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Photo: Vladimir Pustovit from Flickr (CC BY 2.0)

Was zeichnet eigentlich eine moderne Gesellschaft aus? Ist es ihr Wohlstand, die Infrastruktur oder sind es ihre technischen Errungenschaften? Nein, es sind bestenfalls auch die Ergebnisse einer offenen Gesellschaft. Doch hier sind moderne Gesellschaften nicht alleine. Auch Saudi-Arabien kennt Wohlstand und eine gute Infrastruktur, obwohl das Land die Meinungsfreiheit unterdrückt und Steinigungen und Todesstrafen regelmäßig vollzieht. Und auch China kennt einen wachsenden Wohlstand, obwohl die Kommunistische Partei Chinas alles beherrscht und Andersdenkende einsperrt.

Eine moderne Gesellschaft zeichnet in erster Linie aus, dass sie offen für Neues ist und Widerspruch nicht nur zulässt, sondern ihn braucht. Das ist nicht selbstverständlich. Denn das Neue ist unbekannt, unsicher und möglicherweise auch mit Risiken behaftet. Eine moderne Gesellschaft verlässt sich nicht auf die Regierung. In einer modernen Gesellschaft verlässt sich der Einzelne erst mal auf sich selbst und dann auf sein näheres Umfeld, die Familie und Freunde, und erst an letzter Stelle greift der Staat und sein Netz an Hilfen ein.

In einer modernen Gesellschaft sind „die da oben“ auch nicht so wichtig. Sie sind die Dienstleister der Bürger. Nicht die Bürger sind in dieser Gesellschaft zur Transparenz verpflichtet, sondern die Regierung und ihre Organe. Zu diesem Idealzustand muss eine offene Gesellschaft immer wieder erneut streben. Das ist oft leichter gesagt als getan. Denn Regierungen und Parlamente streben nach Macht und Einfluss. Diese Macht ist im Rechtsstaat aber begrenzt durch das Gesetz. Doch auch das Gesetz kann Recht aushebeln. Jüngste Beispiele sind das Netzdurchsetzungsgesetz der großen Koalition, wo die Betreiber von Sozialen Netzwerken wie Facebook zu Hilfssheriffs der Regierung degradiert werden, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Das Recht muss daher immer von einer offenen Gesellschaft verteidigt werden. Die Gleichheit vor dem Recht ist dabei der Maßstab. Es darf keine Unterschiede machen, ob jemand arm oder reich ist oder Einfluss bei den Oberen hat oder nicht. Dieses Recht unterliegt einem kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Was vor hundert Jahren als unrecht empfunden wurde, muss heute längst nicht mehr unrecht in den Augen einer Gesellschaft sein. Früher war der Ehebruch nicht nur vor dem Gesetz verboten, sondern auch Unrecht in den Augen der Gesellschaft. Seitdem findet ein gesellschaftlicher Wandel statt, der auch die Gesetzgebung beeinflusst hat. Seit 1969 wird der Ehebruch nicht mehr strafrechtlich sanktioniert und seit 1977 wird die Schuldfrage bei Scheidungen nicht mehr hinterfragt. Die hohen Scheidungsraten lassen auch einen gesellschaftlichen Wandel im Rechtsempfinden der Menschen erkennen. Das muss man nicht gut finden, dennoch verändert sich die Gesellschaft.

Damit gesellschaftlicher Wandel stattfinden kann und Regierungen ihre persönliche Meinung nicht zum Maßstab aller erklären, müssen Gesetze allgemein, abstrakt und für alle gleich sein. Wenn Regierungen Einzelfallgerechtigkeit per Gesetz durch immer neue Paragrafen herstellen wollen, dann verschlimmbessern sie das Recht. Es wird bürokratisch, interventionistisch und damit ungerecht. Der Einzelne versteht es nicht mehr, muss sich einen Rechtsbeistand nehmen, den wiederum nicht jeder sich leisten kann. Damit wird das Gesetz ungerecht, weil es nur noch auf dem Papier für jeden gleich ist.

Nicht alles, was gut gemeint ist, ist in seiner Wirkung auch gerecht. Die Sozialgesetzgebung in Deutschland ist das beste Beispiel für diese Einzelfallgerechtigkeit. Sie hilft nicht den wirklich Bedürftigen, sondern auch denjenigen, die sich eigentlich selbst helfen können. Letztere zahlen das mit ihren Steuern und Abgaben, die ein Rekordniveau erreichen und den Staat immer fetter und einflussreicher machen. Auch das führt zu immer mehr Unfreiheit. Haben Sie Mut zu Recht und Freiheit!

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung.

Photo: oliver.dodd from flickr.com (CC BY 2.0)

Die Air Berlin-Pleite war mit Ansage. Seit bald 10 Jahren werden Verluste in Milliardenhöhe produziert. Das Eigenkapital war aufgebraucht. Seit Jahren laufen Gespräche über die Rettung der Fluglinie. Und Air Berlin bemühte sich seit Monaten um eine staatliche Bürgschaft, um Zeit zu gewinnen. Es brauchte wohl die Urlaubszeit und die Nähe zur Bundestagswahl, um die Bundesregierung jetzt zum Handeln zu bewegen. Fast über Nacht hilft der Bund nun mit 150 Mio. Euro frischem Geld. Man will den Weiterbetrieb für drei Monate sichern, so glaubt man. Die Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries ist sich nicht zu schade, um die Hilfe nun tatsächlich mit den Sommerferien zu begründen. Es war, um im Merkel-Sprech zu bleiben, wohl alternativlos. Über Alternativszenarien nachzudenken, war jetzt keine Zeit mehr. Wie schon so oft, musste in einer Wochenendaktion ein „Rettungsplan“ her, der den Steuerzahler noch viel Geld kosten wird. Diese Konzeptionslosigkeit ist nicht neu, aber dennoch erschreckend.

Die Ministerin befindet sich in einer langen Tradition dieser „Rettungsversuche“, die eng mit der Sozialdemokratie und ihrem Bild von Wirtschaftspolitik verbunden sind. Alle sind gescheitert. 1999 half der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Baukonzern Philipp Holzmann. Er war den Gläubigerbanken damals vor „mehr an ihr Geschäft zu denken statt daran, das Unternehmen und die Arbeitsplätze abzusichern.“ Der Bund „rettete“ mit einer Bürgschaft von 250 Millionen DM den traditionsreichen Baukonzern. 2002 ging er dennoch Pleite. Auch in der Luftfahrtbranche kann die SPD Ergebnisse vorweisen. 2001 ging LTU in Düsseldorf pleite und das damals SPD-geführte Bundesland half mit seiner Westdeutschen Landesbank dem Unternehmen aus der Patsche. Geholfen hat das nicht. Das Unternehmen existiert nicht mehr. Vor 10 Jahren wurde es von Air Berlin übernommen. Und jetzt Air Berlin.

Der Eindruck, den Großen am Markt hilft man und die Kleinen werden alleine gelassen, trügt nicht. Es ist das gängige Prinzip. Die Luftfahrtbranche ist im Umbruch. Neue Marktteilnehmer mit besseren Geschäftsmodellen drängen in den Markt. Das ist gut so, denn dadurch wird Fliegen auch für Otto-Normalbürger erschwinglich. Schon deshalb sind die politischen Reflexe aus der Regierung gegen Ryanair falsch. Warum sollte der Bund sich dafür einsetzen, dass die Lufthansa oder ein anderer Wettbewerber die Filetstücke von Air Berlin bekommt und nicht Ryanair? Es ist sicherlich nicht die Aufgabe einer Bundesregierung, sich für bestimmte Marktteilnehmer einzusetzen. Sie muss dafür sorgen, dass Wettbewerb stattfinden kann, dass nicht durch ihre Politik Marktmacht entsteht und zementiert wird. Kurz: sie muss für einen Ordnungsrahmen sorgen. Nicht mehr und nicht weniger.

Im übrigen ist es sehr wahrscheinlich, dass die Bürgschaftssumme von 150 Mio. Euro nicht ausreichen wird, sondern lediglich bis zur Bundestagswahl am 24. September hilft. Lieferanten werden bei Air Berlin auf Vorkasse bestehen, die Passagierzahlen werden womöglich zurückgehen und Beschäftigte werden sich anderweitig orientieren. Die Gefahr ist unmittelbar, dass am Ende der Bund bürgt und dafür die Steuerzahler würgt.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Lars Plougmann from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Deutschland 2005, Belgien 2010-2011, USA 2013, Spanien 2016: Auch in etablierten Demokratien kommt es vor, dass Regierungen zeitweise einen erheblichen Teil ihrer Kompetenzen verlieren oder sich ganz auf repräsentative Tätigkeiten beschränken müssen. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: In Spanien verhindert politischer Streit seit Dezember 2015 die Regierungsbildung. Periodisch droht vor den Haushaltsverhandlungen in den USA der „government shutdown“, die Stilllegung aller nicht-essentiellen Regierungsbehörden – 2013 mussten tatsächlich einige Behörden ihre Arbeit einstellen. Nach den belgischen Wahlen 2010 musste die Vorgängerregierung 589 Tage lang kommissarisch im Amt bleiben, da im fragmentierten Parlament keine Mehrheit gefunden werden konnte. Auch in Deutschland stellte nach dem Misstrauensvotum im Juli 2005 die rot-grüne Koalition unter Schröder die Regierungsgeschäfte praktisch ein, bis ein halbes Jahr später die Regierung Merkel gebildet wurde.

Kommentatoren warnen in solchen Situationen regelmäßig davor, dass „politische Instabilität“ enorme wirtschaftliche Kosten nach sich ziehen wird, etwa in Form eines geringeren BIP-Wachstums, schwächeren Investitionen oder höherer Arbeitslosigkeit. Im Nachhinein stellen sich viele Sorgen jedoch als übertrieben heraus. Weder über kurze Zeitabstände – wie in Deutschland nach Schröders Vertrauensfrage 2005 – noch über lange Zeiträume – wie in Belgien ab 2010 – litt die Wirtschaft unter der Regierungsstarre. In manchen Fällen geschieht gar das Gegenteil: Spanien wächst seit Mitte 2015 so stark wie schon lange nicht mehr.

Diese Erfahrungen provozieren die Frage: Wächst die Wirtschaft trotz oder wegen der Regierungslosigkeit? Empirische Studien, die den kausalen Effekt von Regierungslosigkeit auf die wirtschaftliche Entwicklung identifizieren könnten, sind uns nicht bekannt. Entgegen der Befürchtungen vieler Kommentatoren bestehen allerdings gute Gründe dafür, dass zeitlich begrenzte Regierungslosigkeit den Bürgern wirtschaftlich nicht schadet und ihnen sogar nützlich sein kann.

Belgien: Ohne Regierung durch die Krise

Nach den allgemeinen Wahlen im Juni 2010 gelang es den politischen Parteien Belgiens 589 Tage lang nicht, eine neue Regierung zu bilden. Die Vorgängerregierung blieb über diesen Zeitraum kommissarisch im Amt, sah sich jedoch weitgehend auf repräsentative Tätigkeiten reduziert. Ihre Hauptaufgabe war es, das Land nach außen zu repräsentieren. Innenpolitisch wurde Belgien praktisch nicht regiert. An Warnungen vor dem großen Wirtschaftseinbruch mangelte es nicht und das Top-Rating belgischer Schuldpapiere geriet in Gefahr.

Eingetreten ist das Gegenteil: Trotz Eurokrise hat sich Belgien gut entwickelt. Das BIP wuchs 2010 um 2,7 und 2011 um 1,8 Prozent, schneller als durchschnittlich in der Euro-Zone. Vereinzelt wurde dies darauf zurückgeführt, dass Belgien ohne handlungsfähige Regierung weniger Austeritätsmaßnahmen umsetzen konnte. Weder umfangreiche Steuererhöhungen noch substantielle Kürzungen der Staatsaufgaben, die sich in der kurzen Frist beide negativ auf das BIP ausgewirkt hätten, konnten auf nationaler Ebene vorgenommen werden. Insbesondere nicht erfolgte Steuererhöhungen mögen in der kurzen und mittleren Frist von Vorteil für die belgische Bevölkerung gewesen sein.

 

 

Regierungslosigkeit bedeutet nicht politische Instabilität

Es gibt Hinweise darauf, dass der Ausfall der Funktionsfähigkeit des Staates – ausgelöst durch Putsche, Revolutionen oder Verfassungskrisen – für das Wirtschaftswachstum langfristig schädlich ist. Der drohende oder tatsächliche Kollaps von Staat, Verwaltung und Gewaltmonopol führt dazu, dass Unternehmen und Konsumenten sich nicht mehr darauf verlassen können, dass die Kernaufgaben des Staates als Inhaber der Gewaltmonopols erfüllt werden – die Landesverteidigung, der Schutz von Personen und Eigentum und die Durchsetzung von Verträgen. Dass solche Leistungen verlässlich erbracht werden, ist für komplexe, arbeitsteilige Wirtschaften essentiell.

Auch wenn Situationen, in denen keine Regierung gebildet werden kann, als Zeiten politischer Instabilität charakterisiert werden, impliziert Regierungslosigkeit nicht den Ausfall der Funktionsfähigkeit des Staates. Das bloße Fehlen einer Regierung bedeutet eben nicht, dass die Kernaufgaben des Staates unerfüllt bleiben. Tatsächlich kann der Staat auch ohne Regierung über lange Zeiträume erstaunlich gut funktionieren.

Die Planungssicherheit der belgischen Bürger hat unter der anderthalbjährigen Regierungsstarre offensichtlich nicht gelitten. Sie haben weiter gewirtschaftet wie zuvor und konnten sich auf einen funktionierenden Staatsapparat verlassen.

Weniger Regulierung ohne Regierung

Während die Nichterfüllung essentieller Staatsaufgaben zu höherer Unsicherheit und geringerer wirtschaftlicher Aktivität beiträgt, gilt dies für den Wegfall anderer staatlicher Aktivitäten nicht zwingend. Über die Bereitstellung öffentlicher Güter hinaus, betätigen sich Regierungen heute intensiv in der Schaffung neuer Regulierungen. Viele dieser Maßnahmen bremsen das Wirtschaftswachstum und können die Kompetenzen des Staates auf Bereiche ausweiten, in denen er gegenüber privaten Akteuren keinen komparativen Vorteil hat. Zwar werden auch ohne Regierung bereits bestehende Regulierungen weiter angewandt, doch kommen neue nicht oder nur in geringerem Umfang hinzu.

Nicht nur bereits umgesetzte Regulierungsmaßnahmen, sondern auch die Unsicherheit über zukünftige Maßnahmen können sich schädlich auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Unternehmer und Konsumenten, die angesichts einer aktionistischen Regierung das Timing und das Ausmaß zukünftiger Regulierung nicht abschätzen können, reduzieren ihre wirtschaftliche Aktivität. In Zeiten der Regierungslosigkeit oder lediglich kommissarisch tätiger Regierungen wird das Planungsumfeld der Bürger dagegen sicherer.

Immuner durch Dezentralisierung und Privatisierung

In manchen Situationen kann Regierungslosigkeit auf nationaler Ebene dennoch ein Problem darstellen, insbesondere, wenn sie länger andauert. Das ist dann der Fall, wenn Krisen und veränderte Rahmenbedingungen eine schnelle Reaktion der Politik erforderlich machen oder die Folgekosten der Entscheidungen von Vorgängerregierungen untragbar werden.

Gegen gravierende negative Auswirkungen durch die Handlungsunfähigkeit der nationalen Regierung können sich Gesellschaften jedoch wappnen. Werden Entscheidungskompetenzen dezentralisiert, so ist die Regierungsstarre auf einzelnen Ebenen weniger folgenreich. In eher föderalen Ländern ist das Fehlen einer zentralen Regierung besonders unproblematisch.

Auch die Schaffung weiterer privater Alternativen zu staatlichen Angeboten kann helfen, die negativen Folgen der Regierungslosigkeit abzufedern. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn staatliche Angebote nur deshalb wegfallen, weil sie zuvor gesetzlich monopolisiert wurden – und nicht etwa, weil entsprechende privatwirtschaftlich organisierte Angebote in Abwesenheit staatlicher Leistungen nicht bereitgestellt würden.

Selbst Ländern wie Spanien und Belgien, in denen die regionale Autorität der Provinzen weniger stark ausgeprägt ist als die der Bundesländer in Deutschland, scheint sich eine temporäre Regierungslosigkeit auf nationaler Ebene nicht zu Staatskrisen auszuweiten. Weder schränken Unternehmen und Konsumenten ihre wirtschaftlichen Aktivitäten ein, noch fallen essentielle staatliche Angebote weg. Eine weitreichendere Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen könnte dazu beitragen, dass die Regierungslosigkeit auf nationaler Ebene nicht nur in ruhigen Zeiten ihren Schrecken verliert, sondern auch in Krisenzeiten.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Harrygoucas from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Das Verfassungsreferendum in der Türkei ist eine Mahnung an den demokratischen Rechtsstaat. Er ist nicht gefeit vor grundsätzlichen Änderungen. Wer könnte ein Lied davon singen, wenn nicht wir Deutschen? Grundsätzliche Änderungen der Regierungsform, auch wenn sie sich schleichend vollziehen, sind eine ständige Gefahr. Sie werden häufig für einzelne Personen gezimmert. Darin liegt auch das Dilemma der Türkei. Die neue Präsidialverfassung ist auf den aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten. Darin liegt schon ihr grundsätzlicher Fehler. Der Putschversuch am 15. und 16. Juli 2016, nach dem anschließend über 40.000 Personen festgenommen und über 80.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ihren Job verloren, bot für Erdogan die entscheidende Begründung, die Machtfülle anzustreben, die ihm das Referendum jetzt zugestanden hat.

Das neue „Präsidialsystem“ wird von AKP-Politikern mit der Verfassung der USA verglichen. Das ist sehr vermessen. Nicht nur, weil die Vereinigten Staaten eine lange und große Verfassungstradition haben, die die Türkei nicht hat. Die US-Verfassung unterscheidet sich auch in sehr grundsätzlichen Fragen von der der Türkei. Die Gründerväter der USA um John Adams, Thomas Jefferson und James Madison mussten seinerzeit einen klassischen Konflikt lösen. Zum einen wollten sie das positive, das eine Regierung verspricht, zulassen, und zum anderen Freiheitsbedrohungen durch die Regierung und ihren Präsidenten verhindern. Aus diesem Anspruch folgten für sie zwei wesentliche Grundsätze.

Erstens musste der Spielraum des Präsidenten und der Regierung beschränkt werden. Zwar gilt der amerikanische Präsident als der mächtigste Mann der Welt, dennoch darf auch er nicht alles. Bei allem Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist er an die Verfassung gebunden, Gesetze können von ihm nur verhindert, aber nicht durchgesetzt werden. Sein Regierungshandeln wird von Gerichten überprüft. Unabhängige Medien kontrollieren und kritisieren sein Handeln.

Präsidenten Donald Trump kann ein Lied davon singen. Er stößt permanent an Grenzen. Die Rücknahme von Obama-Care scheiterte bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Parlament. Der Einreisestopp für Menschen aus Staaten mit überwiegend islamischer Bevölkerung wurde durch Bundesrichter verhindert. Und die wichtigste Zeitung Amerikas, die New York Times, hat seit seiner Wahl im November ihre Abonnentenzahl um 250.000 auf 3 Millionen erhöht. Der Aktienkurs stieg seitdem um 30 Prozent.

Der zweite Grundsatz der Verfassungsväter war die Einflussbeschränkung des Präsidenten und seiner Regierung durch eine vertikale Machtverteilung. Regierungsmacht wurde auf verschiedene Ebenen verteilt. Sie waren überzeugt, dass es besser ist, wenn Regierungsmacht in Städten, Landkreisen und Bundesstaaten ausgeübt wird, anstatt im fernen Washington. Wer sich dieser Regierungsmacht entziehen wollte, konnte von einer Stadt in die andere ziehen, von einem Landkreis in den nächsten und von einem Bundesstaat in einen weiteren. Wer also mit dem Schulsystem, mit der Besteuerung oder mit der sozialen Fürsorge nicht einverstanden war oder ist, konnte weiterziehen und sich der Macht der lokalen oder regionalen Administration entziehen.

Hier setzt der Politikstil der Erdogans an. Er und seine Helfershelfer wollen Macht zentral ausüben. Sie behaupten, dass Regierungshandeln dadurch viel effektiver werden kann und dies auch im Interesse der Öffentlichkeit sei. Doch wie immer gibt es hier zwei Seiten. Effektives Regierungshandeln kann zum Guten, aber auch zum Schlechten führen. Niemand, auch kein Präsident, weiß alles und trifft immer richtige Entscheidungen. Dennoch müssen alle Bürger dafür geradestehen. Sie haben keine Ausweichmöglichkeiten. Es bringt ihnen nichts, von Istanbul nach Ankara oder nach Izmir umzuziehen. Der lange Arm Erdogans reicht in jeden Winkel der Türkei.

Hinzu kommt, dass selbst die Erdogan-Anhänger nicht die Gewähr haben, ob nicht nach Erdogan ein Präsident an die Macht kommt, der noch viel stärker gegen Grundrechte vorgeht. Vielleicht ändern sich dann die Gegner der Regierung. Wer heute meint, die Unterstützung der Regierung zu haben, wird morgen unter einem neuen Präsidenten vielleicht ebenfalls unterdrückt und verfolgt. Denjenigen, die das „Präsidialsystem“ der Türkei unterstützt haben, muss nicht generell eine böse Absicht unterstellt werden. Die Tragödie ist jedoch, dass diese Entwicklungen häufig von Leuten guten Willens angeführt werden, die dann die ersten sind, die das Ganze bereuen. Daher ist ein Gesellschaftssystem der Machtbegrenzung durch eine horizontale und vertikale Verteilung von Regierungsmacht einem zentralistischen System überlegen. Hier wirken sich Fehlentscheidungen einzelner nicht für alle aus, sondern nur für wenige. Es ist letztlich das Gesellschaftssystem „des Westens“. Dieser Non-Zentrismus existiert nicht nur in den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg in anderen Gesellschaftsbereichen, in der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und selbst der Religion. Die Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für diese Freiheit.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Bart Everson from Flickr (CC BY 2.0)

Mit dem jüngsten Gesetzentwurf zu Hasskommentaren öffnet die Bundesregierung eine Schleuse. Wir brauchen nicht noch mehr staatliche Aufsicht im Netz, sondern eine starke Zivilgesellschaft, die Hass und Verleumdung ächtet.

Nicht noch mehr Machtinstrumente!

Seitdem der neue amerikanische Präsident das Mittel der „executive order“ anwendet, um seine politischen Vorstellungen unkompliziert zu verwirklichen, dämmert es auch seinen Gegnern, die wenige Monate vorher noch begrüßt hatten, dass Obama das Mittel verwendete, um die Kontrolle durch die Abgeordneten zu umgehen: Ein Machtinstrument, einmal geschaffen, bleibt im Arsenal des Staates und kann von unterschiedlichsten Leuten genutzt werden. Genauso wie mit Steuern, die in den seltensten Fällen abgeschafft und auch kaum einmal gesenkt werden, verhält es sich mit Gesetzen, Behörden und Ämtern. Gesetze werden ergänzt, erweitert und geklont. Und Behörden entwickeln häufig Eigendynamiken, indem sie für sich selbst immer neue Aufgabenbereiche finden.

In der Regel steigert sich auch die Frequenz der Nutzung dieser politischen Instrumente. Die Bürger gewöhnen sich eben daran, dass bestimmte Produkte gesondert besteuert werden oder dass Eingriffe in ihre individuellen Entscheidungen gemacht werden. Viele sind zu bequem, um sich aktiv zu wehren – und am Anfang sehen viele Maßnahmen ja auch noch verhältnismäßig harmlos aus. Nur wenige denken schon perspektivisch an die Möglichkeiten, diese Eingriffe auszuweiten. Viele der Maßnahmen wirken auch auf den ersten Blick sinnvoll oder zumindest hilfreich, um ein von vielen geteiltes Anliegen zu erreichen: vom Soli bis zu den Schockbildern auf Zigarettenschachteln. Mit der zunehmenden Digitalisierung gerät auch dieser Bereich natürlich immer mehr in den Fokus der Politik.

Die Vergiftung der Kommunikation ist zurecht auf der Agenda

Justizminister Maas hat sich schon länger an die Spitze der Bewegung gesetzt, die das Chaos und die Spontaneität des Internets in geordnete Bahnen lenken will. Wo immer es darum geht, sich öffentlichkeitswirksam gegen amerikanische Großkonzerne in Szene zu setzen oder dafür zu sorgen, dass die Neuen Medien nicht zur Verbreitung von Hassbotschaften verwendet werden – Heiko Maas ist nicht weit. Und tatsächlich: Wenn man sich als zivilisierter und halbwegs gutmütiger Mensch einmal mit den Aussagen beschäftigt, die jeden Tag in Massen ins Netz gestellt werden, kann einem angst und bange werden. Wer würde sich nicht auch ein öffentliches Forum wünschen, das von einer fairen und respektvollen Kommunikation geprägt ist? Dass Handlungsbedarf besteht, würde kaum einer bestreiten. Die Enthemmung und mitunter Vergiftung der Kommunikation ist zurecht auf der Agenda.

Der jetzige Gesetzesvorschlag ist allerdings in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv. In den letzten Tagen ist schon viel darüber geschrieben worden, welche Gefahren der Vorschlag birgt. Was freilich bisweilen fehlt, sind konstruktive Vorschläge, wie man mit dem bestehenden Problem umgeht ohne die Bataillone der Netz-Nannies in Bewegung zu setzen. Der Minister selbst hat erst vor zwei Monaten in einem Kommentar zum NPD-Verbotsverfahren einen guten Vorschlag gemacht: „Politik, Zivilgesellschaft und jeder einzelne Bürger haben die Verantwortung, bei Extremismus und Gewalt nicht wegzuschauen: sei es Zuhause, am Arbeitsplatz, in der Kneipe, in der U-Bahn oder auf dem Fußballplatz.“ Und, so möchte man ergänzen, eben auch im Internet.

Eine Gesellschaft ist nur so lange lebendig, wie die Bürger Verantwortung übernehmen

Der Kampf gegen Hasskommentare und Fake-News ist eine Aufgabe für jeden, dem an einem friedvollen und vernünftigen Miteinander gelegen ist. Aber nicht in dem Sinne, dass man sich als Hilfs-Sheriff betätigt. Der Vorschlag von Maas würde Menschen dazu motivieren, das Instrument des „Meldens“ zu nutzen – und vermutlich wären es nicht die angenehmsten unserer Zeitgenossen, die sich zu besonders bereitwilligen Netz-Warten entwickeln würden. Die Betreiber von Plattformen würden überschwemmt mit Anträgen zur Löschung oder Sperrung. Es entstünde eine Atmosphäre des Misstrauens, die Zahl von Fake-Profilen würde weiter explodieren und im Zweifel verlagern sich die „Hasskommentatoren“ in geschützte Räume, wo sie eine noch weniger mit denjenigen in Kontakt kommen, die ihre Ansichten in Frage stellen und ihren Ton kritisieren könnten. Am Ende wird es nur noch mehr Kontrollen geben – und wie heute schon vom Justizministerium staatliche „Marktwächter“ eingesetzt werden so müssen wir dann irgendwann mit „Netzwächtern“ rechnen.

Anstatt Anstand zu verstaatlichen sollte der Minister lieber die Bürger ermutigen, selber Zivilcourage zu zeigen. Den Einsatz für ein respektvolles Miteinander an Unternehmen und Behörden abzugeben, ist der erste Schritt zu dem Wegschauen, das Maas in seiner oben zitierten Äußerung zurecht kritisiert. Es ist unsere Aufgabe als Internetnutzer, gegen Hass und Verleumdung die Stimme zu erheben. Eine Gesellschaft ist nur so lange lebendig und stark wie die Bürger Verantwortung übernehmen. Es muss uns gelingen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass man Aggression nicht mit Aggression beantworten sollte, und dass wir nicht schweigen dürfen, wenn andere beschimpft werden. Nur dann kann man wirklich nachhaltig etwas gegen die Verrohung des Diskurses tun. Das Ziel dürfen nicht Einzelsanktionen sein, sondern eine Änderung des Bewusstseins bei den zornigen Nutzern. Das erfordert Geduld, Optimismus und Zeit. Aber nur wenn „Hasskommentatoren“ ihren Hass verlieren, wird das Problem wirklich gelöst.