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Photo: dedljiv from Flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Hubertus Porschen, Vorsitzender des Verbandes „Die Jungen Unternehmer„, CEO von iConsultants.

Deutschland steht vor einer großen gesellschaftlichen Herausforderung. 2015 sind mehr als eine Million Menschen in unser Land gekommen. Und auch in diesem Jahr sind weiterhin viele auf der Flucht. Wie können wir Unternehmer dazu beitragen, damit aus dieser Herausforderung neue Chancen entstehen? Fest steht: Integration gelingt nur, wenn Flüchtlinge nicht abseits unserer Gesellschaft leben. Statt in Flüchtlingsunterkünften zum Nichtstun verdammt zu sein, müssen wir ihnen ermöglichen, in Arbeit zu kommen – Mitarbeiter und Kollegen zu werden. Eine geregelte Beschäftigung und Unabhängigkeit sind wichtige Bestandteile der menschlichen Würde. Und: Wenn Flüchtlinge ihr eigenes Geld verdienen, entlastet das auch unsere Sozialsysteme.

Eine Agenda „Arbeit für Flüchtlinge“

Deshalb müssen wir uns die Frage stellen: Wie schaffen wir in kurzer Zeit bis zu 1 Million zusätzliche Arbeitsplätze für Menschen, die zumeist weder die deutsche Sprache beherrschen noch hier gängige Berufsqualifikationen mitbringen? Das erfordert ein Reformpaket, das weit über die Agenda 2010 hinausgeht. Über sie sind ca. 800.000 Arbeitslose in Beschäftigung gekommen – allerdings bei weitem nicht in nur einem Jahr. Bei Anhalten des jetzigen Flüchtlingszustroms müsste unsere Volkswirtschaft jedes Jahr etwa so viele Menschen zusätzlich in Lohn und Brot bringen. Es wird also um den richtigen Mix aus Marktwirtschaft und intelligenten staatlichen Anreizen gehen, die dabei helfen, Chancengleichheit zu ermöglichen. Dazu müssen die Regierungsparteien endlich umschalten: Statt „Erste-Hilfe-Maßnahmen“ benötigen wir zügig eine strategisch und dauerhaft angelegte Agenda „Arbeit für Flüchtlinge“.

Die Rahmenbedingungen müssen stimmen

Diese muss Bildung und Arbeit in den Mittelpunkt stellen und zudem vieles gleichzeitig ermöglichen: Flüchtlingen starke Anreize zur eigenen Qualifizierung bieten. Arbeitgeber motivieren, Flüchtlinge zu beschäftigen, aus- und weiterzubilden. Und zugleich Investitionen und Wachstum in Deutschland zu beschleunigen. Vorab: Die Bemühungen zur Integration dürfen möglichst wenig „Sonderregelungen“ schaffen. Durch ihre Incentivierung darf die Politik inländische Arbeitnehmer nicht benachteiligen. Bei allen Maßnahmen muss es darum gehen, Chancengleichheit zu ermöglichen. Zu der schwierigen Frage, wie wir Flüchtlinge also bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren, stellen wir jungen Unternehmer und Familienunternehmer folgende erste Ideen zur Diskussion:

Spracherwerb und Ausbildung

Flüchtlinge haben in unserer hochentwickelten Volkswirtschaft nur Chancen, wenn sie unsere Sprache beherrschen und sich aus eigenem Antrieb qualifizieren. Wir haben die Idee, vor die Aufnahme einer Ausbildung oder Berufstätigkeit eine staatliche „Vorausbildung“ vorzuschalten, die an zwei Tagen/Woche Sprach- bzw. Staatskundeunterricht und an drei Tagen/Woche ein Praktikum im Betrieb vorsieht. Daran kann eine „triale“ Ausbildung anschließen, bestehend aus praktischer Ausbildung, Berufsschule und Spracherwerb. Die dritte Säule kann zu einer Verlängerung der Ausbildungszeit auf vier Jahre führen. Die Leistung des Ausbildungsbetriebs liegt darin, dem Azubi an sämtlichen Tagen, die er im Betrieb tätig ist, einen vollwertigen Rahmen für seinen praktischen Spracherwerb zu bieten von der Fachsprache bis zur Umgangssprache, den er sonst so in keiner Sprachschule vorfinden würde. Diese Leistung wird über einen Dienstleistungsvertrag vom Staat mit 1.000 Euro pro Monat pro Flüchtling für die ersten beiden Ausbildungsjahre honoriert. Von diesem Zuschuss finanziert der ausbildende Betrieb zusätzliche Sprachlehrer und den Wettbewerbsnachteil, wenn sich erfahrene Facharbeiter mehr um diese Azubis kümmern müssen, als um Kunden und Produkte.

Öffnung des Arbeitsmarktes

Der aktuelle Aufwind des Front National in Frankreich sowie die Situation in den Banlieues zeigt, welche Abwärtsspirale mangelnde Integration in Gang setzen kann. Statt den Arbeitsmarkt für Flüchtlinge zu öffnen, hat ihn die sozialistische Regierung unter François Hollande lange Zeit noch stärker zugeschnürt. Gesellschaftliche Integration funktioniert jedoch nur über eine Integration in den Arbeitsmarkt. Und: Gesellschaftliche Integration ist die Basis für soziale Stabilität. Sie ist für uns Unternehmer der wichtigste Standortfaktor.

Wichtige Reformanstrengungen müssen deshalb in der Öffnung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bestehen. Hierzu einige erste Ansätze:

  • Ein Praktikum sollte 12 Monate ohne Mindestlohn möglich sein. So können Flüchtlinge erste Berufserfahrung sammeln und Unternehmer deren Fähigkeiten in der Praxis bewerten
  • Asylberechtigte sollten sofort in Zeitarbeitsfirmen arbeiten dürfen. Die aktuell geplante Verschärfung der Regulierung der Zeitarbeit und der Werkverträge wirkt kontraproduktiv, da auf diesem Weg viele Migranten Arbeit finden.
  • Damit die Unternehmen, trotz der geringen Qualifikationen vieler Flüchtlinge risikobereiter bei den Einstellungen werden, muss der Kündigungsschutz reformiert und schrittweise in ein Abfindungsmodell umgewandelt werden.
  • Bei der „trialen Ausbildung“ sollte der Kündigungsschutz gelockert oder ganz ausgesetzt werden, damit die Einstellungsbereitschaft der Unternehmer steigt.
  • Darüber hinaus fordern wir, dass die Sozialversicherungsbeiträge halbiert werden für alle zusätzlichen Stellen, die in Deutschland zunächst bis 2020 geschaffen werden – egal ob für Migranten oder für hiesige Arbeitslose. Um die zusätzlichen Stellen ohne zu viel Bürokratie zu erfassen, könnte die Jahreslohnsumme eines Stichjahres herangezogen werden.

Investitionen und Wachstum

1,6 Prozent Wirtschaftswachstum unserer Volkswirtschaft reichen bei weitem nicht aus, damit eine große Zahl zusätzlicher Arbeitsplätze innerhalb weniger Jahre entstehen kann. Deshalb müssen wir rasch Innovationen und Wachstum ankurbeln. Ein zügiges Inkrafttreten des Freihandelsabkommens TTIP kann beispielsweise neue Wachstumsimpulse freisetzen. Zudem brauchen wir mehr innovative Start-Ups. Dafür benötigen wir einen besseren Zugang zu Wachstumskapital. Damit Gründer schnell wachsen und Arbeitsplätze anbieten können, sollten wir sie in den ersten drei Jahren durch eine umfassende Bürokratie-Schutzglocke vor steuerrechtlichen und arbeitsrechtlichen Regulierungen schützen. Und nicht zuletzt: Ein schneller Aufbau von Personalkosten muss auch über ausreichend Eigenkapital gegen Konjunktureinbrüche abgesichert werden. Zugleich ist Eigenkapital wichtig zur Finanzierung von Investitionen, mit denen dann weitere Arbeitsplätze geschaffen werden. Daher muss Eigenkapital steuerlich mit Fremdkapital gleichgestellt werden.

Wir jungen Unternehmer und Familienunternehmer sind bereit, Flüchtlinge mit unseren oft hochtechnisierten Arbeiten vertraut zu machen und bei dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung mitzuwirken. Jetzt kommt es auf die Politik an, die Weichen zu stellen, damit ein neues Wirtschaftswunder möglich werden kann.

Die Familienunternehmer und die Jungen Unternehmer haben im Dezember 2015 ein Diskussionspapier „1 Million Arbeitsplätze – wie schaffen wir das?“ veröffentlicht, das Sie hier finden.

Photo: Frank Jacobi from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Das Bundessozialgericht hat Anfang Dezember entschieden: In Deutschland lebende EU-Ausländer haben ein Recht auf Sozialhilfe. Diese Entscheidung nutzt vor allem denjenigen, die Sozialleistungen missbrauchen sowie den Rattenfängern am rechten Rand. Sie schadet tendenziell den ehrlichen Migranten.

Paradies Sozialhilfe?

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ So stellte das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 fest. Dieses menschenwürdige Leben wird etwas schwammig umrissen mit der Formulierung vom „typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums“.

Die Definition dieses „typischen Bedarfs“ hat schon zu viel bösem Blut geführt. Die Diskussionen reichen von „denen wird doch alles hinterher geworfen“ bis „bedürftige Menschen werden absichtlich zu kurzgehalten“, von „Sozialschmarotzer“ bis „bitterste Armut“. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte: ein angenehmes Leben haben Sozialhilfeempfänger bestimmt nicht, verglichen mit bestimmt 90 Prozent der Weltbevölkerung sind sie aber immer noch ziemlich gut dran. Insofern ist der Gedanke durchaus naheliegend, dass Menschen sich auf den Weg machen, um diesen aus ihrer Sicht besseren Lebensstandard zu erlangen – zumal wenn sie, wie die EU-Bürger aus ärmeren Ländern, problemlos nach Deutschland kommen können.

Die wenigsten Menschen wollen von staatlichen Almosen leben

Nun ist zum Glück nicht die Mehrheit aller Menschen darauf aus, von staatlichen Almosen zu leben. Selbst verdientes Geld, eine sinnvolle Tätigkeit, eigene Leistung sind für die allermeisten Menschen, ob Deutsche, Rumänen, Albaner oder Eritreer, ein erstrebenswertes Ziel. Aber unter Deutschen wie unter Zuwandernden gibt es natürlich auch solche, die es sich mit dem Existenzminimum gemütlich machen. Unter Umständen ist der Anreiz für jemanden auch noch etwas höher, der aus einem Land kommt, in dem man mit sehr viel Fleiß und Geschick immer noch deutlich weniger verdient als den Sozialhilfesatz in Deutschland.

Ja, es gibt Missbrauch von Sozialleistungen. Und jeder einzelne, der diesen Missbrauch begeht, trägt dazu bei, dass pauschale Urteile über Sozialschmarotzer und Armutszuwanderer Nahrung bekommen. Das führt nicht nur dazu, dass sich hiesige Sozialhilfeempfänger immer wieder rechtfertigen müssen. Es führt auch dazu, dass Zuwanderern oft unterstellt wird, sie kämen wegen der Sozialleistungen. Das Urteil des Bundessozialgerichts ist deshalb ein Problem, weil es diese Wahrnehmung verschärft und den tatsächlichen Missbrauchern Tür und Tor öffnet.

Personenfreizügigkeit bewahren

Es ist dringend geboten, dass die Politik sich in dieser Frage bald zu einem Umdenken bewegen lässt. Zu den Forderungen, die der britische Premier Cameron im Blick auf das EU-Referendum in seinem Land durchsetzen möchte, gehört diejenige, EU-Bürgern in den ersten vier Jahren keine Sozialleistungen auszuzahlen. Und – man höre und staune – selbst Andrea Nahles hat sich vor einigen Tagen zu dem Thema geäußert: „Wir müssen die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen.“ Camerons Vorschlag ist auf jeden Fall vernünftig. Er bewahrt vor allem das hohe Gut der Personenfreizügigkeit – die Krönung des gemeinsamen Binnenmarktes.

Mittel- und langfristig gibt es eigentlich nur zwei Alternativen: Die erste besteht darin, dass wir es beim status quo belassen oder ihn gar – auch dazu gibt es Bestrebungen – ausdehnen, indem wir uns in Richtung einer zentral gesteuerten und gemeinsam finanzierten EU-Sozialpolitik bewegen. Das wäre Zunder für das Feuer derjenigen, die das Gefühl wecken wollen, Deutschland sei das „Weltsozialamt“. Und es würde die Stimmung auch gegenüber arbeitswilligen Migranten stark verdüstern. Eine solche Lösung wäre mithin auch nicht im Sinne derjenigen, die die Chancen für Migranten verbessern wollen. Sie würde in der Konsequenz zu einer Abschottung und zu geschlossenen Grenzen führen. Denn je stärker ein Wohlfahrtsstaat ausgebaut ist, umso höher werden die Mauern um ihn errichtet.

Grenzen um den Wohlfahrtsstaat statt um das Land

Die andere Alternative besteht darin, Cameron zu folgen und die Grenzen nicht um das Land, sondern um den Wohlfahrtsstaat zu ziehen. Wer eine Renten- oder Lebensversicherung abschließt, kann erst nach einiger Zeit des Einzahlens substantielle Summen erhalten. Das ist die ökonomische Logik und die einzige Logik, nach der Versicherungen funktionieren. Der Wohlfahrtsstaat ist heute schon kein klassisches Versicherungssystem mehr, sondern eine Umverteilungsindustrie. Wir könnten wenigstens bei den Zuwandernden wieder auf den ursprünglichen Versicherungscharakter zurückgreifen. Sozialhilfe und ähnliche Leistungen sollten nur dem ausgezahlt werden, der bereits vorher eingezahlt hat.

Wenn wir unsere Systeme entsprechend umstellen – sowohl für Migranten aus der EU als auch von außerhalb –, dann kann man gleich zwei Ziele erreichen: Man nimmt den Populisten den Wind aus den Segeln, die Ängste schüren, der Kuchen werde für die Deutschen kleiner durch „Sozialschmarotzer“ aus dem Ausland. Vor allem aber werden wir nicht gezwungen, Freizügigkeit und Zuwanderung weiter zu beschränken, um das Sozialsystem funktionsfähig zu halten. So können auch weiterhin Menschen, die einen Arbeitsplatz bekommen, nach Europa und nach Deutschland kommen und dazu beitragen, dass der Wohlstand für alle wächst. Es mag hartherzig wirken, wenn man Migranten zunächst aus dem Sozialstaat ausschließt. Aber es ist der beste Weg, um zu vermeiden, dass sie nicht einmal mehr bei uns arbeiten können. Auch hier gilt, was Kurt Tucholsky einmal sagte: „Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut.“

Photo: James Cridland from Flickr (CC BY 2.0)

Alle, die offene Grenzen lieben, können die aktuelle Entwicklung nur mit großer Besorgnis betrachten. Denn die Personenfreizügigkeit in Europa droht bald Geschichte zu werden. 26 Staaten innerhalb und außerhalb der EU haben sich dazu bekannt, auf Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums zu verzichten. Es gibt nicht sehr viele identitätsstiftende Momente in Europa. Die Personenfreizügigkeit innerhalb eines gemeinsamen Binnenmarktes gehört sicherlich dazu. Sie beruht auf einer gemeinsamen Übereinkunft, wie mit Einreisenden, Flüchtlingen und Asylbewerbern an den gemeinsamen Außengrenzen umgegangen wird. Sie werden dort kontrolliert, registriert und wenn nötig ein Asyl-Antrag inhaltlich geprüft. Innerhalb der 26 herrschen offene Grenzen. Das ist eine herausragende Errungenschaft, die in ihrer historischen Dimension gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Vielleicht gab es seit der frühen Neuzeit und der Ausbildung der Nationalstaaten in Europa noch nie einen so großen Grad an Freiheit, wo man in Europa leben oder arbeiten kann. Der Schengenraum ist wahrlich eine historische Errungenschaft. Ihn preiszugeben wäre nicht mehr und nicht weniger als eine Fehlentwicklung von epochaler Bedeutung.

Der Schengenraum und das Dubliner Abkommen werden heute als Schön-Wetter-Recht bezeichnet, das in der Praxis nie funktioniert habe. Das erinnert sehr stark an das zweite Krisenprojekt der EU – den Euro. Auch hier schleifte man die Regeln, als das Wetter schlechter wurde. Doch es ist nur eine Ausrede für das eigene Versagen.

Für Länder wie Griechenland oder Spanien änderte sich seit Schengen nicht viel. Sie müssen ihre Außengrenzen so kontrollieren, wie sie es auch vor der Schengenübereinkunft bereits tun mußten. Denn auch in der Vor-Schengenzeit mussten die Länder mit Außengrenzen Pässe und Visa prüfen, Flüchtlinge registrieren und Asyl-Verfahren durchführen. Ihre geographische Lage, ihre Nähe zur Türkei oder zu Nordafrika ist wie sie ist. Sicherlich ist es so, dass die Länder, die keine Schengenaußengrenzen haben, wie Deutschland oder Österreich, erhebliche Vorteile haben, doch auch Spanien und Griechenland haben durch den Schengenraum große Vorteile. Die Grenzen ihres Landes, die keine Schengenaußengrenzen sind, müssen sie nicht mehr überwachen. Also auch sie profitieren. Der Schengenraum hilft daher allen.

Am Montag haben Dänemark und Schweden wieder Grenzkontrollen eingeführt – erstmal vorübergehend. Für die Entwicklung trägt die Bundesregierung die Hauptverantwortung. Kurz vor Weihnachten hat der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig erklärt, durch sein Land seien seit Januar 2015 rund 60.000 Flüchtlinge mit Billigung der Behörden unregistriert nach Schweden ausgereist. „Weil sie uns klar gesagt haben, dass sie nach Schweden wollen“, so der SPD-Politiker in verblüffender Offenheit. Und er fügte hinzu: „Wir haben gegen Dublin III verstoßen“. Die eigene Regierung vollzieht das gleiche Sankt-Florians-Prinzip wie alle anderen Staaten. Deutschland ist Teil des Balkans geworden, zumindest seiner Flüchtlingsroute.

Diese Erosion des Rechtsstaats hat Angela Merkel vorangetrieben. Als sie am 5. September das Dubliner Abkommen aussetzte, nahm sie billigend in Kauf, dass der Schengenraum zerstört wird. Ihr Vorgehen war nicht, um es in Merkeldeutsch auszudrücken, „alternativlos“. Wenn ein Land wie Ungarn die Flüchtlinge an seinen Außengrenzen nicht humanitär betreuen kann, dann ist nicht die einzige Alternative, diese Menschen zu uns zu holen, sondern es wäre rechtsstaatlich vernünftig gewesen, diesem Land und den an seiner Grenze festsitzenden Flüchtlingen vor Ort zu helfen – humanitär, finanziell und organisatorisch. Merkels Vorgehen führt dazu, dass die Idee offener Grenzen in Europa wohl gescheitert ist. Nunmehr sind die Behörden noch mehr überfordert. Von Juni bis Dezember 2015 sind beispielsweise den Kommunen im Kreis Paderborn/NRW 2.000 Flüchtlinge zugewiesen worden. Diese seien zwar inzwischen registriert, berichtet der dortige Landrat. Es sei bislang aber nur 68 gelungen einen Asylantrag zu stellen, also nicht einmal 4 Prozent. Von einer Entscheidung über den Antrag ist dort noch nicht einmal die Rede. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist schlicht nicht in der Lage, genügend Termine anzubieten. Mehr staatliches Versagen gab es noch nie in Deutschland.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Phillip from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Es sei die beste Rede gewesen, die Angela Merkel jemals gehalten hat. So hat es wohl die Presseabteilung des Konrad-Adenauer-Hauses am Ende der Parteitagsrede Merkels den Journalisten ins Notizbuch diktiert. Genauso war es dann am nächsten Tag in den meisten Tageszeitungen zu lesen. 73 Minuten und 6 Sekunden dauert sie. Anschließend applaudierte der Parteitag 9 Minuten lang. Auch das wurde dokumentiert und analysiert. Es war weniger Applaus als 2014, aber mehr als 2013. „Gott sei Dank“ werden die Parteitagsstrategen wohl gedacht haben. Doch im Lichte betrachtet, muss man sagen, es war eher ein Rechenschaftsbericht als eine Rede: Was sie über das Jahr gemacht hat, welche Kollegen sie getroffen hat und so.

Sing-Sang der Verantwortungslosigkeit

Doch es wurde klar, was Merkel antreibt. Eine Vision oder ein Kompass ist es sicherlich nicht. Denn wenn sie davon spricht, es seien die europäischen Werte auf dem Prüfstand gestanden und es sei ein „humanitärer Imperativ“ gewesen, den an der ungarischen Grenze festsitzenden Flüchtlingen zu helfen, dann bleibt das im weichen Singsang. Sie versucht, sich ihrer Verantwortung als Kanzlerin und als Regierungschefin zu entziehen. Der „humanitäre Imperativ“ ist nicht das, was sie unterstellt. Nicht Frau Merkel ist an die ungarische Grenze gefahren und hat den Flüchtlingen eine warme Suppe oder frische Kleidung gebracht, genau das wäre ein „humanitärer Imperativ“ gewesen, sondern sie hat stattdessen europäisches Recht ausgesetzt. Vielleicht hätte sie sich an Wilhelm von Humboldt orientieren sollen, der die Erzwingung der Gesetze als einzige legitime Funktion des Staates sah. Das bedeutet im Falle der Flüchtlinge an der ungarischen Grenze eben nicht, dass Angela Merkel das Recht hat, das Dubliner Abkommen einfach auszusetzen, sondern sie hätte darauf drängen müssen, dass es durchgesetzt wird. Das entbindet die deutsche Regierung jedoch nicht, Hilfe zu leisten. Es wäre schon Monate vor dem 4. September möglich gewesen, den überforderten Ländern an der Außengrenze der EU organisatorische, finanzielle und humanitäre Hilfe anzubieten. Stattdessen schleift Merkel europäisches Recht und sorgt dafür, dass der Schengenraum implodiert. In ihrer Rede hat sie zwar den Schengenraum als große Errungenschaft in Europa herausgestellt, was dieser zweifelsohne auch ist. Jedoch ist es ihr individuelles Handeln, das ihn zum Einstürzen bringt.

Keine gute Rede, aber vor allem: Keine gute Politik

Jetzt wird gekittet und geflickt. Sichere Herkunftsstaaten werden neu definiert, Sach- statt Geldleistungen ausgereicht, sechsmonatige Verwahrung in den Aufnahmeeinrichtungen angeordnet, 4.000 neue Stellen in der Bürokratie geschaffen, der Türkei Milliarden versprochen und den Bundesländern und Kommunen einen Teil der Kosten ersetzt. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel rechnet bis Ende 2017 mit Mehrausgaben für den Staat von 135 Milliarden Euro. Schon pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Steuererhöhungen vorbereitet werden. Vielleicht erst nach den Landtagswahlen im Frühjahr. Vielleicht nur die Mineralölsteuer. Gut, dass der Dieselkraftstoff aktuell so billig ist. Am verlässlichsten und ergiebigsten für den Finanzminister ist zweifelsohne die Mehrwertsteuer. Nein, nein, der „humanitäre Imperativ“ muss uns etwas Wert sein. Nein, Frau Merkel hat nicht nur keine gute Rede auf dem Parteitag gehalten, sie hat vor allem keine gute Politik gemacht.

Photo: Diana Parkhouse from Flickr. (CC BY 2.0)

Als der CSU-Parteitag in München am Samstag begann, stand der Verlierer innerhalb der Christsozialen schon fest. Es war deren Vorsitzender Horst Seehofer. Wohlwollend könnte man sagen, er ist ein Papiertiger, tatsächlich ist er aber eher ein machtpolitisches Weichei. Seit Monaten fordert, droht und widerspricht er seiner eigenen Bundesregierung, doch wenn es zum Schwur kommt, knickt er ein. Schon im Juni widersprach er Bundespräsident Joachim Gauck, als dieser meinte, Flüchtlinge müsse man „großherzig aufnehmen“. Er kündigte „drastische Anpassungen“ in Bayern an. Als die Bundeskanzlerin am 25. August faktisch das Dubliner Abkommen aussetzte, kritisierte er Merkel scharf: „Die Bundeskanzlerin hat sich meiner Überzeugung nach für eine Vision eines anderen Deutschland entschieden.“ Die Situation sei aus den Fugen geraten. Es sei ein Fehler gewesen, schob der Ingolstädter nach. Und nun? Außer Spesen nichts gewesen!

Die Kritik Seehofers an Merkel ist durchaus berechtigt. Der Schengen-Raum mit seine Personenfreizügigkeit ist eine große Errungenschaft der europäischen Einigung. Sie ist ein Freiheitsrecht von unschätzbarem Wert. Sie macht Europa durch den Einzelnen erlebbar. Sie kann aber nur bestehen, wenn die Außengrenzen des Schengen-Raums gesichert und eine unkontrollierte Zuwanderung verhindert wird. Sie kann nur dann weiter bestehen, wenn die Prüfung und Registrierung der Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU erfolgt und gleichzeitig einheitliche Standards bei der Asylgewährung und dem Bleiberecht für Flüchtlinge gewährleistet werden.

Merkel hat den Rechtsbruch vieler Schengen-Staaten, die ihre Außengrenzen nicht ausreichend gesichert haben, durch einen fast handstreichartigen Rechtsbruch innerhalb des Schengen-Raums noch getoppt. Die Einladung Merkels an die Flüchtlinge an der ungarischen Grenze war eine fatale Fehlentscheidung. Sie war weder rechtlich noch humanitär geboten.

Rechtlich verstieß ihr einseitiges Vorgehen mindestens gegen den Geist des Dubliner Abkommens, und humanitär hätte die deutsche Regierung vor Ort an der Grenze in Ungarn helfen können. Dort hätten die Menschen registriert und ein Verfahren durchlaufen müssen. Eine verantwortungsvolle Bundesregierung hätte der ungarischen Regierung personelle und finanzielle Unterstützung angeboten, aber nicht den eigenen Rechtsstaat ausgehebelt.

Flüchtlinge verhalten sich rational. Sie gehen in das Land, das ihnen die beste Perspektive bietet, dauerhaft zu bleiben. Allein unser individuelles Asylrecht und die dadurch lange Bearbeitungsdauern erhöhen diese Chancen gegenüber anderen Schengen-Ländern. Seit Ende August ist das Dubliner Abkommen nur noch Makulatur. Jetzt droht der Rückfall in die Nationalstaatlichkeit und in die flächendeckende Einführung von Grenzkontrollen. Dann ist der Schengen-Raum endgültig am Ende.

Diese Entwicklung kann Merkel nur noch schwer heilen. Selbst wenn sie jetzt eine Regelung mit der Türkei erzielt, dass dort die Grenzen besser gesichert werden: Allein der Umstand, dass die Regierung in Berlin den Überblick verloren hat, wie viele Flüchtlinge und wer zu uns kommt, ist bereits ihr Offenbarungseid. Man stelle sich diese Situation in Zeiten einer rot-grünen Bundesregierung vor. Die Union hätte den Regierungs­chef als Versager dargestellt.

Und jetzt macht die CSU in der Regierung diesen Schlamassel weiter mit, anstatt die Regierung zu verlassen. Deshalb kann Seehofer auf dem Parteitag eine noch so schmissige Rede halten. Am Ende gilt: Hinten sind die Enten fett. Wer die Lippen spitzt, muss auch pfeifen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Fuldaer Zeitung am 21.11. 2015.