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Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG, Gründer der Initiative “Free Private Cities“.

Vor vielen hundert Jahren waren die Menschen in Deutschland eingeengt durch Landesherren, Lokalfürsten und Bischöfe, die hohe Steuern forderten und das tägliche Leben bis ins kleinste regulierten. Der Kaiser war fern und hatte wenig Macht. Wer Freiheit, Selbstbestimmung und wirtschaftliche Verbesserung suchte, für den gab es nur einen Weg. Er musste in eine Freie Reichsstadt gelangen. Denn der Spruch „Stadtluft macht frei“ galt zu jener Zeit wörtlich. Der Leibeigenschaft konnte entgehen, wer entflohen und nach einer Frist von einem Jahr und einem Tag nicht wieder gefasst wurde. Am besten verließ man die Stadt während dieses Zeitraums nicht; „nach Jahr und Tag“ galt man als freier Mann.

Wieso konnten Freie Reichsstädte überhaupt existieren? Wieso ließen die Fürsten das zu? Tatsächlich waren „Freie und Reichsstädte“ das Ergebnis eines langen Kampfes ihrer Bewohner um mehr Selbstbestimmung. Dieses Abtrotzen von Rechten vom jeweiligen Stadtherrn, von vielen Rückschlägen gezeichnet, mündete schließlich in eine Art Stadtverfassung bis hin zur weitgehenden Unabhängigkeit (Freie Städte) bzw. Direktunterstellung unter kaiserliche Hoheit (Reichsstädte).

In der Stadt Köln etwa fand erstmals 1074 ein größerer Aufstand gegen den herrschenden Erzbischof statt, aufgrund von dessen Ungerechtigkeiten gegenüber Kölner Kaufleuten. Dieser wurde brutal niedergeschlagen. Aber der Drang zu mehr Eigenständigkeit war nicht aufzuhalten. 1103 ist ein eigenes Gericht erwähnt, das Schöffenkolleg, das vom erzbischöflichen Stadtherrn unabhängig war. Ab 1130 bezeichneten sich die Schöffen nach römischem Vorbild als Senatoren. 1216 konnte erstmals ein Stadtrat gegen den Widerstand des Erzbischofs eingerichtet werden. Schließlich verbündeten sich die Kölner 1288 mit einem der umliegenden Territorialfürsten gegen ihren Erzbischof, und besiegten diesen in der Schlacht von Worringen. Seitdem verwalteten sich die Kölner selbst.

Ähnliche Entwicklungen fanden anderswo statt. Die Freien Reichsstädte blühten auf und zogen scharenweise neue Siedler an. Und dann geschah etwas Überraschendes. Die bisherigen Stadtherren versuchten auf einmal nicht mehr, die städtische Unabhängigkeit zu verhindern, sondern versprachen im Gegenteil Ansässigen und Neusiedlern verbriefte Stadtrechte auf ihrem Territorium. Sie wussten um die wirtschaftliche Prosperität freier Städte und rechneten sich dadurch einen eigenen Vorteil aus. Die Städte wiederum bildeten im Laufe der Zeit mächtige Bündnisse wie den Süddeutschen Städtebund oder die Hanse, welche in ganz Nordeuropa Mitgliedstädte hatte und auch Großmächten trotzen konnte.

Vor diesem Hintergrund soll ein Vorschlag gemacht werden, wie wir in Anknüpfung an historische Vorbilder und unter Zuhilfenahme moderner Entwicklungen unser Zusammenleben in Zukunft gestalten könnten. Die Rede ist von Freien Privatstädten.

Analysieren wir zunächst den „Markt des Zusammenlebens“: Staaten existieren, weil offenbar eine Nachfrage nach ihnen besteht. Eine staatliche Ordnung schafft einen Rahmen, innerhalb dessen der Mensch sozial interagieren und friedlich Leistungen und Güter tauschen kann. Das Bestehen von Sicherheit und festen Regeln macht es möglich, dass Menschen in grosser Zahl mit- und nebeneinander leben können. Ein derartiges Zusammenleben ist so attraktiv, dass dafür auch erhebliche Freiheitseinschränkungen akzeptiert werden. Vermutlich würden selbst die meisten Nordkoreaner das Verbleiben in ihrem Land dem freien, aber einsamen Robinson-Dasein vorziehen.

Wenn man nun die Leistungen des Staates bieten und gleichzeitig dessen Nachteile – immer mehr Besteuerung, Bevormundung und Gängelung bei gleichzeitig permanenter Änderung der Spielregeln – vermeiden könnte, hätte man ein besseres Produkt geschaffen. Mein persönliches Fazit nach über 30 Jahren politischer Aktivität lautet, dass echte Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung auf demokratischem Wege nicht zu erreichen ist. Diese Werte werden schlicht nicht ausreichend nachgefragt.

Aber warum nicht ein entsprechendes Nischenprodukt anbieten? Hat es Erfolg, werden mehr Menschen Vergleichbares wollen. Und warum sollten „Staatsdienstleistungen“ nicht rein privatwirtschaftlich von Unternehmen angeboten werden können? All das, was wir vom Markt her kennen, ließe sich auf unser Zusammenleben übertragen: die enorme Vielfalt des Produktangebotes, das Recht etwas nicht zu kaufen, was uns nicht gefällt, schliesslich der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Modellen, der dafür sorgt, dass diese immer billiger und immer besser werden. Der „Staatsdienstleister“ bietet auf einem abgegrenzten Territorium ein bestimmtes Modell an und nur derjenige, dem dies zusagt, siedelt sich dort an. Solche Konzepte müssen attraktiv sein, sonst kommt niemand bzw. wandert wieder ab in andere Systeme.

Freie Privatstädte sind aus bekannten Elementen zusammengesetzt, stellen für sich genommen jedoch eine neuartige Alternative zu bisherigen Regierungssystemen dar. Sie sind herkömmlichen Staaten in mehreren Bereichen überlegen und haben daher auch eine Aussicht auf Umsetzung. Sie sind wie folgt charakterisiert:

1. Freie Privatstädte sind souveräne oder zumindest teilautonome Gebiete, welche als gewinnorientierte Unternehmen geführt werden. Für einen Jahresbeitrag gewährleistet die Betreibergesellschaft als Staatsdienstleister Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum in einem abgegrenzten Gebiet. Die Teilnahme ist freiwillig.

2. Alle Bewohner haben mit der Betreibergesellschaft einen schriftlichen „Bürgervertrag“ geschlossen, der die gegenseitigen Rechte und Pflichten abschließend regelt. Dieser umfasst die vom Betreiber zu erbringenden Leistungen und die dafür zu bezahlende Summe, daneben die in der Freien Privatstadt geltenden Regeln. Dieser Bürgervertrag kann nicht einseitig geändert werden. Im Übrigen können die Bürger tun, was sie möchten, solange sie anderen nicht schaden.

3. Im Falle von Konflikten über Einhaltung oder Auslegung des Bürgervertrages ist jeder Bürger berechtigt, unabhängige Schiedsgerichte anzurufen, die nicht der Organisation des Betreibers angehören.

Diese Konstruktion hat den Vorteil, das sie bereits erprobt und bewährt ist. Sie entspricht dem, was wir aus den privaten Geschäften des täglichen Lebens kennen. Sei es der Brötchenkauf beim Bäcker, der Abschluss einer Versicherung oder die Beauftragung eines Steuerberaters. Stets liegt ein gegenseitiger, einvernehmlich geschlossener Vertrag zu Grunde. Dieser regelt, welches Produkt oder welche Dienstleistung zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis zu liefern ist. Das gilt selbst dann, wenn der Vertrag – wie beim Bäcker – nur durch schlüssiges Verhalten zustande gekommen ist. Der Käufer weiß, dass sein Vertragspartner ein wirtschaftliches Interesse hat; dieser muss ihm weder Gemeinwohl noch Menschheitsrettung als Motive vorgaukeln. Bei Streitigkeiten kann man sich an unabhängige Gerichte oder Schiedsstellen wenden. Kein Verkäufer würde damit durchkommen, dass er nachträglich einseitig den Vertragsinhalt ändert oder eine Streitschlichtung ausschließlich durch eigene Einrichtungen erlaubt.

Auch in einer Freien Privatstadt bezahlt der Bürger nur für das, was er bestellt hat. Er hat einen Rechtsanspruch darauf, dass der Vertrag eingehalten wird, sowie einen Schadensersatzanspruch bei Schlechterfüllung. Streitigkeiten zwischen Bürgern und dem Betreiber werden vor neutralen Schiedsgerichten verhandelt. Ignoriert der Betreiber die Schiedssprüche oder missbraucht er seine Macht auf andere Weise, wandern seine Kunden ab, und er geht in die Insolvenz. Als privater Staatsdienstleister trägt er ein eigenes wirtschaftliches Risiko. Er kann die Kunden auch nicht zwingen, sein Produkt abzunehmen, sondern muss allein durch die Attraktivität seines Angebots Nachfrager finden.

Um eine Freie Privatstadt umzusetzen, ist eine Autonomie im Sinne territorialer Souveränität notwendig. Dies bedeutet nicht zwingend vollständige Unabhängigkeit, aber erfordert zumindest das Recht, die eigenen Angelegenheiten selbständig regeln zu dürfen. Zur Etablierung einer Freien Privatstadt bedarf es daher einer vertraglichen Vereinbarung mit einem bestehenden Staat. In diesem Vertrag räumt der Mutterstaat der Betreibergesellschaft das Recht ein, auf einem abgegrenzten Territorium die Freie Privatstadt zu den vereinbarten Bedingungen zu errichten.

Bestehende Staaten können für ein solches Konzept gewonnen werden, wenn sie sich Vorteile davon versprechen. Insofern unterscheiden sie sich nicht von den Fürsten aus der Zeit der Freien Reichsstädte. Um die Stadtstaaten Hong Kong, Singapur oder Monaco hat sich ein Kordon von dicht besiedelten und wohlhabenden Gegenden gebildet. Dessen Einwohner versteuern in den Mutterstaat. Wenn nun in einem vormals strukturschwachen oder unbesiedelten Gebiet derartige Gebilde entstehen, dann ist dies auch für den Mutterstaat ein gutes Geschäft. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Hongkong nach 1997 nicht von China einverleibt wurde.

Spinnt man den Gedanken weiter, könnten Freie Privatstädte auch ein Ausweg für unterdrückte Minderheiten und Flüchtlinge in Krisenregionen werden.

Wem gehört nun eine Freie Privatstadt? Sie gehört zunächst einmal allen, die dort Eigentum haben. Und wem gehört die Betreibergesellschaft? Hier ist von der Einzelfirma über die Aktiengesellschaft bis hin zur Genossenschaft alles denkbar. Vorstellbar ist, dass jeder Bewohner mit Ansiedlung einen Anteil an der Betreibergesellschaft erwirbt. Er hätte damit teil am wirtschaftlichem Erfolg und auch Mitspracherecht auf den Gesellschafterversammlungen, die über die Besetzung der Verwaltung entscheiden. Ebenso vorstellbar ist, dass der Staatsdienstleister nur einer Privatperson oder ausschließlich den Bewohnern gehört. Und auch alle Arten von Zwischenformen sind denkbar.

Die Eigentumsverhältnisse an der Betreibergesellschaft und die Regelung der Mitsprache sind gar nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass der Betreiber oder auch ein von der Mehrheit gewähltes Gremium nicht immer mehr Befugnisse an sich ziehen und den Bewohnern in ihre Lebensgestaltung hineinreden kann. Daher sind der Vertrag mit jedem einzelnen und die entsprechende Rechtsposition so wichtig. Es geht um größtmögliche Selbstbestimmung, nicht um größtmögliche Mitbestimmung. Wenn jeder frei entscheiden kann, was er tun und wie er leben möchte, gibt es auch für Mitbestimmungsorgane wie Parlamente keinen wirklichen Bedarf. Diese laufen zudem immer Gefahr, von Interessengruppen oder der Regierung für ihre Zwecke gekapert zu werden.

Im Grunde stellt der Betreiber als Dienstleister nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft ergebnisoffen entwickeln kann. Die einzige Veränderungssperre zugunsten von Freiheit und Selbstbestimmung ist der Bürgervertrag. So können sich zwar die Bewohner auf eine Interessenvertretung einigen und etwa einen Gemeinderat etablieren. Aber auch wenn 99% der Bewohner dort mitmachen und sich freiwillig den Mehrheitsentscheidungen unterwerfen, hat dieses Gremium kein Recht, den übrigen 1%, die damit nichts zu tun haben wollen, seine Ideen aufzuzwingen. Das ist der Punkt, an dem bisherige Systeme regelmäßig gescheitert sind: die dauerhafte Gewährleistung der individuellen Freiheit.

Weder Demokratie, noch Verfassung, noch Gewaltenteilung, noch ausgeklügelte Checks and Balances haben sich als geeignet erwiesen, die Rechte des Einzelnen dauerhaft zu schützen. Stets reißen im Laufe der Zeit Gruppen oder Einzelpersonen die Macht an sich und missbrauchen diese nach eigenem Gutdünken.

Das liegt allerdings auch daran, dass alle bisherigen Ordnungen auf einem Über-/ Unterordnungssystem beruhen. Eine Seite ordnet an, die andere muss parieren. Eine Seite ändert ständig die Spielregeln, die andere kann nichts dagegen tun. Das betrifft leider auch die Regeln, die zum Schutz des Einzelnen gedacht sind. Die jeweiligen Machthaber tragen zudem kein eigenes wirtschaftliches Risiko für Fehlentscheidungen, sind rechtlich immun gegen Haftung und haben gegenüber den Regierten keine einklagbaren Verpflichtungen. Eine derartige Macht ohne Haftung korrumpiert am Ende jeden.

In der Freien Privatstadt hingegen ist jeder Souverän Seiner Selbst, der aufgrund freiwilliger Vereinbarung einen echten Vertrag mit einem mehr oder weniger gewöhnlichen Dienstleister abgeschlossen hat. Beide Parteien sind formal gleichberechtigt und somit rechtlich auf Augenhöhe. An die Stelle des Verhältnisses Obrigkeit-Untertan tritt das Verhältnis Kunde-Dienstleister. In herkömmlichen Systemen ist der Bürger zur Steuerzahlung verpflichtet, ohne ein korrespondierendes Leistungsrecht zu haben. In einer Freien Privatstadt stehen Leistung und Gegenleistung in einer direkten Beziehung. Beide Vertragspartner haben einen Anspruch auf Vertragserfüllung, d.h. der Betreiber kann vom Bürger die Zahlung des festgesetzten Beitrags verlangen, aber eben keine zusätzlichen Beträge. Der Bürger wiederum kann vom Betreiber einklagen, dass dieser seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt, indem er etwa Sicherheit und ein funktionierendes Zivilrechtssystem gewährleistet. Wer der Betreibergesellschaft gerade vorsteht und wem diese gehört, ist für das Funktionieren des Modells ohne Belang.

Im Ergebnis weisen Freie Privatstädte gegenüber den Staaten wie wir sie kennen, erhebliche Wettbewerbsvorteile auf:

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Eigentlich ist es eine stolze Bilanz, die Finanzminister Wolfgang Schäuble zum Ende dieser Legislaturperiode präsentieren kann. Seit drei Jahren „erwirtschaftet“ der Staat „Überschüsse“. Im vergangenen Jahr waren es 19,2 Milliarden Euro. Im Bundeshaushalt sind es allein 6,2 Milliarden Euro. Das Erwirtschaften von Überschüssen ist eigentlich eine Verballhornung des Bürgers. Sie beruht letztlich auf dem Verzicht der Bürger. Denn jede Ausgabe des Staates basiert darauf, dass die Bürger sie bezahlt haben. Deshalb bleibt spannend, worauf die Koalitionäre aus Union und SPD sich verständigen, was damit geschehen soll.

Schäuble will die Gelder zur Schuldentilgung nutzen. Die Kanzlerin ließ über ihren Regierungssprecher schnell erklären, dass sie diesen Vorschlag unterstütze und sie brachte ein klassisches Argument mit. Wenn die Konjunktur schwach sei, müsse der Staat mit schuldenfinanzierten Investitionsprogrammen die Wirtschaft ankurbeln. Wenn diese wieder läuft, dann würde der Staat Überschüsse erzielen, die zur Schuldenreduzierung genutzt werden müssten. Genau das sei jetzt diese Situation. Nun läuft es wieder, und daher müssten die Schulden zurückgeführt werden. Diese Konjunkturtheorie aus dem letzten Jahrhundert, die insbesondere in den 1970er-Jahren unter dem sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt besonders beliebt war, fußt auf den Lehren von John Maynard Keynes. Aus diesem Grund ist die Begründung des Kanzlersprechers etwas vergiftet.

Denn unter sozialdemokratischer Kanzlerschaft hat es damals nicht funktioniert. Was an schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen aufgelegt wurde, war nur ein Strohfeuer und führte Ende der 1970er-Jahre dazu, dass sich die Staatsverschuldung innerhalb von zehn Jahren verdreieinhalbfacht hatte und die Arbeitslosigkeit dennoch auf einen damaligen Höchstwert stieg. Dennoch übt das „deficit spending“ immer noch eine Faszination auf die Sozialdemokratie aus.

SPD-Chef Gabriel passt das jedoch aktuell nicht in den Kram. Er will mit Geldausgeben punkten. Er hat daher sofort vorgeschlagen, die Mittel für die Schulsanierung zu nutzen. Sein Argument ist, dass es in Zeiten faktischen Nullzinses für den Bund keinen Sinn machen würde, Schulden zu tilgen. Schon heute zahlt der Bund über 22 Milliarden Euro weniger Zinsen pro Jahr als zum Höhepunkt der Finanzkrise 2008. Hält das Niedrigzinsumfeld in Europa an, wovon auszugehen ist, dann schmilzt die Zinsbelastung des Staates weiter. Was ist nun sinnvoll in dieser für jeden Finanzminister komfortablen Situation?

Erstens: Ein Staat der immer mehr Geld hat, findet auch immer neue Ausgabenmöglichkeiten. Er wird immer größer und fetter. Im vergangenen Jahr sind seine Ausgaben um 4,2 Prozent gewachsen, die Wirtschaftsleistung lediglich um 1,9 Prozent. Dieses Verhältnis muss umgedreht werden. Die Staatsausgaben müssen künftig wieder langsamer wachsen als die Wirtschaftsleistung.

Zweitens: Schuldentilgung ist gut. Deutschlands Staatsschuldenquote liegt bei rund 70 Prozent der Wirtschaftsleistung und hat nach wie vor ein historisch sehr hohes Niveau. Dieses abzubauen, ist richtig und notwendig.

Drittens: Investitionen anzuregen, ist ebenfalls notwendig. Sie müssen aber nicht zwingend staatlicherseits erfolgen. Privates Investitionskapital sucht Anlagemöglichkeiten in Deutschland. Es für Infrastrukturmaßnahmen wie den Ausbau von Straßen, Schulen, Schienen und Breitbandnetz stärker zu öffnen, ist daher nicht eine Frage des Staatshaushaltes, sondern der Rahmenbedingungen für private Investoren.

Viertens: Über die Entlastung der Bürger wird von den Berliner Koalitionspartnern nicht gesprochen. Sie werden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet. Dabei steigt die Steuerquote immer weiter an. Sie erreicht in diesem Jahr fast 23 Prozent, den höchsten Wert seit der Deutschen Einheit. Das Geld muss an die Bürger zurück. Der Solidaritätszuschlag stünde dazu bereit, endlich abgeschafft zu werden. Noch nie war es so einfach wie heute.

Photo: Roman Herzog Institut

Im Anschluss an diesen Artikel finden Sie noch etwas ausführlichere Zitate aus Reden Roman Herzogs, die mit den hier behandelten Themen zusammenhängen.

In der Geschichte der Bundesrepublik ragen zwei Persönlichkeiten hervor, die sich mit besonderer Integrität und Standhaftigkeit für die Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger eingesetzt haben: der eine war Ludwig Erhard und der andere der in dieser Woche verstorbene Roman Herzog.

Immun gegen die Verlockungen der Macht

1993: Helmut Kohl schielt nach der vierten Amtszeit, das Land ist wiedervereinigt, läuft aber auf Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit zu. Die Bundespräsidentenwahl steht im kommenden Jahr an und für die SPD will endlich Johannes Rau an seinen Traumjob kommen. Die CDU hingegen befindet sich im Kreuzfeuer der Kritik: Sie hat mit Steffen Heitmann zwar einen Kandidaten aus den neuen Bundesländern. Aber Heitmann ist ein profilierter Konservativer, der sich auch im Umfeld der damals gerade aufkommenden „Neuen Rechten“ bewegt. Er muss schließlich seine Kandidatur zurückziehen und Kohl entscheidet sich für den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts als Kompromisskandidaten. Ähnlich wie einst Erhard von Adenauer nur mit Zähneknirschen akzeptiert wurde, wird auch Herzog nur mit wenig Begeisterung seitens des Kanzlers ins Amt gebracht.

Doch solche Männer und Frauen, die von den Mächtigen nicht gewünscht und gewiss nicht geliebt wurden, waren oft die wichtigsten Persönlichkeiten ihrer Ära. Denn in diesen seltenen Fällen, wo Menschen an Macht kamen, die sie nicht angestrebt hatten, zeigten sie oft eine erhebliche Immunität gegenüber deren Verlockungen. Sie waren und blieben Überzeugungstäter. Und so war die Wahl Herzogs zum Bundespräsidenten denn auch eine der wichtigsten Entscheidungen nach der Wiedervereinigung. Die meisten politischen Richtungsentscheidungen, die Deutschland und Europa in den letzten zwei Jahrzehnten positiv vorangebracht haben (oder voranbringen könnten), wurden von Herzog vorbereitet und inspiriert.

Der selbstverantwortliche Bürger

Auch nach seiner Amtszeit hat er noch nachhaltig Einfluss ausgeübt. Die Grundforderungen seiner Ruck-Rede arbeitete er 2003 im Rahmen der sogenannten Herzog-Kommission für seine Partei zu programmatischen Grundsätzen aus. Diese Forderungen bildeten die Grundlage für die Beschlüsse des Leipziger Parteitags, in dem die CDU ein Reformprogramm beschloss, das eine unerhörte Rosskur für den Wohlfahrtsstaat bedeutet hätte und noch weit über die späteren Agenda-Reformen Schröders hinausging. Herzogs unermüdliche mahnende Hinweise auf den Reformstau waren ein wichtiger Meilenstein hin zu den wegweisenden Entscheidungen der Regierung Schröder.

Drei Themen haben seine Amtszeit als Bundespräsident wesentlich bestimmt – drei Themen, die geradezu visionär jene Herausforderungen adressiert haben, vor die wir uns heute mehr denn je gestellt sehen: eine zeitgemäße Bildung, die Zukunft der Europäischen Union und insbesondere die grundlegenden Reformen, die sowohl in den Institutionen unseres Landes als auch in den Köpfen seiner Bürger dringend notwendig sind. Herzog hat niemals politisiert, war aber alles andere als unpolitisch. Er war meinungsstark, aber gerade deshalb am Dialog interessiert. Er provozierte nicht, weil er daran Spaß gehabt hätte, sondern, weil er es als seine Verantwortung begriff, auf Probleme hinzuweisen. Er war kein Grüß-August und hielt keine Sonntagsreden, weil er sich den Bürgern nicht überlegen wähnte, sondern überzeugt war, dass sie sich selber eine Meinung bilden und Entscheidungen treffen können.

Wider den Zentralismus

Kaum etwas hat einen so nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft und das Selbstverständnis der Staatsbürger wie das Bildungssystem. Ein Einheitssystem unter politischer Steuerung kann die freie Bürgergesellschaft langfristig unterminieren. Und so plädierte Herzog in zahlreichen Reden und Aufsätzen immer wieder für ein wettbewerblich organisiertes System, in dem Schulen und Hochschulen weitgehende Autonomie besitzen. Warum, so der Präsident, hat „ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum … als ein Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik?“ Leider hat die Politik in Ländern und Bund diese klugen Ratschläge ignoriert und mit Neuausrichtungen im Zwei-Jahres-Rhythmus nicht Wettbewerb, sondern zentral gesteuertes Chaos produziert.

Herzogs Vision von Europa war eines, das „mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung“ arbeitet: „Europäische Einigung macht … eine Revitalisierung der kleinen Einheit dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen Zentren oder gar die supranationalen Einheiten.“ Und: „ihre Lernfähigkeit ist größer.“ Wie für viele seiner Generationsgenossen war auch für ihn Europa ein Herzensanliegen. Das verstellte ihm aber keineswegs den Blick für die Probleme, die schon vor zwanzig Jahren sehr offen zutage lagen. Vor allem aber versprach er sich nichts von „mehr Europa“. Er suchte nach dem besten Europa – und das lag seiner Überzeugung nach darin, dass es ein immer höheres Maß an „mehr Bürger“ ermöglicht.

Die Würde des Menschen liegt in seiner Selbstverantwortung

Das Wort vom „Ruck“ ist gerade auch in den letzten Tagen oft zitiert worden. Diese Aufforderung war aber mitnichten nur ein technischer Hinweis. Dahinter steht ein Menschenbild: Die Überzeugung, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist und Bequemlichkeit eine schlechte Verhaltensmaxime. „Wir haben den Staat … jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen.“ Aus diesem Käfig wollte er seine Mitbürger herausführen – hin zur Selbständigkeit. Nicht nur die materiellen Verhältnisse sollten wieder besser werden. Bei der 150-Jahr-Feier der Revolution von 1848 sagte er: „Vor uns liegt ein neues Zeitalter: In dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß. Das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt.“

Als Roman Herzog vor einem Jahr den Ehrenpreis der Hayek-Stiftung in Freiburg erhielt, sagte Joachim Gauck in seiner Laudatio: „Sie haben immer Klartext geredet: die Idee der Freiheit, sie sei keine Garantie der Freiheit. Aber es ist eine eminent menschenfreundliche Idee, weil sie mit den gewaltigen Potenzialen rechnet, die in jedem Menschen – offenkundig oder verborgen – stecken, eine Idee, die ihm die Fähigkeit und Würde zuspricht, zum Herrn und Meister seines eigenen Schicksals zu werden.“ Dass die Würde des Menschen zuvorderst in seiner Befähigung liegt, für sein eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen, war die zentrale Botschaft von Roman Herzog. Sie sollte dieses Land, seine politischen Verantwortlichen und vor allem seine Bürger auch in Zukunft begleiten, ermuntern und ermutigen.


Auszüge aus Reden von Bundespräsident Roman Herzog

Weihnachtsansprache 1995, 25. Dezember 1995

„Dem Frieden und der Mitmenschlichkeit wäre auch sehr gedient, wenn wir mit unserer Sprache sorgfältiger und menschlicher umgingen, als wir es gelegentlich tun. Wie leicht fällt es uns beispielsweise, andere kurzerhand als Lügner und Betrüger, als Verbrecher oder Mörder zu bezeichnen, nur weil wir die Lust zum Verletzen oder zumindest zum Übertreiben verspüren?“

Ansprache auf der Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e.V., 5. März 1997

„Wenn Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit verlorengehen – sei es durch den Staat, seine Bürokratie oder seine Gesetze, sei es, weil die Bürger aus Bequemlichkeit oder Unlust ihre Freiheit nicht mehr nutzen und gar nicht mehr nutzen wollen und immer mehr Menschen die ‚Sehnsucht nach Betreuung‘ überkommt: Dann sind nicht nur die Existenzbedingungen selbständiger Unternehmer in Deutschland gefährdet. Dann sind unsere marktwirtschaftliche Ordnung und unsere freiheitliche Gesellschaft insgesamt bedroht.

Diese Art der Unfreiheit kommt in den modernen Demokratien nicht mehr mit dem Polizeiknüppel. Der ist zum Glück gebändigt. Unfreiheit kann auch auf leisen Sohlen daherkommen, wie ein schleichendes Gift, das wir ohne das rechte Gefahrenbewußtsein freiwillig konsumieren, dessen Verschreibung manche sogar ausdrücklich fordern. Weil es so bequem ist, ist es besonders gefährlich.

Wir sind nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen europäischen Staaten mit zwei einander scheinbar widersprechenden Entwicklungen konfrontiert:

Noch nie haben so viele Menschen auf so engem Raum mit so großen individuellen Freiheitsräumen und in so beachtlichem Wohlstand zusammengelebt wie in den offenen, marktwirtschaftlich verfaßten Demokratien unserer Zeit.

Noch nie waren wir aber auch – und zwar freiwillig! – derart komplexen Regularien und Vorsorgemaßnahmen für immer neue, weitere Lebensbereiche unterworfen. Sie alle haben wir im demokratischen Verfahren selbst geschaffen, und zwar mit dem vermeintlichen Ziel, unsere Freiheitsräume gegen jedwedes Risiko abzusichern. In Wirklichkeit haben wir aber den Staat – mit unserem Mandat – jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen. Darin büßen die Menschen in scheinbarem Wohlbefinden zunehmend ihre Freiheit ein und zugleich ihre Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Kräfte zu mobilisieren.

Trotz aller guten Absichten ist damit oft das Gegenteil von dem erreicht worden, was wir angestrebt haben: Die Verantwortung des Staates ist weithin an die Stelle der Verantwortung des einzelnen Bürgers für sich und seinen Nächsten getreten. Diese Mentalität ist übrigens – entgegen allen anderslautenden Gerüchten – kein Spezifikum der Empfänger von sozialen Zuwendungen. Man findet sie im Subventionsbereich ebenso wie bei der zähen Verteidigung wettbewerbsbeschränkender Refugien, die es vielerorts ja auch noch gibt.

Ein Modell, das an die Stelle persönlicher Verantwortung des Einzelnen die umfassende Zuständigkeit staatlicher Einrichtungen für sämtliche denkbaren Wechselfälle des Lebens und für nahezu alle Bürger setzt, überfordert aber den Staat und nicht nur seine Finanzen. Es gefährdet damit gerade die Interessen derer, die sich wirklich nicht selber helfen können und für die es ursprünglich einmal geschaffen worden war. Außerdem kümmern wir selbst uns immer weniger um unseren Nachbarn, weil wir denken: ‚Das erledigt schon der Staat.‘“

Berliner Rede 1997, 26. April 1997

„Das ist ungeheuer gefährlich, denn nur zu leicht verführt Angst zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertigzuwerden. Unser deutsches Wort ‚Angst‘ ist bereits als Symbol unserer Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. ‚Mut‘ oder ‚Selbstvertrauen‘ scheinen dagegen aus der Mode gekommen zu sein.

Unser eigentliches Problem ist also ein mentales: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüssten, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Während die Auswirkungen des technischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen der Demographie für die sozialen Netze auch andere Industrieländer, etwa Japan, heimsuchen, gibt es für den Modernisierungsstau in Deutschland keine mildernden Umstände. Er ist hausgemacht, und wir haben ihn uns selbst zuzurechnen.

Stattdessen gefallen wir uns in Angstszenarien. Kaum eine neue Entdeckung, bei der nicht zuerst nach den Risiken und Gefahren, keineswegs aber nach den Chancen gefragt wird. Kaum eine Anstrengung zur Reform, die nicht sofort als ‚Anschlag auf den Sozialstaat‘ unter Verdacht gerät. Ob Kernkraft, Gentechnik oder Digitalisierung: Wir leiden darunter, dass die Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden – teils ideologisiert, teils einfach ‚idiotisiert‘. Solche Debatten führen nicht mehr zu Entscheidungen, sondern sie münden in Rituale, die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufen, nach einer Art Sieben-Stufen-Programm:

Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.

Die Medien melden eine Welle ‚kollektiver Empörung‘.

Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.

Die nächste Phase produziert ein Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.

Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.

Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur ‚Besonnenheit‘.

Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.

Diese Rituale könnten belustigend wirken, wenn sie nicht die Fähigkeit, zu Entscheidungen zu kommen, gefährlich lähmen würden. Wir streiten uns um die unwichtigen Dinge, um den wichtigen nicht ins Auge sehen zu müssen. Erinnert man sich heute noch an den Streit über die Volkszählung, der vor ein paar Jahren die ganze Nation in Wallung brachte? Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich zu beliebigen Themen, Hauptsache, es wird kräftig schwarzgemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist; ohnehin wird die Qualität der Argumente dabei oft durch verbale Härte, durch Kampfbegriffe und ‚Schlagabtausche‘ ersetzt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind, in einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt werden müsste. Ich mahne zu mehr Zurückhaltung: Worte können verletzen und Gemeinschaft zerstören. Das können wir uns nicht auf Dauer leisten, schon gar nicht in einer Zeit, in der wir mehr denn je auf Gemeinschaft angewiesen sind. […]

Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Selbständigkeit anzustreben, in der der Einzelne mehr Verantwortung für sich und andere trägt, und in der er das nicht als Last, sondern als Chance begreift? Eine Gesellschaft, in der nicht alles vorgegeben ist, die Spielräume öffnet, in der auch dem, der Fehler macht, eine zweite Chance eingeräumt wird. Eine Gesellschaft, in der Freiheit der zentrale Wert ist und in der Freiheit sich nicht nur durch die Chance auf materielle Zuwächse begründet. […]

Wir müssen unsere Jugend auf die Freiheit vorbereiten, sie fähig machen, mit ihr umzugehen. Ich ermutige zur Selbstverantwortung, damit unsere jungen Menschen Freiheit als Gewinn und nicht als Last empfinden. Freiheit ist das Schwungrad für Dynamik und Veränderung. Wenn es uns gelingt, das zu vermitteln, haben wir den Schlüssel der Zukunft in der Hand. Ich bin überzeugt, dass die Idee der Freiheit die Kraftquelle ist, nach der wir suchen und die uns helfen wird, den Modernisierungsstau zu überwinden und unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu dynamisieren. […]

Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“

Ansprache zum 40. Symposium der Ludwig-Erhard-Stiftung „Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Erbe und Verpflichtung“, 11. Juni 1997

„Deshalb werden Systeme, die mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung arbeiten, in aller Regel besser bestehen. Ihre Fähigkeit, Probleme zu erkennen, Lösungen dafür zu suchen und zu finden und sie dann auch in die Realität umzusetzen, ist größer oder – einfacher ausgedrückt – ihre Lernfähigkeit ist größer. Der Erfolg ist zwar auch ihnen nicht sicher; denn das ist im menschlichen Leben überhaupt nichts. Aber er ist wahrscheinlicher als in jedem anderen System.

Hierin liegt die große Chance der offenen Gesellschaft. Man kann das – vorsichtig quantifizierend – auch so ausdrücken: Je mehr Personen, Einrichtungen und Unternehmen sich am Aufspüren neuer Probleme und Bedürfnisse beteiligen und je mehr sich an ihrer Lösung bzw. Befriedigung versuchen, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, daß beides wirklich erreicht wird.“

Rede auf dem Berliner Bildungsforum im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, 5. November 1997

„Wenn wir mehr Spitzenleistungen wollen, müssen wir Unterschiede in den Leistungen sichtbarer machen. Das beginnt schon bei den Schulen: Geben wir ihnen wieder mehr Verantwortung zurück! Was spricht etwa dagegen, sie bei der Auswahl des Kollegiums zu beteiligen? Ich habe auch nie verstanden, warum Lehrer und Professoren unbedingt Beamte sein müssen, warum die Verwaltung in das Korsett einer kameralistischen Haushaltsführung gepreßt werden muß, warum ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum hat als der Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik.

Und warum haben wir uns bislang gescheut, unsere Schulen in einen Vergleich treten zu lassen, der den Wettbewerb fördert? In den USA ist Präsident Clinton gerade dabei, einen ‚national achievement test‘ für Schüler einzuführen, damit Eltern im ganzen Land wissen, welche Schulen gut und welche weniger gut sind. Wäre das nicht auch ein Modell für uns? Könnten dann nicht die guten Schulen das Vorbild und den Ansporn für andere geben, die eigenen Angebote zu verbessern? […]

Bei dieser Gelegenheit sollten wir nicht zuletzt auch das förderalistische Einstimmigkeitsprinzip unserer Bildungspolitik zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen machen. Der Sinn des Föderalismus ist doch gerade, unterschiedliche Lösungen möglich zu machen. Was ist wichtiger – die ‚Einheitlichkeit der Bildungsverhältnisse‘ (was immer das sein mag) oder der Wettbewerb um den besten Weg aus der Sackgasse, in dem sich unser Bildungswesen befindet? Wäre es nicht besser, die bundesweiten Festlegungen so weit irgendmöglich zu beseitigen und stattdessen sowohl die Länder wie auch die einzelnen Bildungseinrichtungen experimentieren zu lassen? Reicht nicht eine Verständigung auf sorgfältig festzulegende Mindeststandards? Natürlich muß auch weiterhin ein Wechsel von Kiel nach Passau möglich sein. Aber vergessen wir nicht: In Zukunft wird auch ein Wechsel von Freiburg nach Straßburg oder von Bologna nach München auf der Tagesordnung stehen, und darauf sind wir wenig vorbereitet.“

Rede anlässlich der Veranstaltung „150 Jahre Revolution von 1848/49“ in der Paulskirche zu Frankfurt am Main, 18. Mai 1998

„Wo scheinbar alle Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand die Verantwortung. Ein undurchsichtiges Geflecht von Kompetenzen und Finanzierungen entsteht, die Erpreßbarkeit des Gesamtstaats durch in Lobbies organisierte Gruppen nimmt zu. Ergebnis: Man handelt zwar, aber man handelt wie auf einem Basar. Deswegen sage ich: Wir brauchen nicht nur eine Steuerreform mit weniger Ausnahmen und niedrigeren Tarifen; wir müssen auch im Verhältnis von Bund und Ländern zu einer Entflechtung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen kommen. Finanzentscheidungen und Sachverantwortung müssen wieder zusammengeführt werden, oder, mit einfachen Worten: Wer bestellt, der soll – jedenfalls im Prinzip – auch bezahlen. […]

Föderalismus ist nicht nur die vertikale Teilung der Gewalten. Richtig praktiziert, wird er ständig eine Vielzahl von möglichen Modellen und Lösungen hervorbringen, die in einen friedlichen Wettstreit der Ideen einmünden. Der Föderalismus setzt im politischen Bereich die Kreativität einer offenen Gesellschaft frei und er schafft zugleich dort Übereinstimmung, wo diese im Interesse des Gemeinwesens nötig ist. Das Prinzip stimmt also. Was fehlt, ist eine neue Verständigung darüber, was wirklich bundesweit geregelt sein muß und was der freien Entscheidung der Länder, ihrer Phantasie und ihrem Erprobungswillen gehören soll. Manche Einheitlichkeit wird darüber verlorengehen, aber auch manche Phantasielosigkeit. Wenn die Länder mehr Spielraum zum mutigen Experiment bekommen, werden auch neue Ideen Spielraum bekommen. […]

Vor uns liegt ein neues Zeitalter:

– in dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß,

– das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt,

– ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Institutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger verankert sein müssen.“

Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover, 3. Oktober 1998

„Vor allem warne ich davor, zur Einheit gleich noch die Einheitsdeutschen zu fordern. Solche Standardgeschöpfe hat es in deutschen Landen – Gott sei Dank! – nie gegeben. Im Gegenteil: Seit eh und je pflegen die Stämme und Regionen ihre Besonderheiten. Diese selbstbewußte Vielfalt hat unserem Lande nie geschadet, sie hat es politisch und kulturell bereichert! Und ich füge hinzu: Unsere offene und weltoffene Gesellschaft muß solche Unterschiede auch in Zukunft aushalten können.“

Weihnachtsansprache 1998, 25. Dezember 1998

„Entscheidend für die Zukunft ist, wie wir menschlich miteinander umgehen. Ich habe gesehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger sich für andere einsetzen, ich habe mir unzählige Aktionen, Initiativen und Projekte ansehen können. Viele haben mir darüber geschrieben. Ich habe sehen können, daß wir nicht nur eine Ellenbogengesellschaft sind, wie so oft behauptet wird. Viele sorgen dafür, daß wir auch eine Gesellschaft der gebenden Hände sind.

Aus kaum einem anderen Land kommen so viele Spenden für die Fernen und Fernsten. Kaum ein anderes Land nimmt so viel Fremde und Flüchtlinge auf wie Deutschland. Auch das stimmt mich für die Zukunft optimistisch.

Es gibt einen alten Spruch: Die ganze Dunkelheit der Welt reicht nicht aus, das Licht einer einzigen Kerze zu löschen.“

Eröffnungsansprache zum Weltwirtschaftsforum Davos „Außenpolitik im 21. Jahrhundert“, 28. Januar 1999

„Besonders am Herzen liegt mir die Intensivierung des Dialogs zwischen den Kulturen, um dem oft beschworenen Szenario eines ‚clash of civilizations‘ vorzubeugen. Wie in der Zeit der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West der Rüstungskontrolle kommt heute dem Dialog zwischen den Kulturen eine vertrauensbildende und damit friedenssichernde Rolle zu. Die Globalisierung, aber auch die immer neuen technischen Durchbrüche und die Verstärkerrolle der Medien haben zur Folge, daß die verschiedenen Kulturen schneller und intensiver aufeinander einwirken als jemals zuvor in der Geschichte der Welt. Darin liegen Chancen: Die Freiheit des Informationsaustausches macht es den Kulturen möglich, sich gegenseitig zu bereichern. Das hält sie lebendig und bewahrt sie vor musealer Erstarrung. Mehr Transparenz würde im übrigen auch mehr Wahrheit ermöglichen.

Ich will aber nicht verschweigen, daß das Ziel nicht eine globale Massenkultur sein kann. Diese provoziert auch Widersprüche, allerdings weniger zwischen den großen Weltkulturen, als innerhalb der Kulturen zwischen den Kräften der Moderne und den Kräften der Tradition. Unsere ‚entgrenzte‘ Welt führt nicht immer zu nützlicher Integration, sondern sie kann auch zu schmerzlichen Verlusten an Identität und Geborgenheit führen. Wir Menschen brauchen aber die gelassene Verwurzelung in Geschichte und Kultur. Aus Ressentiments und trotziger Selbstbehauptung können dagegen Intoleranz und Abweisung entstehen.“

Rede auf dem Deutschen Bildungskongress in Bonn, 13. April 1999

„Geben wir vor allem unseren Bildungsinstitutionen die Möglichkeit, ihre jeweils eigenen Wege und Lösungsmodelle zu finden und auszuprobieren. Diesem Prinzip des ‚Trial and Errors‘ müssen wir uns schon deshalb stellen, weil Schulen und Hochschulen unsere Kinder in Zukunft auf ein Leben vorbereiten müssen, das wir selbst noch gar nicht kennen, auf eine Welt, die noch erkundet und zum Teil noch erfunden werden muß, und auf eine Welt, in der Ungewißheit zum bestimmenden Merkmal geworden ist. […]

Unser Bildungssystem braucht mehr Wettbewerb und Effizienz, mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit der Bildungsinstitutionen. […]

Wettbewerb entsteht nicht durch theoretische Einsicht oder per Dekret. Er stellt sich ein, wenn den beteiligten Menschen und Institutionen Eigenständigkeit und Selbstverantwortung gegeben wird. Und wo Leistung belohnt wird, setzen sich die besten Ideen automatisch durch.“

Ansprache zur Eröffnung des Symposiums „Demokratische Legitimation in Europa in den Nationalstaaten in den Regionen“ an der Universität Freiburg, 28. April 1999

„Europäische Einigung macht deshalb eine Revitalisierung der kleinen Einheiten dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen nationalen Zentren oder gar die supranationalen Institutionen. […] Auf subnationaler und regionaler Ebene ist in vielen Ländern, übrigens nicht nur bei Angehörigen der Europäischen Gemeinschaft, die Demokratie besser eingespielt als auf nationaler Ebene.“

Photo: Myfuture.com from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG, Gründer der Initiative „Free Private Cities„.

Die Bürger in Deutschland sollen Elektroautos kaufen, nicht mehr rauchen, weniger Fleisch essen, sich Zuwanderern anpassen, die richtigen Parteien wählen, Heterosexualität als soziales Konstrukt begreifen, sie sollen Angst vor Klima, Atom und Fracking haben, keinesfalls aber vor Islamisierung und Masseneinwanderung, gegen Rassismus und Sexismus sein, ausgenommen dieser richtet sich gegen alte weiße Männer. Sie sollen sich pünktlich bei der örtlichen Einwohnerbehörde melden, keine Waffen besitzen, ihre Kinder zu kapitalismuskritischen, ökologisch korrekten Genderwesen erziehen lassen, energieeffizient bauen, fein säuberlich den Müll trennen und, zu guter Letzt, abweichende Meinungen ordnungsgemäß denunzieren.

Im Gegenzug erklären Regierungsmitglieder, es gäbe kein Grundrecht auf Sicherheit und man müsse das Zusammenleben täglich neu aushandeln. Orientalische Großclans beherrschen die kriminelle Szene in vielen Großstädten, selbst Intensivtäter werden nicht abgeschoben. Die Beeinflussung und Bedrohung von Zeugen, Polizisten, sogar von Richtern ist nichts Ungewöhnliches mehr. Einbruch, Diebstahl, Straßenraub, Körperverletzung, sexuelle Nötigung werden oft gar nicht mehr verfolgt bzw. die Ermittlungen gleich eingestellt oder mit Kleinstrafen auf Bewährung belegt. Der Gebrauch der Meinungsfreiheit wird als „Volksverhetzung“ dagegen immer öfter mit Haftstrafen über einem Jahr und ohne Bewährung geahndet. Selbst für das Nichtzahlen von Fernsehgebühren sollen Menschen eingesperrt werden. Und wehe, einer begleicht seine Steuern nicht.

Weitreichende Entscheidungen, wie der Ausstieg aus der Kernenergie, die Haftung für Schulden anderer EU-Staaten, die bedingungslose Öffnung der Grenzen für Zuwanderer, werden ohne Beteiligung des Parlaments und entgegen der bestehenden Rechtslage von der Regierung einfach verfügt. Dem Fiskus nachteilige Gerichtsurteile werden per „Nichtanwendungserlass“ ausgehebelt. Die vormoderne, absolutistische Lehre des Islam soll jetzt zu Deutschland gehören, daher gelten gesetzliche Verbote von Vielehen, von Kinderehen, von Körperverletzung (Beschneidung Minderjähriger) oder von Tierquälerei (betäubungsloses Schächten) faktisch nicht für die Anhänger dieser Lehre.

Dafür ist Deutschland heute weltweit in der Spitzengruppe der höchsten Steuer – und Abgabenquoten und der höchsten Stromkosten. Es hat eine Verschuldung von 2000 Milliarden Euro, aber das geringste private Haushaltsvermögen aller Euro-Länder, einen der prozentual geringsten Rentenansprüche innerhalb der EU und ist derzeit Schauplatz einer bewusst herbeigeführten Masseneinwanderung in die Sozialsysteme, deren Kosten sich nach Regierungsangaben auf 100 Milliarden EUR allein für die nächsten fünf Jahre belaufen werden.

Wie konnte es soweit kommen? Wenn wir diese Frage ernsthaft beantworten und Lösungsansätze finden möchten, müssen wir bereit sein, auch langjährige Überzeugungen infrage zu stellen. Denn ähnliche Entwicklungen sind auch in anderen westlichen Staaten zu beobachten. Bereits das spricht dagegen, dass es hier lediglich um personenbezogene Probleme geht, die mit Abwahl und Austausch der Regierung gelöst werden können.

Meine diesbezüglichen Erkenntnisse werden Ihnen vermutlich nicht gefallen. Sie könnten sogar mentale Schmerzen bereiten. Die gute Nachricht: auch wenn sie die ersten fünf Schlussfolgerungen ablehnen und nur den sechsten Schmerz annehmen, reicht das für eine Lösung.

Erster Schmerz: Es gibt kein objektives Gemeinwohl

Nun sind allenthalben im Westen politische Gegenbewegungen entstanden, die zumindest einige der genannten Fehlentwicklungen rückgängig machen wollen. Aber selbst, wenn dies tatsächlich geschieht und ein echter Politikwechsel herbeigeführt wird, stellt sich doch die Frage, ob dadurch nicht nur ein Bevormundungssystem durch das nächste ersetzt wird. Dazu ein eher banales, aber anschauliches Beispiel: vom Parteitag der AfD wurde berichtet, dass die Vorsitzende Petry sich damit durchsetzen konnte, Subventionen für die von ihr geschätzten städtischen Orchester ins Programm aufzunehmen, da diese ein bedeutendes Kulturgut darstellten. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass 95 % der Menschen, die nie solche Konzerte besuchen, den anderen 5 % ihr Kulturvergnügen finanzieren müssen. Und zwar, weil Frau Petry das gut findet.

Damit kommen wir einem Grundproblem auf die Schliche, das auch dadurch nicht gelöst wird, dass demokratisch entschieden wird. Es beginnt mit scheinbar harmlosen Dingen wie den Kultursubventionen und endet damit, dass vorgeschrieben wird, was der Einzelne zu essen hat, welche Meinung er haben darf und wie er seine Kinder erziehen lassen muss.

Begründet wird das eine wie das andere mit Gerechtigkeits- und Gemeinwohlgedanken. Diese Begriffe suggerieren objektive Werte, die es aber so nicht gibt.

Denn die Menschen sind verschieden, haben verschiedene Wertvorstellungen und auch verschiedene Lebenssituationen. Was ist mit einem Rockmusiker, der mit seinen Kompositionen die zeitgenössische Musikkultur voran gebracht, aber den Zenit seiner Popularität überschritten hat? Warum sollten seine Konzerte nicht ebenso staatlich bezuschusst werden?

Oder: Ein staatlich verordneter Mindestlohn soll dem Wohl der Geringverdiener dienen, verursacht unter diesen aber eine höhere Arbeitslosigkeit. Entspricht dann nicht der Verzicht auf Mindestlöhne eher dem Gemeinwohl?

Oder: Die Kernenergie ist eine saubere und preiswerte Energieform. Entspricht es mithin nicht dem Gemeinwohl, die Kernenergie zuzulassen, anstelle diese aufgrund der Angst vor Unfällen zu verbieten?

Die Antwort hängt wie so oft vom Standpunkt des Betrachters ab. Allerdings ist das der Fall in sämtlichen Bereichen, in denen das sogenannte Gemeinwohl bemüht wird.

Erste schmerzhafte Erkenntnis: Ein objektivierbares Gemeinwohl oder objektive Gerechtigkeit gibt es nicht, wenn wir akzeptieren, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben und damit unterschiedliche Moralvorstellungen und Werte zulässig sind.

Zweiter Schmerz: Der Sozialstaat ist ein Irrweg

Der Sozialstaat gilt vielen als unverzichtbare Errungenschaft moderner Staaten. Er soll Lebensrisiken wie Hunger, Krankheit und Armut absichern und jedem ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Diese Ziele sind ehrenhaft und nicht zu beanstanden. Der Sozialstaat ist aber kein geeignetes Vehikel dazu. Er führt in den Ruin, entmündigt und verursacht unsoziales Verhalten. Im Ergebnis verschlimmert er die Zustände, die er bekämpfen will. Denn der Sozialstaat weist mehrere Konstruktionsfehler auf. Die wesentliche funktionelle Unzulänglichkeit ist dabei die systematische Setzung von Fehlanreizen. Sowohl die Politik, als auch die Verwaltung, als auch die Leistungsempfänger sehen sich massiven Anreizen ausgesetzt, das System zum eigenen Vorteil auszunutzen. Der Sozialstaat unterliegt damit ebenfalls der Tragik der Allmende.

Die im Sozialstaat allgegenwärtige Forderung gesellschaftlicher Gruppen nach Umverteilung steht darüber hinaus der Aufforderung zu einer Straftat gleich. Denn Umverteilung ist nur möglich, indem man Menschen die Früchte ihrer Arbeit wegnimmt. Die Folge sind nie endende Verteilungskämpfe, sozialer Unfriede und Missgunst. Es gibt keinen allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, der zwei Menschen erlaubt, einen Dritten zu enteignen. Auch persönliches Pech oder Unvermögen begründen nicht das Privileg, andere auszubeuten.

Verteidiger des Sozialstaats werden einwenden, dass „Solidarität“ und „soziale Gerechtigkeit“ anders nicht hergestellt werden könnten. Aber unter Androhung von Gewalt erzwungene Solidarität ist keine. „Soziale Gerechtigkeit“ ist ein undefinierbarer Kampfbegriff und hängt stets vom Standpunkt des Betrachters ab, siehe Erster Schmerz. Was qualifiziert einen Menschen, auf Kosten eines anderen zu leben und wer ist der Richter, der darüber befindet?

Zweite schmerzhafte Erkenntnis: Der Sozialstaat ist ein Irrweg. Es gibt kein Recht, auf Kosten Anderer zu leben. Ein wie auch immer legitimiertes System, welches per Gesetz Enteignungen zugunsten Dritter vorsieht, kann auf Dauer weder ein friedliches, noch ein berechenbares Miteinander schaffen.

Dritter Schmerz: Demokratie ist nicht das Ende der Geschichte

Demokratie gilt den meisten als nicht hinterfragbare, erstrebenswerte politische Ordnung. Aber bereits Aristoteles erkannte, dass Demokratien im Laufe der Zeit stets zu Despotien degenerieren. Wenn wir uns weiter entwickeln wollen, müssen wir also auch die Demokratie kritisch prüfen.

Das Grundproblem der Demokratie ist die Entkoppelung von Macht und Verantwortung. Das gilt für die parlamentarische wie die direkte Demokratie. Wer als demokratisch gewählter Amtsträger keinerlei Nachteil erleidet, wenn er verheerende Entscheidungen trifft, außer dass er – unter Beibehaltung aller Pensionsansprüche – abgewählt wird, hat keinen Anreiz, langfristig vernünftige Entscheidungen zu treffen. Er hat aber allen Anreiz, Wählerstimmen auf Kosten des Steuerzahlers zu kaufen.

Und jeder einzelne kann -ohne jegliche Haftung- per Volksabstimmung für eine dumme Idee votieren, die andere Milliarden kostet, auch die Menschen, die dagegen gestimmt haben.

Die negativen Auswirkungen dieser Entkoppelung von Macht und Verantwortung sind auch der Hauptgrund, warum es keine demokratisch geführten Unternehmen gibt. Es würde immer im Ruin enden. Warum?

Die Konditionierung des Menschen nach dem Minimalprinzip, das heißt dem Bestreben, möglichst viel zu erhalten für möglichst geringen Einsatz, ist einerseits evolutionär vernünftig. Sie hat dafür gesorgt, dass wir stets nach Hilfsmitteln und Methoden Ausschau gehalten haben, um mit weniger Anstrengung mehr Ertrag zu erhalten. Trifft diese Disposition nun auf politische Macht, ergibt sich in der Demokratie ein Problem: Die Politik kann aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols den Wählern Zuwendungen versprechen, welche diese scheinbar nichts kosten. Aus deren Sicht stellt sich dies vorteilhaft dar: keine Anstrengung, trotzdem Ertrag = gutes Geschäft. Darunter fallen nicht nur offensichtliche Wählerbestechungen wie die Gewährung von Kindergeld oder freier Heilfürsorge, demnächst das bedingungslose Grundeinkommen, sondern auch gesetzliche Regelungen, die eine Interessengruppe wünscht, z.B. das Verbot der Kündigung des Arbeitsplatzes.

Alle kurzfristigen Vorteile, Zeitgeistmoden, gegenleistungslose Versprechen und dergleichen „Gratis“- Angebote der Politik werden von der Mehrheit nachgefragt. Natürlich muss am Ende irgendjemand dafür bezahlen, aber eine der wichtigsten „Leistungen“ von Politik besteht gerade darin, solche Zusammenhänge zu verschleiern. In der Theorie kann man dieses Problem mittels Einsatzes der Vernunft und Überzeugungsarbeit bewältigen, in der Praxis ist das Minimalprinzip stärker. Politiker, die Leistungskürzungen befürworten, werden über kurz oder lang abgewählt.

Nach und nach finden immer mehr gesellschaftliche Gruppen heraus, wie man die Macht des Staates für eigene Zwecke einsetzt. Der Staat – nicht wirtschaftliche Aktivität- wird die Hauptquelle zur Erhöhung des Lebensstandards. Immer weniger Menschen sind im produktiven Sektor tätig. Verteilungskämpfe werden intensiver. Dem Staat geht schließlich das Geld aus. Die daraus resultierende Krise führt zu Radikalreformen oder gar Systemwechseln. Das Spiel beginnt von vorn.

In Deutschland sind es derzeit von 82 Millionen Einwohnern noch etwa 15 Millionen, welche echte Wertschöpfung betreiben, also nicht direkt oder indirekt vom Staat finanziert werden. Bei circa 60 Millionen Wahlberechtigten wird klar, dass diese Gruppe selbst dann, wenn sie geschlossen abstimmen würde, die Regierungsbildung nicht mehr entscheidend beeinflussen kann.

Dritte schmerzhafte Erkenntnis: Es kommt in der Demokratie immer zur Systemkrise, wenn der Staat sein Gewaltmonopol benutzt, um politische Ziele zu verfolgen, die über den Schutz von Leib, Leben und Eigentum seiner Bürger hinausgehen. Leider wird genau dieses Verhalten von der demokratischen Mehrheit nachgefragt.

Vierter Schmerz: Politik ist Teil des Problems

Das staatliche Gewaltmonopol schafft einen Ordnungsrahmen, innerhalb dessen der Mensch sozial interagieren und friedlich Leistungen und Güter tauschen kann. Das Bestehen von Sicherheit und festen Regeln macht es möglich, dass Menschen in großer Zahl mit- und nebeneinander leben können. Das funktioniert gut, soweit sich der Staat auf die Sicherung von Leib, Leben und Eigentum der Bürger beschränkt und sich im Übrigen heraushält.

Das ist keine neue Erkenntnis, sie findet sich bereits bei den Denkern John Locke, bei Wilhelm von Humboldt oder Ludwig von Mises. Oder auch bei Ludwig Erhardt, demzufolge die Probleme beginnen, wenn der Staat aufhört, Schiedsrichter zu sein und anfängt selber mitzuspielen. Freilich wird diese Erkenntnis regelmäßig missachtet, weil es so attraktiv ist, seine Probleme von der Politik lösen zu lassen.

Aber Politik bedeutet letztlich, seine Sicht der Welt allen anderen aufzuzwingen. Doch die Menschen sind verschieden. Was für den einen richtig ist kann für den anderen falsch sein. Subjektiv unterschiedliche Wertvorstellungen und objektiv andere Lebenssituationen bewirken, dass jede „politische Lösung“ von Sachverhalten Menschen zurücklässt, die gegen ihren Willen zu etwas gezwungen wurden. Politik zu treiben, heißt Partei zu ergreifen und die Wünsche einiger zum Maßstab für alle zu erheben, und zwar, das darf man nicht vergessen, notfalls mit Gewalt.

Das geht soweit, dass heutzutage Oppositionelle sogar gegen sie selbst gerichtete Propaganda in Medien, Schulen und Universitäten über Steuern und Zwangsabgaben mitfinanzieren müssen. Politik bedeutet immer, dass einige Bürger mit Hilfe des Staates Zwang auf andere Bürger ausüben. Wenn ein Staat aber anfängt, Politik zu machen, also Ziele zu verfolgen, die nicht von allen gebilligt werden, dann missbraucht er sein Gewaltmonopol, das ihm die Bürger eingeräumt haben, um in Frieden zu leben.

Vierte schmerzhafte Erkenntnis: Politik ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Es reicht nicht, das Personal auszutauschen. Die einzige Abhilfe ist, die Politik umfassend zu entmachten.

Fünfter Schmerz: Die Soziale Marktwirtschaft ist gescheitert

Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft gehen davon aus, dass der Staat im Grundsatz freie Märkte zulassen solle. Er solle aber in das Marktgeschehen eingreife, wann immer der Markt Ergebnisse hervorbringe, die „sozial unerwünscht“ seien. Was aber ist „sozial unerwünscht“? Das entscheidet natürlich die Regierung. Die Befürworter der Sozialen Marktwirtschaft geben also der Regierung einen Freifahrtschein, jegliche Ergebnisse des Marktes nach eigenem Gutdünken zu korrigieren. Denn wenn der Staat das Recht hat zu entscheiden, ob bestimmte wirtschaftliche Gegebenheiten einen Eingriff rechtfertigen oder nicht, dann ist über kurz oder lang kein Handlungsbereich mehr dem Marktgeschehen überlassen. Dann sind es nicht länger die Konsumenten, die bestimmen was produziert wird, in welcher Menge und welcher Qualität, von wem, wo und wie – sondern es ist der Staat. Nach einer gewissen Zeit unterscheidet sich eine „Soziale Marktwirtschaft“ kaum mehr von einer voll regulierten Planwirtschaft.

Bevor ein Produktionsbetrieb in Deutschland sich heute um die Kundenwünsche kümmern kann, muss er zunächst etwa 85.000 Einzelvorschriften in ca. 5.300 Gesetzes- und Verordnungstexten beachten. Nur was dem entspricht, darf produziert werden. Und auch wer und zu welchen Kriterien eingestellt werden darf, bestimmt zunehmend der Staat. Die Folgen sind dieselben wie in einer Planwirtschaft: Produkte werden teurer, schlechter und knapper. Denken Sie nur an das Gesundheitssystem, die Bildung oder die Strompreise.

Fünfte schmerzhafte Erkenntnis: Es gibt keinen dritten Weg zwischen Markt- und Planwirtschaft, auch nicht die Soziale Marktwirtschaft. Es gibt immer nur „Markt oder Befehl“ (Roland Baader).

Sechster Schmerz: Wir müssen Systeme zulassen, die uns nicht gefallen

Wenn es aber so unterschiedliche Wert- und Moralvorstellungen und unterschiedliche Lebenssituationen gibt, kann es dann ein für alle ideales Gemeinwesen überhaupt geben? Vermutlich nicht. Aber vielleicht ermöglichen politikfreie Gemeinwesen zumindest einer Vielzahl von Menschen, in Frieden und Freiheit nach ihren persönlichen Überzeugungen zu leben. Die anderen mögen autoritäre Systeme bevorzugen oder alles so lassen wie es ist.

Vernunft und Erfahrungswissen, wie die aufgeführten schmerzhaften Erkenntnisse, sind eine gute Basis für die Gestaltung eines Gemeinwesens. Aber am Ende zählen Versuch und Irrtum. Die Wirklichkeit ist zu komplex, um am Schreibtisch ein perfektes Produkt zu entwerfen. Doch die aktuellen Angebote sind unbefriedigend.

Was besser funktioniert können wir aber nur herausfinden, wenn wir Alternativen wie etwa Freie Privatstädte zulassen. Und zwar auf freiwilliger Basis. Denn auf eines sollten wir uns aufgrund der Erfahrungen mit den Menschenexperimenten der letzten 100 Jahre verständigen: Niemand soll in ein System gezwungen werden, das er nicht will. Aber was spricht dagegen, Versuche mit Freiwilligen zuzulassen, außer dass wir glauben, es besser zu wissen und andere bevormunden wollen?

Sechste schmerzhafte Erkenntnis: Es gibt vermutlich kein ideales Gemeinwesen, aber besser funktionierende Varianten können wir nur durch Versuch und Irrtum herausfinden. Dazu müssen wir freiwillige Alternativen zulassen, auch wenn diese dem widersprechen, was wir für gut und richtig halten.

Erstmals veröffentlicht beim Deutschen Arbeitgeber Verband.

Photo: DIE LINKE. Landesverband Baden-Württemberg from flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Seit einiger Zeit treffen Wähler unerwartete, unkonventionelle und für manch einen unbequeme Entscheidungen. Politiker und Journalisten analysieren eine Vertrauenskrise des Establishments. Ist eine Ursache dieser Vertrauenskrise womöglich das mangelnde Vertrauen der Politiker in ihre Bürger?

Leben wir in einer Diktatur?

Die Politik ist in Verschiss – selbst bei den Bürgern, die nicht sofort mit Vorwürfen wie Lüge oder Betrug operieren. Die Einschätzung, dass sich der Abstand zwischen Politikern und Normalbürgern immer mehr vergrößert, wird inzwischen von vielen dieser Politiker selbst geteilt und kommuniziert (in der Regel mit der Floskel, man müsse Politik nun besser erklären). Das aufkommende Misstrauen hat allerdings auch relativ wenig mit der gesunden Politik- und Staatsskepsis zu tun, die aufgeklärten Bürgern gut zu Gesichte steht. Es ist oft an der Grenze zum pauschalen Hass auf „die da oben“. Der zivilisierte Diskurs, der eine freiheitliche Demokratie und eine Offene Gesellschaft ausmacht, gerät dadurch zunehmend in die Defensive. Doch liegt das an der Verrohung der Bevölkerung? Oder spielt vielleicht die Politik eine wesentlich größere Rolle als die Rede vom „Wutbürger“ vermuten ließe?

In der Staatsform der Demokratie, wo der Bürger der Souverän ist, ist es von zentraler Bedeutung, dass Politiker den Bürgern – ihren Wählern! – vertrauen. Schwindet dieses Vertrauen, besteht nicht nur die Gefahr, dass die Bürger ihrerseits das Vertrauen entziehen. Es wird letztlich auch an den Grundfesten unseres Gemeinwesens gerüttelt – ist es doch Kennzeichen despotischer und autoritärer Herrschaft, dass ein Herrscher den Untertanen misstraut. Natürlich ist keine der westlichen Demokratien eine Tyrannei oder Diktatur. Mit Blick auf Länder wie Nordkorea, Syrien oder Venezuela sind solche Vergleiche mehr als zynisch. Doch mangelndes Vertrauen der politischen Verantwortlichen in die Bürger löst bei manchem jenes Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins aus, das auch der Untertan eines Gewaltherrschers empfindet. Drei Aspekte stehen exemplarisch für diesen Vertrauensverlust: die Terrorbekämpfung, die Eurokrise und der neue Paternalismus.

„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Deutschland ist erfreulicherweise eines der Länder, in dem Bürger am sensibelsten auf staatliche Überwachung reagieren, und in dem ein sehr waches Gespür für Fragen des Datenschutzes herrscht. Regierungen anderer Länder, wie etwa der USA oder Großbritanniens, sind da weniger zimperlich. Für die einen mögen Email- und Telefonüberwachung, unzählige Überwachungskameras und komplizierte Einreise-Formalitäten das Gefühl von Sicherheit hervorrufen. Viele aber fühlen sich als unbescholtene Bürger schikaniert und mitunter auch bedroht durch einen wachsenden Überwachungsstaat. Im Zweifel ist es, wie bei der NSA-Affäre, ja nicht einmal der eigene Staat, der das Privateste der Menschen durchschnüffelt. Wer liest unsere Daten? Wozu werden sie genutzt? Ist Terrorbekämpfung der einzige Grund für die Sammelwut?

Als 2010 die Eurokrise ausbrach, stand vor allem Beschwichtigung auf der Tagesordnung. Es bedurfte eines medialen Schwergewichts wie Hans-Werner Sinn, um die Risiken der Target-Salden aufzudecken. Haftungsmechanismen wurden verschleiert. Selbst viele Bundestagsabgeordnete waren ahnungslos, wieviel Geld wieder einmal für eine Rettung krisenbedrohter Staatshaushalte in der EU aufgewandt werden mussten. Und die Politik der EZB ist nicht nur für Laien kaum mehr nachvollziehbar. Während die verantwortlichen Politiker beschwichtigend behaupteten, sie hätten alles im Griff, wuchs unter den Bürgern das mulmige Gefühl, dass ihnen eine realistische Perspektive vorenthalten werde. Viele hatten damals schon den Eindruck, den Innenminister de Maizière im November 2015 mit seinem berühmten Diktum hervorrief: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Eigenverantwortliche Bürger

Ein bereits länger anhaltender Trend des Misstrauens gegenüber der eigenen Bevölkerung findet sich in den mannigfaltigen Ausprägungen des Paternalismus. Immer mehr politische Maßnahmen werden ergriffen, um Bürger zum „verantwortlichen“ Konsum, zur „gesunden“ Ernährung oder zu „richtigen“ Entscheidungen hinzuführen. All diese Initiativen suggerieren, dass Politiker und Bürokraten den einfachen Bürgern an Wissen, Einsicht und eventuell auch moralischer Größe überlegen sind, was sie dazu prädestiniert, diese auf den rechten Weg zu weisen. Man hat nicht mehr das Gefühl, als selbstverantwortliches Individuum ernstgenommen zu werden. Die Botschaft, die durch den wachsenden Paternalismus bei vielen ankommt, lautet: „Wir vertrauen Dir eigentlich nicht …“

Unser freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen wird gefährdet durch das mangelnde Vertrauen der Politik in den Bürger. Eine Kehrtwende in der politischen Kultur tut Not. Politiker können ihren Bürgern nicht nur bittere Wahrheiten zutrauen, sie müssen es auch – sie haben eine Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Wählern. (In Frankreich erlebten wir vor kurzem bei der Wahl von François Fillon zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, dass das funktionieren kann.) Unter Umständen gehört dazu auch bisweilen das Eingeständnis, selber nicht genau zu wissen, was die richtige Lösung ist. Alles ist besser, als sich in Nebel zu hüllen, um niemanden zu „verunsichern“. Die staatliche Überwachung muss immer wieder auf den Prüfstand und muss der Prämisse unterworfen sein, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen unbescholtene Bürger oder Gäste sind, deren Privatsphäre zu schützen zu den obersten Pflichten des Staates gehört.

Und schließlich müssen politische Entscheidungsträger wieder mehr Respekt vor den eigenverantwortlichen Entscheidungen ihrer Bürger haben. Ihre eigenen Ansichten darüber, was gut und richtig ist, dürfen nicht der Maßstab für politische Maßnahmen sein. Der Griff zur Zigarette, zum Schokoriegel oder zum Steak ist Teil der Privatsphäre der Menschen und zugleich Ausdruck ihrer eigenen Entscheidungsfähigkeit. Wer ihnen diese abspricht, sägt letztlich am eigenen Ast: denn in einer Demokratie ist diese Entscheidungsfähigkeit der Grund dafür, dass Politiker im Amt sind. Die Politik muss sich das Vertrauen der Bürger verdienen – der beste Weg dorthin besteht darin, wenn die Politik wieder den Bürgern vertraut. Es mag helfen, wenn sich Politiker wieder bewusstmachen, wer der Souverän ist.