Beiträge

Photo: DIE LINKE Nordrhein-Westfalen from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In Deutschland ist man stolz auf die Tarifautonomie und die Mitbestimmung. Sie gelten als Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Sie dienen dem sozialen Frieden im Lande. Manche meinen gar, es wäre das Soziale an der Marktwirtschaft bundesrepublikanischer Prägung. In der aktuellen Tarifauseinandersetzung der IG Metall mit den Metall-Arbeitgebern sagte gerade der IG-Metall-Chef Jörg Hofmann: „Solange die Arbeitgeber meinen, die Leistung und das Engagement der Beschäftigten mit diesem provokanten Angebot abspeisen zu können, werden wir mit Warnstreiks antworten.“ Starke Worte. Hier wird ein Gegensatz zwischen den Interessen der Unternehmen und der Mitarbeiter konstruiert.

Doch das ist die Klassenkampfrhetorik vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Noch fragwürdiger wird es, wenn die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes unter der Fahne von ver.di streiken. Sie haben kein Arbeitsplatzrisiko, und der Staat mit seinen Behörden steht nicht im internationalen Wettbewerb. Hier werden Eltern, die ihre Kinder in Kindergärten bringen oder Reisende, die an Flughäfen warten, in Beugehaft genommen für die Interessen von Gewerkschaftsfunktionären.

Diese Mitbestimmung ist von gestern. Können Arbeitnehmer ihre Lohnwünsche und Arbeitsbedingungen heutzutage wirklich nur durchsetzen, wenn Sie eine starke Gewerkschaft im Hintergrund haben?

Ein Blick in unser südliches Nachbarland, die Schweiz, zeigt Alternativen auf: Dort gibt es in der Regel keine kollektiven Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Den Lohn oder das Gehalt verhandelt der Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber direkt. Der Kündigungsschutz ist in der Schweiz auf ein Minimum reduziert. Und auch das gereicht dem Arbeitnehmer keineswegs zum Nachteil. Ganz im Gegenteil. Die Gehälter und der Wohlstand der Arbeitnehmer sind wesentlich höher als in Deutschland. In der Schweiz kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis in der Regel ohne bereits einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben zu haben. In einem Arbeitsmarkt, in dem Unternehmen händeringend Arbeitnehmer suchen, ist das auch kein Problem. Und kommt es zu Schwierigkeiten im Unternehmen, dann werden sie meist unkonventionell im Interesse des Unternehmens gelöst.

Als die Schweizer Notenbank die Bindung an den Euro Anfang 2015 aufgab und der Schweizer Franken kurzzeitig stark aufwertete, kamen viele Unternehmen von heute auf morgen unter enormen Kostendruck. Viele Mitarbeitervertretungen boten daraufhin aktiv den Unternehmen zeitnahe Arbeitszeiterhöhungen und Lohnkürzungen an, um den kurzfristigen Wettbewerbsnachteil auszugleichen. In Deutschland wäre dies unmöglich.

Die heimische Stahlindustrie ist heute in einer ähnlichen Situation. Sie steht unter enormem Kostendruck durch chinesische Unternehmen, die Überkapazitäten auf den Weltmarkt werfen und damit die Preise für Stahl ins Bodenlose fallen lassen. Die Antwort der deutschen Gewerkschaften sind Warnstreiks und Forderungen nach 5 Prozent Lohnerhöhung. Hier wird der Unterschied deutlich zwischen einer flexiblen Volkswirtschaft wie der Schweiz und einer verkrusteten wie Deutschland.

Dabei wollen in vielen Unternehmen die Arbeitnehmer keinen Betriebsrat und keinen Einfluss der Gewerkschaften. Insbesondere innovative Unternehmen der IT-Branche kennen weder einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad noch einen Betriebsrat. Dennoch können in Unternehmen egal welcher Größe fünf Arbeitnehmer einen Betriebsrat gründen und alle anderen Arbeitnehmer müssen dies akzeptieren. Und nicht genug. Anschließend verhandelt dieser Betriebsrat, der vielleicht nur eine verschwindende Minderheit im Unternehmen repräsentiert plötzlich für alle Arbeitnehmer im Unternehmen. Er entscheidet zum Beispiel mit, ob am Wochenende gearbeitet werden darf und damit wichtige Aufträge erledigt werden können oder nicht. Damit entscheidet er auch mit, ob ein Arbeitnehmer am Wochenende zusätzlich Geld verdienen kann oder nicht. Wehren kann sich der einzelne Arbeitnehmer dagegen nicht, auch wenn er und eine übergroße Mehrheit der Arbeitnehmer im Unternehmen gegen die Gründung des Betriebsrates waren.

Gemeinhin hat man aktuell den Eindruck, dass in Deutschland vieles gut läuft. Die Arbeitslosigkeit sinkt, das Wachstum ist intakt und der Staat schwimmt im Geld. Doch mangelnde Reformbereitschaft wirkt sich nicht im jetzt und heute aus, sondern kommt als Bumerang morgen und übermorgen zurück. Vielleicht ist das ja von Gewerkschaftsseite gewollt. Schon Lenin war der Auffassung: Es muss erst schlimmer werden, bevor es besser werden kann.

Photo: Francesco Gasparetti from Flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG.

Warum sollte eine kleine Gruppe von Menschen darüber entscheiden, wie Sie Ihr Leben zu führen haben? Insbesondere, wenn Sie diese Menschen weder beauftragt haben noch diese dazu besonders befähigt sind. Vielleicht geht es Ihnen wie mir und sind Sie stattdessen der Auffassung, dass Sie das Recht haben, Ihr Leben so zu gestalten, wie Sie dies selbst für richtig halten? Sie begehren nicht Mitbestimmung, sondern Selbstbestimmung? Dann gibt es eine Alternative: die Private City.

Sie beruht auf zwei Prinzipien: Erstens, dass jener, der anderen kein Leid zugefügt und für sich selbst sorgen kann, Anrecht darauf hat, in Ruhe gelassen zu werden. Auch von der Regierung oder der Mehrheit. Zweitens, dass die menschliche Interaktion, auch innerhalb grosser Gruppen, auf freiwilliger Basis und nicht auf der Basis von Zwang stattfindet. Heutige Staaten, Demokratien eingeschlossen, können keines der beiden Prinzipien garantieren. Sie basieren vielmehr auf der Verletzung derselben. Als Staatsbürger müssen Sie militärische Auslandseinsätze mitfinanzieren, Lehrstühle für Genderstudien, Subventionen für unwirtschaftliche Technologien, staatliche Fernsehsender – selbst wenn sie all dies ablehnen. Sie werden weiter gezwungen, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen abzuschliessen, egal ob Sie das wollen oder nicht. Sie dürfen keine Glühbirnen, leistungsstarken Staubsauger, Plastiktüten oder Zigaretten ohne Warnhinweise erwerben. Die Verbotsliste wird jedes Jahr länger. Mit anderen Worten: sie sind kein Kunde, sondern Untertan.

Praktisch alle Staaten dieser Welt funktionieren nach dem gleichen, seit Jahrtausenden unveränderten System: Eine durch Erbfolge, Putsch oder Wahl an die Macht gelangte Gruppe von Auserwählten bestimmt die Geschicke aller. Im Laufe der Zeit bildet sich um diese Gruppe herum eine wachsende Menge von Zuarbeitern und Günstlingen. Diese wollen sich dem Risiko des freien Marktes entziehen und Leistungen ohne adäquate Gegenleistung erhalten (sogenanntes Rent-Seeking). Daneben finden Interessengruppen und Einzelpersonen nach und nach heraus, dass sie über die Politik ihre Wünsche der Allgemeinheit in Rechnung stellen können. Dadurch steigen unvermeidlich die Zahl der Gesetze, die Steuerbelastung und die Staatsschulden immer weiter an. Produktivitätshemmnisse und Freiheitseinschränkungen vermehren sich.

Am Ende steht der Ruin bzw. der Zusammenbruch des jeweiligen Gemeinwesens – und das Spiel beginnt von neuem. Obgleich viele meinen, die westlichen Demokratien seien zu stabil, um diesem Mechanismus erliegen zu können, stellten gar das Ende der Geschichte dar, ist dem nicht so. Der aufgezeigte Prozess findet augenblicklich statt, und zwar genau so wie beschrieben. Leider unterliegen auch Gesetze und Verfassungen, welche die Rechte des einzelnen schützen, faktisch dem Willen der Mehrheit. Sie können von dieser jederzeit geändert oder «zeitgemäss» ausgelegt werden. Entsprechend ist in den westlichen Demokratien während der letzten hundert Jahre der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (Staatsquote) von durchschnittlich 12 Prozent auf 50 Prozent gestiegen. Von 1979 bis heute wuchsen allein die deutschen Staatsschulden von 64 Milliarden auf 2000 Milliarden Euro.

Die zehn Grundregeln

Es gibt einen Ausweg. Staaten existieren, weil offenbar eine Nachfrage nach ihnen besteht. Eine staatliche Ordnung schafft einen Rahmen, innerhalb dessen der Mensch sozial interagieren und friedlich Leistungen und Güter tauschen kann. Das Bestehen von Sicherheit und festen Regeln macht es möglich, dass Menschen in grosser Zahl mit- und nebeneinander leben können. Ein derartiges Zusammenleben ist so attraktiv, dass dafür auch erhebliche Freiheitseinschränkungen akzeptiert werden. Vermutlich würden selbst die meisten Nordkoreaner das Verbleiben in ihrem Land dem freien, aber einsamen Robinson-Dasein vorziehen.

Wenn man nun die Leistungen des Staates bieten und gleichzeitig dessen Nachteile vermeiden könnte, hätte man ein besseres Produkt geschaffen. Nach über 30 Jahren politischer Aktivität bin ich zum Schluss gekommen, dass echte Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung auf demokratischem Wege nicht zu erreichen ist. Diese Werte werden schlicht nicht ausreichend nachgefragt. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr gelangte ich zu der Überzeugung, dass Staatsdienstleistungen rein privatwirtschaftlich von Unternehmen angeboten werden können und dass ich ein solches Unternehmen gründen möchte. Alles, was wir vom Markt her kennen, lässt sich auf unser Zusammenleben übertragen: die enorme Vielfalt des Produktangebotes, das Recht, etwas nicht zu kaufen, was uns nicht gefällt, und schliesslich der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Produkten, der dafür sorgt, dass diese immer billiger und immer besser werden. Der «Staatsdienstleister» bietet auf einem abgegrenzten Territorium ein bestimmtes Modell an und nur derjenige, dem dies zusagt, siedelt sich dort an. Solche Konzepte müssen attraktiv sein, sonst kommt niemand bzw. wandert man wieder ab in andere Systeme.

In einer solchen Private City erhalten Interessenten vom Betreiber ein Vertragsangebot. In diesem Vertrag ist klar niedergelegt, welche Leistungen er erbringt. Dies umfasst eine Basisinfrastruktur, Polizei, Feuerwehr, Notfallrettung, einen rechtlichen Rahmen sowie eine unabhängige (Schieds-)Gerichtsbarkeit, damit Bewohner ihre berechtigten Ansprüche auch in einem geregelten Verfahren durchsetzen können. Diese Basisleistungen sind nicht abdingbar, die dafür jährlich anfallenden Kosten jedoch klar beziffert. Man bezahlt mithin nur, was man mit Vertragsschluss auch bestellt hat. Jeder Bewohner hat einen Rechtsanspruch darauf, dass der Vertrag eingehalten wird, und einen Schadensersatzanspruch bei Schlechterfüllung. Um alles andere kümmern sich die Bewohner selbst, können aber auch machen, was sie wollen.

Zusammenfassend gelten in einer Private City folgende Grundregeln:

  • Jeder Bewohner hat das Recht, ein selbstbestimmtes Leben ohne Einmischung anderer zu führen.
  • Die Interaktion zwischen den Bewohnern erfolgt auf freiwilliger Basis, nicht auf der Basis von Zwang. Auch die Teilnahme an und der Verbleib in der Private City sind freiwillig.
  • Die entsprechenden Rechte Dritter sind strikt zu achten, auch wenn einem deren Lebensweise oder Einstellung nicht gefällt.
  • Es besteht uneingeschränkte Meinungsfreiheit, mit einer Ausnahme: Wer Gewalt gegen andere oder deren Enteignung propagiert, muss die Private City verlassen. Das Kritisieren von anderen Personen, Weltanschauungen, Religionen usw. ist hinzunehmen und stellt keine Rechtsverletzung von Bewohnern dar, die sich dadurch empört fühlen.
  • Der Betreiber der Private City gewährleistet einen stabilen Rechts- und Ordnungsrahmen, um das friedliche Zusammenleben und Interagieren einer grossen Zahl von Menschen zu ermöglichen.
  • Dieser Rahmen wird zwischen dem Bewohner der Private City und dem Betreiber in einem Vertrag niedergelegt, der sämtliche gegenseitigen Rechte und Pflichten festhält. Dazu zählt auch die Höhe der Gegenleistung durch jeden Bewohner. Dieser Vertrag kann später nicht einseitig geändert werden.
  • Alle erwachsenen und geschäftsfähigen Bewohner sind für die Konsequenzen ihres Tuns selbst verantwortlich, nicht «die Gesellschaft» oder der Betreiber. Es besteht kein wie auch immer geartetes Recht, auf Kosten Dritter zu leben.
  • Interessenkonflikte zwischen den Bewohnern oder zwischen Bewohnern und dem Betreiber werden von unabhängigen Gerichten bzw. Schiedsgerichten verhandelt. Deren Entscheidungen sind zu respektieren, auch vom Betreiber.
  • Der Betreiber kann Bewerber nach eigenem Ermessen ablehnen. Es besteht kein Rechtsanspruch auf Aufnahme in die Private City.
  • Jeder Bewohner kann den Vertrag jederzeit kündigen und die Private City wieder verlassen, der Betreiber kann – nach Ablauf einer Probezeit – jedoch nur aus wichtigem Grund kündigen, etwa wegen Verstosses gegen die Grundregeln.

Private Cities sind kein Refugium für Reiche. So sind etwa Regelungen denkbar, nach denen für arbeitssuchende, aber mittellose Neubewohner in den ersten Jahren die Zahlungen gestundet werden, interessierte Unternehmer für ihre Mitarbeiter die Beitragszahlungen übernehmen usw. Trotzdem kann der Betreiber als Privatunternehmen dabei etwas verdienen. Wenn er den Deckungsbeitrag der Bewohner auf 100 000 Einwohner berechnet hat und es kommen 200 000, macht er Gewinn, weil er Polizei, Justiz, Infrastruktur usw. nicht ebenso verdoppeln muss, um das gleiche Dienstleistungsniveau zu bieten. Der Betreiber muss vermutlich die ersten Jahre vorfinanzieren, aber das ist bei anderen Geschäftsmodellen genauso. Ergänzend wäre es möglich, indirekte Steuern zu erheben, etwa Mehrwertsteuern oder Grunderwerbssteuern.

Grundsätzlich mischt sich der Betreiber nicht in private Entscheidungen der Bewohner ein. Im Hinblick auf Verkehrsregeln, Baurecht, Emissionen und dergleichen wird er freilich im Sinne einer geordneten und zügigen Stadtentwicklung Vorgaben machen. Auch wird er für den öffentlichen Teil der Infrastruktur gewisse Verhaltensregeln festlegen, z.B. das Verbot zu betteln oder nackt herumzulaufen. In Fragen der Neuaufnahme von Bewohnern entscheidet der Betreiber allein. Es ist schliesslich seine Hauptdienstleistung, für die bereits ansässigen Bewohner sicherzustellen, dass die freiheitliche Ordnung nicht gestört oder gar Leib und Leben bedroht werden. Das vermag er nur, wenn er die Zuwanderung entsprechend kontrollieren bzw. Störer auch wieder hinauswerfen kann.

Für alles andere gibt es private Unternehmer, die vom Krankenhaus über Schulen und Kindergärten bis hin zur Müllabfuhr abdecken, was nachgefragt wird. Gegen sämtliche Eventualitäten des Lebens versichern sich die Bewohner auf Wunsch privat oder gründen Selbsthilfegruppen, sei es zum Schutz vor Krankheit, Tod, Pflegebedürftigkeit oder Unfällen. Strassen, Hochhäuser, Häfen, Flugplätze und Einkaufszentren werden von Investoren erstellt und betrieben. Jeder kann zollfrei importieren und exportieren, was immer er will. Jeder kann neue Produkte und Dienstleistungen ohne Genehmigung oder Lizenz anbieten und sich in jeder gewünschten Währung bezahlen lassen. Das Korrektiv ist allein der Wettbewerbsdruck mit anderen Modellen des Zusammenlebens.

Dazu ein Beispiel: Das Fürstentum Monaco ist eine konstitutionelle Monarchie, die für Nichtmonegassen, welche immerhin 80 Prozent der Bevölkerung stellen, keinerlei Mitbestimmungsrechte vorsieht. Trotzdem gibt es mehr Interessenten, als der Wohnungsmarkt fassen kann, auch ich selbst bin dorthin übergesiedelt. Warum? Ich habe eine kleine Umfrage im Bekanntenkreis gemacht: weil man uns hier in Ruhe lässt. An dem Tag, an dem in Monaco alle EU-Regulierungen einschliesslich Einkommenssteuern eingeführt werden, ziehen die meisten einfach weg. Das weiss der Fürst und deshalb wird es nicht geschehen. Trotz dessen formal grosser Machtposition ist es somit ausschliesslich der Wettbewerb (mit anderen Gebietskörperschaften), der den Einwohnern die Freiheit sichert, nicht Gewaltenteilung, Parlament, Verfassung oder das Recht zu Volksabstimmungen.

Keine Utopie, sondern ein Geschäftsmodell

Eine Private City ist keine Utopie, sondern eine Geschäftsidee, deren Elemente bereits bekannt sind und die lediglich auf einen anderen Sektor übertragen werden, nämlich den des Zusammenlebens. Im Grunde stellt der Betreiber als Dienstleister nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft ergebnisoffen entwickeln kann. Die einzige Veränderungssperre zugunsten von Freiheit und Selbstbestimmung ist der Vertrag mit dem Betreiber. Nur er konstituiert Rechte und Pflichten. So können sich zwar die Bewohner darauf einigen, einen Gemeinderat zu etablieren. Aber auch wenn 99 Prozent der Bewohner dort mitmachen, hat dieses Gremium kein Recht, den übrigen 1 Prozent, die damit nichts zu tun haben wollen, seine Ideen aufzuzwingen; z.B. eine Kinderbetreuung, ein Schwimmbad, eine Städtepartnerschaft einzurichten und jeden dafür einen Pflichtbeitrag zahlen zu lassen. Das ist der entscheidende Punkt, an dem bisherige Systeme regelmässig gescheitert sind: die dauerhafte Gewährleistung der individuellen Freiheit.

Um ein derartiges Konzept umzusetzen, ist eine (Teil-)Autonomie im Sinne territorialer Souveränität unumgänglich. Diese muss das Recht umfassen, die eigenen Angelegenheiten selbständig zu regeln. Zur Etablierung einer Private City bedarf es daher einer vertraglichen Vereinbarung mit einem bestehenden Staat. In diesem Vertrag räumt der Mutterstaat dem Betreiber das Recht ein, auf einem genau umrissenen Territorium die Private City nach eigenen Regeln zu etablieren. Bestehende Staaten können für ein solches Konzept gewonnen werden, wenn sie sich Vorteile davon versprechen. Um die Stadtstaaten Hongkong, Singapur oder auch Monaco herum hat sich ein Gürtel von dicht besiedelten und wohlhabenden Gegenden gebildet. Dessen Einwohner zahlen ihre Steuern im Mutterstaat. Wenn nun in einem vormals strukturschwachen Gebiet derartige Gebilde entstehen, dann ist dies auch für den Mutterstaat ein gutes Geschäft. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Hongkong nach 1997 nicht von China einverleibt wurde. Freilich könnte später im Mutterstaat ein Demagoge ins Amt gelangen, der die Auffassung vertritt, man sei beim Vertragsschluss betrogen worden, und der die Rückgabe verlangt. Hier gibt es kein Patentrezept, man wird versuchen müssen, durch eine Kombination verschiedener Massnahmen den Aggressor von militärischen Schritten abzuhalten, etwa mittels Öffentlichkeitsarbeit, diplomatischer Kontakte zu anderen Staaten und gegebenenfalls auch durch ein Defensivkonzept, welches die Einnahme der Private City mit einem gewissen Preis verbindet.

Private Cities sind weit mehr als nur ein Gedankenspiel. Sie haben das Potenzial, eine echte Alternative zur bestehenden Ordnung zu werden bzw. diese im Sinne schöpferischer Zerstörung zu überwinden. Sind verschiedene Private Cities erst einmal weltweit verbreitet, wird das die bestehenden Staaten unter erheblichen Druck setzen, ihre Systeme in Richtung auf mehr Freiheit zu verändern, wollen sie nicht ihre Leistungsträger verlieren. Und das ist genau die positive Wirkung von Wettbewerb, die im Staatsmarkt bisher gefehlt hat.

Das gilt auch für die soziale Absicherung. Gerade weil diese Frage für viele Menschen so wichtig ist, wird es Angebote geben, die dies abbilden. Es gibt aus Vergangenheit und Gegenwart zahlreiche Beispiele, wie soziale Sicherung ohne Zwang erfolgreich funktioniert, z.B. kollektive Selbsthilfeeinrichtungen. Ebenso denkbar ist, dass sich im Laufe der Zeit spezialisierte Private Cities bilden, die gezielt religiöse, ethnische oder weltanschauliche Gruppen ansprechen. Der Mensch ist nun mal gern unter seinesgleichen. Für diese gelten dann ganz andere Grundregeln. Alles, wofür Nachfrage besteht, ist zulässig, solange die Freiwilligkeit der Teilnahme gegeben ist. Es steht keinem zu, darüber zu richten, wie seine Mitmenschen ihr Zusammenleben gestalten möchten. Private Cities sind eine friedliche, freiwillige Alternative, die ohne Revolution und Gewalt entstehen kann und für die nicht erst die Mehrheit überzeugt werden muss. Die ersten dürften innerhalb der nächsten zehn Jahre entstehen.

Erstmals veröffentlicht im Schweizer Monat.

Photo: Thorsten Krienke from Flickr

Morgen ist es wieder da: Das Tanzverbot. Ein guter Anlass, sich einmal wieder der Frage des Verhältnisses zwischen freiheitlichem Rechtsstaat und Religion zu widmen.

Vom Brauch zum Gesetz

Es gibt, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, eine ganze Reihe an Tagen, an denen Tanzveranstaltungen oder sportliche Großereignisse nicht erlaubt sind. Während vor allem die Stadtstaaten Regelungen haben, die möglichst wenig restriktiv sind, sind in traditioneller geprägten Ländern eher strenge Regeln anzutreffen. Am gravierendsten übrigens nicht etwa in Bayern, sondern in Hessen.

Entstanden sind diese Vorschriften in einer Zeit, in der Kirchen in Deutschland noch eine wesentlich gewichtigere Rolle im Leben der Bürger gespielt haben. Die allermeisten Bürger gingen vor einem Jahrhundert noch am Karfreitag in die Kirche und befolgten die Tradition, diesen Tag in Stille und Andacht zu begehen. Gerade die traditionelle Staatsnähe der evangelischen Kirchen führte dazu, dass derlei Traditionen im Zweifel auch ohne gesetzliche Grundlage mit staatlicher Autorität durchgesetzt wurden. Wenn es am Abend des Feiertages in einer Kneipe zu munter wurde, kreuzte mitunter auch mal der Schutzmann auf und sorgte für Ruhe und Ordnung. Mit der Weimarer Verfassung von 1919 wurden dann gesetzliche Feiertage eingeführt mit allen strafrechtlichen Konsequenzen.

Religion als Privatsache: Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften

Das sehr ambivalente Verhältnis von Staat und Religion hat in der Geschichte der Menschheit lange eine zentrale Rolle gespielt. Mal dient Religion der Legitimation von Herrschaft vom antiken Rom über die Kalifen bis zu „Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser“. Religion ist aber zugleich auch ein Hort der Machtkritik: Die Propheten im alten Israel, die Quaker im Großbritannien des 17. und 18. Jahrhunderts, der antikommunistische Widerstand in Polen, Litauen und Ungarn. Religion als Privatsache zu betrachten, ist das Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften. Diese Überzeugung steht am Beginn unseres Verständnisses von Toleranz, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung, ist mithin die Wurzel des Individualismus.

Ein Staat, der sich der Religion bedient, maßt sich die absolute Herrschaft über den Menschen an, er dringt bis in seinen Kopf und sein Herz vor. Er kann seine Bürger manipulieren, indem er an deren innerste und tiefste Gefühle appelliert. Und natürlich gibt es auch die umgekehrte Situation. Das führt uns ja mit entsetzlicher Brutalität gerade der „Islamische Staat“ vor Augen: Eine religiöse Bewegung, die mit den Machtmitteln weltlicher Herrschaft ausgestattet ist, wird ebenso absolutistisch und gewaltsam wie ein Staat, der Religion benutzt. Gefahr droht überall dort, wo das Emotionale und Persönliche, das sich in der jeweiligen religiösen Überzeugung ausdrückt, verbindet mit den Instrumenten der Macht. Damit Macht beschränkt und Freiheit gewahrt wird, ist es unerlässlich, dass die Ordnung eines Gemeinwesens nach abstrakten Regeln und Maßstäben abläuft.

Geschmacksfragen sind kein Fall für das Recht

Das Tanzverbot ist keine substantielle Bedrohung individueller Freiheit. Und angesichts der stetig abnehmenden Religiosität ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Einfluss von Religionsgemeinschaften eher weiter abnehmen wird. Dennoch ist es natürlich eine Freiheitseinschränkung für viele Menschen, die mit abstrakten Regeln nicht vereinbar ist. Sie kommt lediglich dem Geschmack oder den Überzeugungen des religiösen Teils der Bevölkerung entgegen. Ähnlich übrigens wie die staatliche Ehe.

Man könnte durchaus die abstrakte Regel des Rechts auf freie Religionsausübung so auslegen, dass während eines Karfreitagsgottesdienstes kein Techno Rave unmittelbar vor der Kirche stattfinden sollte. So wie man keine Grillpartys auf dem Friedhof veranstaltet. Das Tanzverbot geht freilich weit darüber hinaus. Es verpflichtet alle Bürger darauf, den Geschmack und die Überzeugung eines Teiles der Bevölkerung zum eigenen Verhaltensmaßstab zu machen. Das ist im Übrigen nicht nur unvereinbar mit einem freiheitlichen Rechtsstaat, sondern trägt auch nicht gerade zum Sympathiegewinn für die Kirchen bei.

Das Verhältnis von Staat und Religion wieder auf den Prüfstand stellen

Es würde den Vertretern der verschiedenen Kirchen in Deutschland sehr gut zu Gesichte stehen, wenn sie sich auch für eine Aufhebung des Tanzverbots am Karfreitag und anderen kirchlichen Feiertagen einsetzen würden. Ganz im Sinne dessen, was Papst Benedikt XVI. vor fünf Jahren in Freiburg sagte: „Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“

Es ist, gerade auch angesichts der Bedrohung durch einen politisierten Islam, höchste Zeit, das Verhältnis von Religion und Staat auf eine solide Basis zu stellen, die konsistent ist mit dem freiheitlichen Rechtsstaat. So wenig dieser einen Menschen an seiner Religionsausübung hindern darf, so wenig darf er auch religiöse Überzeugungen durchsetzen. Tanzverbote, staatliche Definitionen von Ehe, staatlich geförderter Religionsunterricht und ähnliche Maßnahmen gehören auf den Prüfstand und in die öffentliche Debatte.

Tanz am Kreuz statt Tanz gegen das Kreuz

Den gläubigen Christen, denen die Heiligkeit des Karfreitags am Herzen lieg, mag ein Lied des englischen Dichters Sydney Carter zu ein wenig Tanztoleranz verhelfen, der Jesus diese Worte in den Mund legt:

I danced on a Friday when the world turned black.
It’s hard to dance with the devil on your back.
They buried my body they thought I was gone,
But I am the dance, and the dance goes on.

Dance, dance wherever you may be.
I am the Lord of the dance, said he.
And I lead you all wherever you may be,
And I lead you all in the dance said he.

Mit seinem Konzept des „Nudging“ wandelt Professor Cass Sunstein aus Harvard auf den Spuren des Philosophen Voltaire. Dicht auf seinen Fersen folgen Politiker, die wie einst Voltaires Gönner Friedrich der Große ihre Herrschaft gerne in ein harmloses Gewand kleiden. Hier lauern mehr Gefahren als man derzeit wahrnimmt.

Das freundliche Gesicht des Staates

Man kann sich kaum einen besseren Ausblick denken, wenn man dem großen Vordenker des Nudging, des „weichen Paternalismus“, Cass Sunstein, lauscht, als den Blick aus dem Fenster der Humboldt-Universität auf die Reiterstatue Friedrichs des Großen. Der in fast allen deutschen Geschichtsbüchern geradezu hemmungslos verehrte „Alte Fritz“ gilt vielen hierzulande als das freundliche Gesicht des Staates. (Dass er drei Angriffskriege anzettelte und eine harte law and order-Politik betrieb, mithin also doch sehr viel mit George W. Bush gemeinsam hat, wird dabei gerne übersehen …) Der Preußenkönig, so die gängige Interpretation, herrschte mit Wohlwollen und wollte nur das Beste für seine Untertanen. Leiten ließ er sich in seinen Entscheidungen und Maßnahmen von der damals in Hochblüte stehenden Aufklärung.

Ein eher unschönes Charakteristikum der Aufklärung war, dass sie bisweilen mit rigoroser Arroganz auftrat. Nicht jeder Aufklärer konnte die Bescheidenheit eines Immanuel Kant aufbringen. Gerade diejenigen, die sie mehr als Mission begriffen denn als Aufruf zur Selbstkritik, hatten eine erstaunlich hohe Meinung von ihrer eigenen Vernunft und eine ziemlich niedrige von derjenigen der anderen. Die Brutalität vieler Akteure in der Französischen Revolution ist nur das krasseste Beispiel dafür. Auch Friedrich II. sah, bestätigt und angestachelt von dem Philosophen Voltaire, in der eigenen Bildung und Aufgeklärtheit zugleich einen Auftrag, seinen weniger gebildeten Untertanen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Aufgeklärter Absolutismus war der Begriff, der sich für dieses Staatsverständnis einbürgerte.

„Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“

Letzte Woche waren einige Mitglieder des Prometheus-Teams bei einer Veranstaltung an der Humboldt-Universität in Berlin, bei der Cass Sunstein sprach, als Urheber des Nudging so etwas wie der Voltaire unserer Zeit. Ein sehr kultivierter und angenehmer älterer Herr, selbstbewusst und überzeugt vom eigenen Standpunkt und dennoch respektvoll und freundlich im Umgang. Was macht ihn zum Voltaire des 21. Jahrhunderts? Sein Konzept des Nudging. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine ganz neue Art, politisches und staatliches Handeln zu verstehen. Grundlegend für diese Theorie ist eine Einsicht der Verhaltensökonomie: Es gibt sehr viele Dinge, die wir gerne tun würden, an denen wir aber wegen unserer Faulheit und Undiszipliniertheit scheitern: mehr Sport, gesunde Ernährung, das Rauchen aufgeben, einen Teil des Gehalts beiseitelegen, Organspender werden …

Um das alte Problem des „der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ in den Griff zu bekommen, schlagen die Verhaltensökonomen vor, Menschen mit Hilfe eines kleinen Anschubsers, des Nudge, dazu zu bringen, ihrer inneren Einsicht in das Richtige auch Taten folgen zu lassen. Indem das Quengel-Regal an der Supermarkt-Kasse beseitigt wird oder die Standardeinstellungen etwa bei Organspende oder Altersvorsorge so verändert werden, dass man nicht mehr zustimmen, sondern ablehnen muss, lassen sich tatsächlich Verhaltensänderungen herbeiführen. Die entscheidende Frage ist allerdings: Ist das wirklich, was man will?

Irgendwas mit gesund, bio, nachhaltig, sicher und sozial

Die Nudger behaupten: Ja! Wer wolle denn nicht etwas gesünder leben und auf die Nachhaltigkeit der eigenen Lebensführung im Blick auf die eigene Zukunft achten. Dass wir zu häufig zum Salzstreuer greifen oder uns ein, zwei Bier zu viel genehmigen, habe ja nichts mit unserem Willen zu tun, sondern mit der Fehlkonditionierung des Menschen durch Werbung und suchtfördernde Zusatzstoffe. Auf den ersten Blick scheint diese Beobachtung nachvollziehbar, vielleicht fühlen wir uns auch etwas ertappt. Dahinter aber liegt, unausgesprochen, eine grundsätzliche Haltung, die zumindest bedenklich, vielleicht sogar gefährlich ist.

Viele Gebiete, denen sich die Nudger zuwenden, würden in großen Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen: irgendwas mit gesund, bio, nachhaltig, sicher und sozial kann einfach nicht falsch sein. Es dürfte dann doch eigentlich unproblematisch sein, wenn man den Leuten hilft, sich diesem Spektrum entsprechend zu verhalten. Die Nudger tappen allerdings an diesem Punkt in eine Falle: Sie behaupten, den Menschen nur zu dem verhelfen zu wollen, was sie ohnehin selbst wollen. Da sie aber klassischerweise Vertreter einer gebildeten, gutverdienenden Intellektuellen-Elite sind, gehen sie zumindest implizit, vielleicht sogar völlig unbewusst, davon aus, auch objektiv beurteilen zu können, was für Menschen besser ist.

Was ist Aufklärung?

Hier ist das Einfallstor des Aufgeklärten Absolutismus: Man glaubt zu wissen, dass kein vernünftiger Mensch ernsthaft zu viel Fett, Zucker, Salz, Koffein, Alkohol, Tabak zu sich nehmen wollen würde. Wer das dennoch tut, tut es nicht, weil er es will, sondern weil er uneinsichtig, verblendet, verführt oder schlichtweg dumm ist. Solchen Menschen muss man helfen. Die Nudger – und noch viel mehr die Politiker und Bürokraten, die deren Steilvorlagen dankbar aufnehmen – wähnen sich im Besitz des Wissens darüber, was objektiv richtig ist. Jede Entscheidung, die von dieser Wahrheit abweicht, bedarf der – selbstverständlich freundlichen und respektvollen – Korrektur.

Dahinter steckt eine Phantasie der Weltbeglückung, die auch schon den Alten Fritz umtrieb. Es ist jener Strang der Aufklärung, der so sehr von sich selbst und der eigenen Vernunft begeistert war, dass er alle anderen auf den eigenen Stand bringen wollte. Weil sich dieser Strang selbst zum Maßstab aufgeschwungen hat, waren alle möglichen Mittel recht, um die eigene Weltsicht durchzusetzen. Den Fortschritt, den diejenigen machen würden, die sich der eigenen Einsicht anschlossen, rechtfertigte auch den ein oder anderen, im Zweifel sanften, Zwang. Dem entgegen steht jener Strang der Aufklärung, für den auch Friedrichs Untertan Immanuel Kant steht. Dessen berühmte Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ beginnt mit einer fulminanten Passage, die angesichts der Wiederkehr des Aufgeklärten Absolutismus im modernen Gewand besonders lesenswert ist, weil ihr Kerngedanke die Autonomie des Individuums ist:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“

Photo: Wikimedia Commons

Trends kommen oft von der Insel. Der mechanische Webstuhl zu Beginn der industriellen Revolution, das Sandwich im 18. Jahrhundert und packende Agententhriller à la James Bond waren es in den 1950er Jahren. Jetzt kommt ein neuer Trend aus Großbritannien: die Strafsteuer auf Limonade. „Ein fünf Jahre altes Kind nimmt heute jährlich so viel Zucker zu sich wie es selbst wiegt“, zitiert die FAZ den britischen Finanzminister George Osborne.

Osborne rechnet mit Einnahmen von 660 Millionen Euro aus der Steuer und will damit den Sportunterricht an Schulen fördern. Wahrscheinlich mit dem Ziel, dass die einstige Weltmacht zumindest im Sport wieder auf das Treppchen kommt. Im ewigen Medaillenspiegel der Olympischen Spiel nimmt der Inselstaat derzeit nur einen undankbaren vierten Platz ein. Deshalb ist „Saufen für Olympia“ die Flucht nach vorne für die britische Regierung. Der legendäre britische Premierminister Winston Churchill dreht sich im Grabe um. War doch sein Lebensmotto: no sports.

Die Maßnahme passt aber in den allgemeinen Trend, der wiederum auch von Großbritannien ausgeht. Die britische Regierung war die erste, die verhaltensökonomische Gesichtspunkte in das Regierungshandeln aufgenommen hat. Eine „Nudge Unit“ von Experten berät seit einigen Jahren die Londoner Regierung, wie die Briten zu „richtigem“ Verhalten erzogen werden können. In dieser Woche war der „Nudging-Papst“ Cass Sunstein von der Harvard University bei einer Tagung der Humboldt-Uni in Berlin. Im Rahmen dieser Tagung wurde ausführlich über die Möglichkeiten des „Anstupsens“ und der Verhaltensbeeinflussung der Bürger diskutiert.

Die Verbindung von Big Data und Nudging war dabei ein wichtiges Thema. Kann man die vielen Daten, die der Staat über seine Bürger gesammelt hat, nicht auch für die Verhaltensänderung im Sinne des Regierung nutzen? Die Beeinflussung könnte so viel zielgenauer und damit effizienter sein. Für freiheitsliebende Menschen klingt dies nach einer Horrorvorstellung. Doch so weit sind wir davon nicht mehr entfernt. Auf der gerade stattfindenden Cebit in Hannover wurde ein Chip vorgestellt, der buchstäblich unter die Haut geht, weil er dort implantiert wird. Er macht künftig Haustür- und Autoschlüssel überflüssig, weil Schlösser damit die Nutzungsberechtigung überprüfen können. Wahrscheinlich ist dann irgendwann auch wie beim Smartphone eine „Suchfunktion“ hinterlegt, falls man verloren geht.

Doch wer garantiert dem Bürger, dass dies nur zu seinem Wohle geschieht? Und was ist richtig oder falsch, was ist gesund oder ungesund für den Bürger? Gibt es hier eindeutige Antworten? Diese Anmaßung von Wissen, die sich Experten im Auftrag einer Regierung zu eigen machen, hat niemand.  Eigentlich brauchen wir nicht eine Verhaltensänderung der Bürger, sondern eine Verhaltensänderung der Regierung! Sie muss den Einzelnen wieder ernst nehmen, ihn nicht zu vermeintlich gutem Verhalten erziehen wollen. Der Nanny-Staat ist das Gegenteil einer offenen Gesellschaft. Er vernichtet Freiheit.

Photo: Phil from flickr