium. Noch nicht mit eingerechnet sind zusätzliche Förderungen, Zuschüsse, Stipendien und Steuererleichterungen. Kurzum: Wir lassen uns Bildung etwas kosten.

Wir besuchen die Universität nicht, um der Gesellschaft zu nutzen

Bildung – so lassen uns Politiker und Meinungsmacher von Sonntagsrede zu Sonntagsrede immer wieder wissen –, Bildung ist eine Investition in die Zukunft. Stimmt ja auch irgendwie: der Ingenieur, der heute die Unibank drückt, wird morgen vielleicht den Automarkt revolutionieren. Die gut ausgebildete Juristin wird ihren Mitbürgern als Richterin oder Anwältin einen Dienst erweisen. Und der Kulturwissenschaftler wird als Literaturnobelpreisträger von morgen das deutschsprachige Kulturgut substantiell bereichern. Aber zunächst einmal investiert jeder Student nicht in die Zukunft eines Staatskollektivs, sondern in seine ganz eigene persönliche Zukunft.

Und es ist mitnichten verwerflich, dass er diese Investition nicht zuletzt auch im Blick auf bessere Verdienstmöglichkeiten tätigt (wobei Verdienst hier durchaus sehr viel mehr bedeuten kann als nur monetäres Einkommen – dazu gehören auch Reputation, Einfluss und persönliche Zufriedenheit). Der Student muss keineswegs beständig auch seinen möglichen gesellschaftlichen Nutzen im Auge haben. Der Haken an der Sache ist allerdings: er selbst investiert in der Regel wenig anderes als seine Zeit. Neben dem Semesterbeitrag entstehen meist keine finanziellen Kosten für ihn. Die werden nämlich umgelegt auf alle Steuerzahler.

Die Kindergärtnerin und die Patentanwältin

Das heißt konkret: Der Automechaniker-Azubi und dessen Mutter, die im Kindergarten arbeitet, finanzieren durch Einkommenssteuer, Mehrwertsteuer, Energiesteuer und Co. das Studium für die künftige Patentanwältin oder den künftigen Chefarzt. Wenn man sich den Mechanismus einmal so bildlich vor Augen führt, wird besonders anschaulich, wie aberwitzig das derzeitige System eigentlich ist. Bei dieser Umverteilung (wie auch bei vielen anderen) handelt es sich mitnichten um eine Maßnahme, um die Härten des Lebens für schlechter Gestellte abzufedern. Vielmehr werden Menschen, die niemals das Verdienstniveau von Akademikern erreichen werden, dazu genötigt, deren Ausbildung mitzufinanzieren.

Eine kurze Zeit lang, zu Beginn der 2000er Jahre, gab es in einigen deutschen Bundesländern ja schon einmal Studiengebühren, wenn auch in einem erheblich harmloseren Umfang als das etwa in Großbritannien oder gar in den USA der Fall ist. Im Zuge der Debatten um deren baldige Abschaffung war ein häufig vorgebrachtes Argument, man halte mit Studiengebühren gerade diejenigen vom Studium ab, für die Hürden ohnehin schon ziemlich hoch sind. Vor allem Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien, deren Eltern es sich nicht leisten können, diese Gebühren zu übernehmen oder vorzustrecken, seien somit benachteiligt. Der Einwand ist durchaus valide – der Schluss, das Studium wieder kostenlos zu machen, nicht.

Wer bestellt, sollte auch zahlen

Für einen Großteil der Studenten ist ihr Studium der Schlüssel zu einem späteren finanziellen Erfolg. Diesen Schlüssel sollten ihnen nicht andere zur Verfügung stellen müssen. Es gibt inzwischen zum Glück intelligentere Optionen zur Studienfinanzierung als einen Großkredit aufnehmen zu müssen. Die privaten Unis haben es vorgemacht: Seit 1995 hat die Universität Witten/Herdecke das Modell des „Umgekehrten Generationenvertrags“ – inzwischen wurde es auch von anderen privaten Universitäten und Hochschulen in Deutschland aufgegriffen. Studierende zahlen hier erst nach dem Studium, und zwar einen gewissen Prozentsatz ihres Einkommens.

In Großbritannien wurde auch zeitweise darüber debattiert, eine entsprechende Akademiker-Steuer einzuführen. Die nächste Steuer einzuführen, ist sicherlich keine gute Idee. Aber eine einkommensabhängige „Akademiker-Gebühr“, die auch ohne Umwege über den Steuersäckel direkt den Universitäten zufließt, wäre durchaus eine Erwägung wert. Mit der Kirchensteuer gibt es ja auch bereits ein bewährtes Verfahren, das man übernehmen könnte.

Das wäre übrigens auch eine gute Gelegenheit, um insgesamt darüber nachzudenken, wo man Steuern durch Beiträge ersetzen kann. Viel zu viele Bereiche in unserem Staat, gerade auf dem Gebiet der Infrastruktur im weiteren Sinne, werden unabhängig von ihrer Nutzung aus dem großen Steuertopf bezahlt. Das beste Mittel gegen eine Umverteilung, die beständig Ungerechtigkeiten produziert, ist es, denjenigen für eine Leistung zahlen zu lassen, der sie auch in Anspruch nimmt. Wer bestellt, sollte auch zahlen.

 

Photo: Kentaro Ohno from Flickr (CC BY 2.0)

Von Robert Benkens, Student der Politikwissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Germanistik.

Der postmoderne Glaube ist von einer Absage an alte Bindungen geprägt. Dazu zählt auch die Aufhebung nationalstaatlicher durch suprastaatliche Ordnungskonzepte, um den kosmopolitischen Weltbürger zu schaffen. Obwohl liberale Grundsätze und Werte per definitionem universell sind, können sie nur in kleinen politischen Einheiten mit Leben und Sinn gefüllt werden. Deshalb brauchen wir heute eine Stärkung des subsidiären Denkens – nicht nur in technischen Ordnungsfragen von Wirtschaft und Staat, sondern vor allem für die Vitalisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Doch bevor auf die aktuelle gesellschaftliche Bedeutung der Subsidiarität angesichts globaler Entgrenzung eingegangen werden kann: Auf welchem wirtschaftlichen und politischen Ideenhintergrund fußen die subsidiären Grundsätze eigentlich und was sollten sie bewirken? Das Prinzip der Subsidiarität geht vor allem auf die christliche Soziallehre zurück und fand seinen Ausdruck in ordnungs- und wirtschaftspolitischen Schriften zur sozialen Marktwirtschaft: Demnach soll alles, was auf der untersten Ebene einer Gesellschaft – etwa in der Familie oder der Gemeinde – entschieden und geregelt werden kann, nicht auf höhere Ebene verlagert werden. Nur wenn die untergebene Einheit sich aus eigenen Kräften sich nicht mehr selbst helfen kann, ist die übergeordnete gefragt.

Hierdurch wird die Eigenverantwortung und somit der wirtschaftliche Wettbewerb gestärkt, was zu Wohlstand führt – ohne dass sozial Schwache aufgrund mangelnder Hilfe (lat. subsidium) auf der Strecke bleiben und nur das Recht des Stärkeren gilt. Ganz im Gegenteil: Einerseits sorgt schon der Wettbewerb an sich für eine permanente Infragestellung wirtschaftlicher Machtpositionen und macht somit potentiell Wohlstand für alle Menschen möglich. Andererseits steht im Notfall für sozial Schwache aber auch die übergeordnete Einheit – meistens der Sozialstaat – ein. Das ist aber nur insofern angesagt, als dass die Bedürftigen auch wirklich bedürftig sind und nicht von Transfers und Subventionen abhängig bleiben.

Eine staatliche Rundumversorgung und Wirtschaftslenkung ist mit dem subsidiären Gedanken also nicht vereinbar, denn der Staat kann keinen Wohlstand oder Arbeitsplätze schaffen, sondern den Rechtsrahmen für Wettbewerb sowie gegen Korruption setzen, weiterhin kann er die notwendige soziale Hilfe zur Selbsthilfe nur garantieren, wenn vorher die notwendigen finanziellen Mittel von einer starken Wirtschaft erarbeitet wurden. Eine Politik, die diese elementaren subsidiären Grundsätze missachtet, führt zu immer mehr Staatsausgaben, zu immer neuen Schulden, zu Abhängigkeit von Finanzmärkten und schließlich zu Umverteilung von unten nach oben – denn die Schulden der Vielen sind die Guthaben der Wenigen.

Irrweg des Zentralismus

Zu diesen fatalen wirtschaftlichen Auswirkungen kommt es zudem umso eher mit umso weitreichenderen Auswirkungen, je größer der politische Machtbereich wird. So soll die politische Macht in Europa nun zur „Harmonisierung“ unterschiedlicher Wirtschafts- und Staatssysteme als Antwort auf die Krise gestärkt werden. Allein: Mehr Zentralismus kann keine Probleme lösen, die durch Zentralismus geschaffen wurden. In gewisser Weise manövriert sich zentralistische Politik immer in ein Dilemma. Denn einerseits nimmt sie den untergeordneten politischen Einheiten die Freiheit, selbst über ihr Fortkommen zu entscheiden. Andererseits halst sich eine solche Politik aber auch eine Verantwortung für diese Einheiten auf und muss mit immer mehr Erlassen und Gesetzen bis ins kleinste Dorf oder auch ins Wohnzimmer hineinregieren. Hinzu kommt: Je unterschiedlicher diese Einheiten strukturell und kulturell geschaffen sind, desto weniger werden einheitliche Maßnahmen auf unterschiedliche Bedingungen abgestimmt sein. Gleichzeitig ersetzt auf Seite der bevormundeten kleineren Einheiten das Anspruchsdenken gegenüber der Zentrale die Kooperationsbereitschaft gegenüber den anderen – ebenfalls bevormundeten – Einheiten: Denn wenn schon die Selbstbestimmung immer mehr zu Gunsten der Befugnisse der Zentrale verschoben wird, dann darf es bitte auch immer etwas mehr für einen selbst und immer etwas weniger für die anderen sein.

Die Folgen eines solchen Großversuchs können aktuell beobachtet werden: Schuldenhaftung für die einen, Spardiktat für die anderen – Zwietracht auf allen Seiten. Die große europäische Idee, die im Sinne des subsidiären Prinzips beispiellosen Wohlstand und Frieden durch wirtschaftlichen Handel und politische Kooperation geschaffen hat, verkommt so immer mehr zur Karikatur ihrer selbst. Die EU selber hat sich seit jeher das Subsidiaritätsprinzip als Ordnungsprinzip zwischen den Mitgliedsstaaten und der suprastaatlichen Ebene auf die Fahnen geschrieben. Sie muss deshalb nicht aufgelöst oder abgewickelt, sehr wohl aber subsidiär reorganisiert werden.

Die so häufig in Sonntagsreden proklamierte europäische Idee verkommt zur hohlen Phrase, wenn die Vielfalt Europas nicht mehr im gegenseitigen Miteinander gelebt, sondern nur noch superstaatlich betreut und verwaltet wird. Die in ihrer institutionellen Eigenlogik der immer weiteren Vereinheitlichung gefangene EU muss sich auf ihre Wurzeln besinnen: Die Einigung Europas gelang nicht deshalb, weil sie von einem sanktionierenden Super-Staat aufgezwungen wurde oder weitreichende Ansprüche gegen einen umverteilenden Super-Staat erhoben werden konnten, sondern weil sie durch wirtschaftlichen Handel, kulturellen Austausch und politische Kooperation der europäischen Länder notwendig und möglich wurde.

Zusammenwachsen statt Vereinheitlichung

Doch dieses Prinzip darf nicht auf ein rein marktwirtschaftliches Kosten-Nutzen-Kalkül oder auf ein politisch-bürokratisches Weisungsverhältnis in der EU reduziert werden. Denn was für die subsidiäre Ordnung auf der zwischenstaatlichen Ebene in Europa richtig ist, gilt auch für die europäischen Gesellschaften selber: Durch die Freiheit zur Selbstbestimmung in kleinen politischen Einheiten wird das so wichtige Verantwortungsbewusstsein der Menschen gestärkt, sowohl für sich selbst als auch für die Familie, den Verein oder die Gemeinde. Eigensucht ist nicht nur Folge einer wachsenden Konsumfixierung, sondern vor allem aufgelöster gesellschaftlicher Bindungen. Wo Menschen nicht mehr aufeinander, sondern nur noch auf den paternalistischen Staat angewiesen sind, kann kein gemeinsamer Wertekanon oder Bürgersinn entstehen.

Gerade aber offene und tolerante Gesellschaften brauchen trotz aller Unterschiede ein Mindestmaß an gemeinsamen kulturellen Werten, gerade um gegenüber der Intoleranz von Extremisten und Fundamentalisten stark zu sein. Der liberale Rechtsstaat schreibt zwar unmissverständlich die Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor, den vielbeschworenen gesellschaftlichen Zusammenhalt kann aber weder er noch sein Pendant – der Sozialstaat – leisten. Oder wie es der ehemalige Bundesverfassungsrichter Böckenförde ausdrückte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Denn wirklicher Zusammenhalt kann nur im Kleinen und auch nur dann gelingen, wenn die Individuen auch ein vitales Interesse an Bindungen haben, die notwendig sind, wenn sich nicht alle auf einen allzuständigen Vater-Staat verlassen können.

Eine Stärkung des Subsidiaritätsgedankens bedeutet aber gerade keinen nationalistischen Rollback – zumal dieser im besten Falle mit Isolation und im schlimmsten Falle mit Expansion einherginge, beides widerspricht subsidiären Grundsätzen in krassester Form. Niemals und nirgendwo war eine fundamentalistisch oder chauvinistisch legitimierte Gesellschaftsordnung besser und vor allem menschenwürdiger – davon kann sich jeder „Systemkritiker“ noch heute außerhalb Europas leider nur allzu häufig überzeugen. Eine Stärkung der Subsidiarität und die damit einhergehende Bedeutung der dezentralen, demokratisch-souveränen Gemeinschaften kann also gar keine Absage an europäische Kooperation bedeuten. Natürlich muss sich der Mensch von nationalistischen Bindungen, die die Freiheit bedrohen oder gar ersticken, befreien. Die Freiheit des Einzelnen ist schließlich der höchste Wert in einer liberalen Gesellschaft. Aber Freiheit wird in Großbritannien anders als in Griechenland verstanden, sie hat in Frankreich andere Institutionen und Strukturen hervorgebracht als in Deutschland.

Ein abstrakter europäischer Supranationalismus kann deshalb nicht die Lösung sein. Nicht nur, weil die planwirtschaftliche Harmonisierung unterschiedlichster Wirtschafts-, Rechts- und Sozialsysteme ökonomisch sinnlos ist und politisch zu enormen Spannungen führt, sondern weil diese Systeme trotz aller Gemeinsamkeiten auf den jeweiligen historisch gewachsenen kulturellen Bedingungen der einzelnen europäischen Gesellschaften beruhen, die nicht einfach per supranationaler Direktive ausgeblendet werden können.

Trotz der wirtschaftlich und politisch globalisierten Welt sind auch heute noch die demokratischen Nationalstaaten Grundlage für eine stabile Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die durch die zweifellos notwendige europäische und internationale Kooperation ergänzt, nicht aber ersetzt werden sollten.

Natürlich sind gerade liberale Gesellschaften nie starr und verändern sich ständig, dennoch muss dieser Veränderungswille – möglicherweise hin zu einer europäischen Identität – von unten erfolgen und darf nicht von oben durch Vereinheitlichung erzwungen werden. Deshalb wird das Subsidiaritätsprinzip in Zeiten von technokratischen Krisengipfeln heute mehr denn je benötigt: Wir brauchen moderne Bürgergemeinschaften, wo wirtschaftlicher Wohlstand und sozialer Zusammenhalt in dezentralen Strukturen gewährleistet werden. Denn nur eine solch subsidiäre Ordnung hält nicht nur die Auswirkungen von Machtmissbrauch und Misswirtschaft als Folgen des Zentralismus in Grenzen, sondern festigt auch jenseits von politischen Sonntagsreden den Zusammenhalt in und zwischen den europäischen Gesellschaften.

Erstmals erschienen in NovoArgumente.


Photo: Japanexpertena.se from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Europäische Union und mit ihr die europäische Idee der Freiheit stecken seit Jahren in einer Krise. Zwar ist der klassische Ost-West-Konflikt mit dem Fall der Mauer überwunden und viele ehemalige Ostblockstaaten sind inzwischen Mitglied der EU, dennoch hat man den Eindruck, dass sie am Scheideweg steht. Die Euro-Schuldenkrise und erst recht die Einwanderungs- und Flüchtlingskrise zerreißen förmlich den Zusammenhalt, der ja das Anliegen ist, das dem gesamten Projekt zugrunde liegt.

Ressentiments, Misstrauen, Erpressungen, Häme und Schadenfreunde sind an der Tagesordnung. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte während und zu der ersten Phase der Griechenland-Krise: „Wenn es ernst wird, muss man lügen“. Der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos drohte der Staatengemeinschaft Anfang 2015, wenn Europa Griechenland nicht ausreichend unterstütze, werde man die Flüchtlinge in Scharen weiterleiten. Und wenn unter den Flüchtlingen auch Mitglieder des IS sein sollten, sei Europa selbst schuld. Diese Beispiele zeigen: Es findet in ein Verfall der Sitten statt.

Warum ist das so? Haben die Bürger, die Politiker und die Regierungen nichts aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gelernt?

Wer nur moralisch argumentiert, vergisst, dass die Ursache dieser Entwicklung in der fehlenden Ordnungspolitik zu suchen ist. Walter Eucken, der in diesem Jahr 125 Jahre geworden wäre, gilt als entscheidender Wegbereiter unserer Wirtschaftsordnung. In seinen 1952 erschienen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ nannte er konstituierende Prinzipien für eine funktionierende Ordnungspolitik. Er zählte dazu gutes Geld, offene Märkt, Privateigentum, Haftung, Vertragsfreiheit und eine konstante Wirtschaftspolitik. Dies alles habe das Ziel, ein funktionierendes Preissystem sicherzustellen.

Wenn wir diese Prinzipien auf die aktuelle Situation in Europa abklopfen, dann wird klar, dass europäische Politik nicht prinzipienbasiert ist. GUTES GELD zerstört die EZB durch ihre Niedrigzinspolitik und die Staatfinanzierung durch die Notenpresse. OFFENE MÄRKTE drohen durch das Schleifen des Dublin-Abkommens durch Angela Merkel und die mangelnde Sicherung der EU-Außengrenzen zerstört zu werden. PRIVATEIGENTUM setzt die Verfügungsgewalt über das eigene Eigentum voraus. Staatlicher Paternalismus, seien es Mietpreisbremsen, Zwangsbegrünung von Häusern oder das staatlich verordnete Rauchverbot in Hotels- und Gaststätten, höhlen privates Eigentum aus, so dass es nur noch eine leere Hülle ist. Die HAFTUNG ist bei Staaten und Banken ein Fremdwort. Leben sie über ihre Verhältnisse, werden die Gewinne zuvorderst privatisiert und später die Lasten sozialisiert. Spätestens mit der Einschränkung der Bargeldzahlung und gar einem drohenden Verbot derselben wird klar, dass auch die VERTRAGSFREIHEIT immer mehr verschwindet. Das alles hat dann mit einer KONSTANZ DER WIRTSCHAFTSPOLITIK nichts zu tun. Die Regierung, die EU-Kommission und die EZB intervenieren immer stärker und willkürlich in Marktprozesse. Seien es so banale Dinge wie die Regulierung von Plastiktüten, Ölkännchen oder Glühbirnen. Oder so fundamentale Frage wie eine europäische Bankenaufsicht und eine einheitliche Einlagensicherung für alle Banken von Stockholm bis Saragossa.

Wenn die konstituierenden Prinzipien für eine funktionierende Wettbewerbsordnung nicht eingehalten werden, dann kann auch kein funktionsfähiges Preissystem existieren. Und ohne ein funktionierendes Preissystem kann wiederum keine Marktwirtschaft existieren.

Jetzt hilft es nicht, wenn die Brüsseler Bürokratie den Ausweg in einer größeren Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik sieht. Die mangelnde Koordinierung sei der Grund, wieso die Volkswirtschaften im Euro-Club immer weiter auseinanderfallen, heißt es bei den Befürwortern. Doch mehr Zentralismus heilt nicht die Prinzipienlosigkeit in Europa. Die Prinzipienlosigkeit ist gleichbedeutend mit dem Vorrang des Primats der Politik. Dieses Primat der Politik ist die Ursache der Krisen und gleichzeitig der Grund für die Verschleppung, Verschleierung und Verniedlichung der Probleme. Und dies wiederum ist der Grund, wieso extreme Parteien von rechts und links Wahlerfolge in Europa feiern. Es ist die Flucht des Wählers vor der Lösungsinkompetenz der etablierten Parteien. Und genau hier liegt die Chance für eine Bewegung, die die Marktwirtschaft, das Recht und die Freiheit des Einzelnen im Herzen trägt. Sie muss für ein Primat von Recht und Freiheit stehen, dem ein Primat der Politik untergeordnet ist. Sie zu nutzen, ist nicht nur eine Überlebensfrage für ein friedliches Europa, sondern für eine freie Gesellschaft.

Erstmals erschienen beim Liberalen Netzwerk.