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Mit seinem Konzept des „Nudging“ wandelt Professor Cass Sunstein aus Harvard auf den Spuren des Philosophen Voltaire. Dicht auf seinen Fersen folgen Politiker, die wie einst Voltaires Gönner Friedrich der Große ihre Herrschaft gerne in ein harmloses Gewand kleiden. Hier lauern mehr Gefahren als man derzeit wahrnimmt.

Das freundliche Gesicht des Staates

Man kann sich kaum einen besseren Ausblick denken, wenn man dem großen Vordenker des Nudging, des „weichen Paternalismus“, Cass Sunstein, lauscht, als den Blick aus dem Fenster der Humboldt-Universität auf die Reiterstatue Friedrichs des Großen. Der in fast allen deutschen Geschichtsbüchern geradezu hemmungslos verehrte „Alte Fritz“ gilt vielen hierzulande als das freundliche Gesicht des Staates. (Dass er drei Angriffskriege anzettelte und eine harte law and order-Politik betrieb, mithin also doch sehr viel mit George W. Bush gemeinsam hat, wird dabei gerne übersehen …) Der Preußenkönig, so die gängige Interpretation, herrschte mit Wohlwollen und wollte nur das Beste für seine Untertanen. Leiten ließ er sich in seinen Entscheidungen und Maßnahmen von der damals in Hochblüte stehenden Aufklärung.

Ein eher unschönes Charakteristikum der Aufklärung war, dass sie bisweilen mit rigoroser Arroganz auftrat. Nicht jeder Aufklärer konnte die Bescheidenheit eines Immanuel Kant aufbringen. Gerade diejenigen, die sie mehr als Mission begriffen denn als Aufruf zur Selbstkritik, hatten eine erstaunlich hohe Meinung von ihrer eigenen Vernunft und eine ziemlich niedrige von derjenigen der anderen. Die Brutalität vieler Akteure in der Französischen Revolution ist nur das krasseste Beispiel dafür. Auch Friedrich II. sah, bestätigt und angestachelt von dem Philosophen Voltaire, in der eigenen Bildung und Aufgeklärtheit zugleich einen Auftrag, seinen weniger gebildeten Untertanen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Aufgeklärter Absolutismus war der Begriff, der sich für dieses Staatsverständnis einbürgerte.

„Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“

Letzte Woche waren einige Mitglieder des Prometheus-Teams bei einer Veranstaltung an der Humboldt-Universität in Berlin, bei der Cass Sunstein sprach, als Urheber des Nudging so etwas wie der Voltaire unserer Zeit. Ein sehr kultivierter und angenehmer älterer Herr, selbstbewusst und überzeugt vom eigenen Standpunkt und dennoch respektvoll und freundlich im Umgang. Was macht ihn zum Voltaire des 21. Jahrhunderts? Sein Konzept des Nudging. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine ganz neue Art, politisches und staatliches Handeln zu verstehen. Grundlegend für diese Theorie ist eine Einsicht der Verhaltensökonomie: Es gibt sehr viele Dinge, die wir gerne tun würden, an denen wir aber wegen unserer Faulheit und Undiszipliniertheit scheitern: mehr Sport, gesunde Ernährung, das Rauchen aufgeben, einen Teil des Gehalts beiseitelegen, Organspender werden …

Um das alte Problem des „der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ in den Griff zu bekommen, schlagen die Verhaltensökonomen vor, Menschen mit Hilfe eines kleinen Anschubsers, des Nudge, dazu zu bringen, ihrer inneren Einsicht in das Richtige auch Taten folgen zu lassen. Indem das Quengel-Regal an der Supermarkt-Kasse beseitigt wird oder die Standardeinstellungen etwa bei Organspende oder Altersvorsorge so verändert werden, dass man nicht mehr zustimmen, sondern ablehnen muss, lassen sich tatsächlich Verhaltensänderungen herbeiführen. Die entscheidende Frage ist allerdings: Ist das wirklich, was man will?

Irgendwas mit gesund, bio, nachhaltig, sicher und sozial

Die Nudger behaupten: Ja! Wer wolle denn nicht etwas gesünder leben und auf die Nachhaltigkeit der eigenen Lebensführung im Blick auf die eigene Zukunft achten. Dass wir zu häufig zum Salzstreuer greifen oder uns ein, zwei Bier zu viel genehmigen, habe ja nichts mit unserem Willen zu tun, sondern mit der Fehlkonditionierung des Menschen durch Werbung und suchtfördernde Zusatzstoffe. Auf den ersten Blick scheint diese Beobachtung nachvollziehbar, vielleicht fühlen wir uns auch etwas ertappt. Dahinter aber liegt, unausgesprochen, eine grundsätzliche Haltung, die zumindest bedenklich, vielleicht sogar gefährlich ist.

Viele Gebiete, denen sich die Nudger zuwenden, würden in großen Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen: irgendwas mit gesund, bio, nachhaltig, sicher und sozial kann einfach nicht falsch sein. Es dürfte dann doch eigentlich unproblematisch sein, wenn man den Leuten hilft, sich diesem Spektrum entsprechend zu verhalten. Die Nudger tappen allerdings an diesem Punkt in eine Falle: Sie behaupten, den Menschen nur zu dem verhelfen zu wollen, was sie ohnehin selbst wollen. Da sie aber klassischerweise Vertreter einer gebildeten, gutverdienenden Intellektuellen-Elite sind, gehen sie zumindest implizit, vielleicht sogar völlig unbewusst, davon aus, auch objektiv beurteilen zu können, was für Menschen besser ist.

Was ist Aufklärung?

Hier ist das Einfallstor des Aufgeklärten Absolutismus: Man glaubt zu wissen, dass kein vernünftiger Mensch ernsthaft zu viel Fett, Zucker, Salz, Koffein, Alkohol, Tabak zu sich nehmen wollen würde. Wer das dennoch tut, tut es nicht, weil er es will, sondern weil er uneinsichtig, verblendet, verführt oder schlichtweg dumm ist. Solchen Menschen muss man helfen. Die Nudger – und noch viel mehr die Politiker und Bürokraten, die deren Steilvorlagen dankbar aufnehmen – wähnen sich im Besitz des Wissens darüber, was objektiv richtig ist. Jede Entscheidung, die von dieser Wahrheit abweicht, bedarf der – selbstverständlich freundlichen und respektvollen – Korrektur.

Dahinter steckt eine Phantasie der Weltbeglückung, die auch schon den Alten Fritz umtrieb. Es ist jener Strang der Aufklärung, der so sehr von sich selbst und der eigenen Vernunft begeistert war, dass er alle anderen auf den eigenen Stand bringen wollte. Weil sich dieser Strang selbst zum Maßstab aufgeschwungen hat, waren alle möglichen Mittel recht, um die eigene Weltsicht durchzusetzen. Den Fortschritt, den diejenigen machen würden, die sich der eigenen Einsicht anschlossen, rechtfertigte auch den ein oder anderen, im Zweifel sanften, Zwang. Dem entgegen steht jener Strang der Aufklärung, für den auch Friedrichs Untertan Immanuel Kant steht. Dessen berühmte Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ beginnt mit einer fulminanten Passage, die angesichts der Wiederkehr des Aufgeklärten Absolutismus im modernen Gewand besonders lesenswert ist, weil ihr Kerngedanke die Autonomie des Individuums ist:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“

Photo: Wikimedia Commons

Trends kommen oft von der Insel. Der mechanische Webstuhl zu Beginn der industriellen Revolution, das Sandwich im 18. Jahrhundert und packende Agententhriller à la James Bond waren es in den 1950er Jahren. Jetzt kommt ein neuer Trend aus Großbritannien: die Strafsteuer auf Limonade. „Ein fünf Jahre altes Kind nimmt heute jährlich so viel Zucker zu sich wie es selbst wiegt“, zitiert die FAZ den britischen Finanzminister George Osborne.

Osborne rechnet mit Einnahmen von 660 Millionen Euro aus der Steuer und will damit den Sportunterricht an Schulen fördern. Wahrscheinlich mit dem Ziel, dass die einstige Weltmacht zumindest im Sport wieder auf das Treppchen kommt. Im ewigen Medaillenspiegel der Olympischen Spiel nimmt der Inselstaat derzeit nur einen undankbaren vierten Platz ein. Deshalb ist „Saufen für Olympia“ die Flucht nach vorne für die britische Regierung. Der legendäre britische Premierminister Winston Churchill dreht sich im Grabe um. War doch sein Lebensmotto: no sports.

Die Maßnahme passt aber in den allgemeinen Trend, der wiederum auch von Großbritannien ausgeht. Die britische Regierung war die erste, die verhaltensökonomische Gesichtspunkte in das Regierungshandeln aufgenommen hat. Eine „Nudge Unit“ von Experten berät seit einigen Jahren die Londoner Regierung, wie die Briten zu „richtigem“ Verhalten erzogen werden können. In dieser Woche war der „Nudging-Papst“ Cass Sunstein von der Harvard University bei einer Tagung der Humboldt-Uni in Berlin. Im Rahmen dieser Tagung wurde ausführlich über die Möglichkeiten des „Anstupsens“ und der Verhaltensbeeinflussung der Bürger diskutiert.

Die Verbindung von Big Data und Nudging war dabei ein wichtiges Thema. Kann man die vielen Daten, die der Staat über seine Bürger gesammelt hat, nicht auch für die Verhaltensänderung im Sinne des Regierung nutzen? Die Beeinflussung könnte so viel zielgenauer und damit effizienter sein. Für freiheitsliebende Menschen klingt dies nach einer Horrorvorstellung. Doch so weit sind wir davon nicht mehr entfernt. Auf der gerade stattfindenden Cebit in Hannover wurde ein Chip vorgestellt, der buchstäblich unter die Haut geht, weil er dort implantiert wird. Er macht künftig Haustür- und Autoschlüssel überflüssig, weil Schlösser damit die Nutzungsberechtigung überprüfen können. Wahrscheinlich ist dann irgendwann auch wie beim Smartphone eine „Suchfunktion“ hinterlegt, falls man verloren geht.

Doch wer garantiert dem Bürger, dass dies nur zu seinem Wohle geschieht? Und was ist richtig oder falsch, was ist gesund oder ungesund für den Bürger? Gibt es hier eindeutige Antworten? Diese Anmaßung von Wissen, die sich Experten im Auftrag einer Regierung zu eigen machen, hat niemand.  Eigentlich brauchen wir nicht eine Verhaltensänderung der Bürger, sondern eine Verhaltensänderung der Regierung! Sie muss den Einzelnen wieder ernst nehmen, ihn nicht zu vermeintlich gutem Verhalten erziehen wollen. Der Nanny-Staat ist das Gegenteil einer offenen Gesellschaft. Er vernichtet Freiheit.

Photo: Phil from flickr

Die Bundesregierung hat in dieser Woche ein „nationales Programm für nachhaltigen Konsum“ beschlossen. Jetzt ist Vorsicht geboten. Denn sie meint damit nicht, dass Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel oder Kanzleramtsminister Peter Altmaier mehr Maß halten und mehr vom täglichen Kalorienkuchen an Dritte abgeben sollen. Sondern es geht im vom Kabinett beschlossenen Programm um nicht mehr und nicht weniger als um den hehren Anspruch, „heute so zu konsumieren, dass die Bedürfnisbefriedigung heutiger und zukünftiger Generationen unter Beachtung der Belastbarkeitsgrenzen der Erde nicht gefährdet wird.“ Mehr Pathos geht nicht!

Es bedeutet „auch eine kritische Auseinandersetzung mit unseren Lebensstilen und unserem Wohlstandskonzept“. Nichts gegen Selbstreflexion, aber wen meint die Bundesregierung mit „unseren Lebensstilen“ und „unserem Wohlstandskonzept“? Den Lebensstil der Kanzlerin, die gerne wandert? Oder meint sie Heiko Maas, der uns gerne überwacht? Oder ist es doch der Lebensstil von Frank-Walter Steinmeier, der schon berufsbedingt permanent durch die Welt jetten muss? Mit welchem dieser Lebensstile sollen wir uns gründlich auseinandersetzen? Und was ist mit der Auseinandersetzung mit „unserem Wohlstandskonzept“ gemeint? Soll der Staat seinen Wohlstand zurückfahren – Schwimmbäder, Theater und Museen schließen? Oder geht es doch um etwas anderes? Geht es darum, dass die Regierung uns mehr an die Hand nehmen will. Vater Staat sagt, was die kleinen Bürger zu tun und zu lassen haben. Und wer nicht brav ist und folgt, darf abends nicht fernsehen.

Also geht es doch um all das, was die neuen Jakobiner uns aufs Auge drücken wollen: Weniger Fleisch essen, weniger Autofahren, die Hauswand begrünen und damit die Welt vor dem sonst sicheren Untergang retten? Eine freie Gesellschaft hat eine andere Philosophie: Dort hat kein Mensch, keine Gruppe, keine noch so demokratisch gewählte Mehrheit und kein Staat das Recht, Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu sein.

Doch diese Regierung geht einen anderen Weg. Sie will uns zwangsbeglücken. Schon bald werden Forschungsgelder verteilt, Personal eingestellt, Programme aufgelegt, Gesetze und Verordnungen erfunden oder einfach nur in die richtige Richtung „gestupst“ (neudeutsch: Nudging), um den „nachhaltigen Konsum“ schwarz-roter Prägung umzusetzen. Die Grundlage für all das, liegt jetzt auf dem Tisch. Man könnte zum Schluß kommen und meinen, das Land und seine Menschen hätten aktuell andere Probleme – Flüchtlinge, Euro und so weiter, doch weit gefehlt. So will die Regierung ein Projekt „Slow Fashion“ fördern, welches „auf eine freiwillige Entschleunigung und damit einhergehende Einschränkung des Bekleidungskonsums durch eine Verlängerung der Nutzungsphase von Kleidung abzielt“. Vielleicht kann man dann auch noch erreichen, dass der Waschzyklus dieser Bekleidung verlängert wird. Das riecht dann etwas strenger, aber spart Wasser. Und bei der Kleidersammlung will sich die Regierung künftig auch beteiligen. Sie will die „Erhöhung des Einsatzes von Recyclingfasern, zum Beispiel durch das öffentliche Beschaffungswesen“ verbessern. Konsequenterweise sollen auch „klimafreundliche Urlaubsreisen“ gefördert werden. Dazu passt dann auch die Forderung nach einer Intensivierung der „Unterstützung des Fußverkehrs“ „z.B. durch Entwicklung einer Fußverkehrsstrategie für Deutschland“. Was folgt daraus? Am Besten Sie stornieren Ihre Urlaubsreise nach Mallorca und bleiben im Sommer zu Hause, da ist es eh am Schönsten!

Photo: Petra B. Fritz from Flickr

Photo: Maria Morri from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Wer sich in diesem Land mit dem Verbraucherschutz und seinen Institutionen anlegt, hat meist schlechte Karten. Gelten er und seine Helfer doch als wichtig und objektiv. Die Marktwirtschaft und ihre Nebenwirkungen müssen daher kontrolliert und beobachtet werden. Inzwischen sind zahlreiche Institutionen geschaffen worden, die die vermeintliche Objektivität in die Kaufentscheidung jedes Einzelnen bringen soll. Die Verbraucherzentralen in Deutschland können pro Jahr über 100 Millionen Euro ausgeben und beschäftigen hauptamtlich über 1800 Mitarbeiter. Alleine die Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen beschäftigt 785 Mitarbeiter und hat einen Etat von über 40 Millionen Euro pro Jahr. Würden sie ihre Mittel selbst erwirtschaften, wären sie ein größeres mittelständisches Unternehmen. Jedoch finanzieren mindestens 90 Prozent der Ausgaben der Bund, die Länder und Kommunen in Deutschland.

Und auch die personellen Verflechtungen sprechen für eine sehr geringe Staatsferne. Der für Verbraucherschutz im Justizministerium in Berlin zuständige Staatssekretär ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Bundesverbandes der Verbraucherzentralen, Gerd Billen. Sein Nachfolger beim Bundesverband der Verbraucherzentralen ist der ehemalige Bundestagsabgeordnete und grüne Landesminister in Schleswig-Holstein, Klaus Müller.

Von der Energiesparberatung über gesundes Essen bis zur richtigen Geldanlage kümmern sich die staatlich finanzierten Verbraucherschützer um unser aller Wohl. Sie folgen dabei einem Leitbild, das der Wissenschaftliche Beirat „Verbraucher- und Ernährungspolitik“ beim Bundesjustizminister Heiko Maas formuliert hat. Die Verbraucher sollen „ökologisch nachhaltig und sozial verantwortungsvoll handeln“. Doch der Verbraucher sei dazu alleine nicht in der Lage. Das realistische Bild sei, so der Beirat, eher ein überlasteter, zeitknapper, wenig kompetenter, bedingt interessierter und nicht immer disziplinierter Verbraucher. Kurz: der Verbraucher ist ignorant, doof und bestenfalls überfordert. Jedoch nicht alle. Daher teilen die Verbraucherschützer die Bürger in „Idealtypen“ ein: in den „vertrauenden“, den „verletzlichen“ sowie den „verantwortungsvollen“ Verbraucher. Der „vertrauende“ Verbraucher ist mindestens naiv, wenn nicht beschränkt. Der „verletzliche“ Verbraucher ist Teil des wachsenden Prekariats in der Gesellschaft und muss daher von den gierigen Klauen des Kapitalismus beschützt werden. Nur der „verantwortungsvolle“ Verbraucher verhält sich im Sinne der Verbraucherschützer richtig. Er isst weniger Fleisch, greift zu Bio-Produkten, vermeidet Zucker und legt sein Geld in ethisch-ökologische Fonds an, die das Gute in der Welt unterstützen.

Man muss sich ernsthaft fragen, wie die Menschen in den letzten Jahrzehnten in diesem Land durchs Leben gekommen sind. Doch weitere Rettung naht. Die SPD in Bayern hat jetzt einen unabhängigen Verbraucherschutz-Beauftragten gefordert, und vor wenigen Tagen hat die Verbraucherzentrale Bundesverband eine Internet-Plattform „Marktwächter“ aus der Taufe gehoben. Damit wird eine alte Forderung aus dem schwarz-roten Koalitionsvertrag in Berlin umgesetzt. Es soll noch einer sagen, die Merkel-Regierung würde nicht liefern.

All das erinnert an George Orwells „Farm der Tiere“. Wie die Tiere der „Herren-Farm“ wollen die Verbraucherschützer das Joch der Unterdrückung abwerfen. Hinter jedem Finanzprodukt, hinter jedem Konzern und hinter jedem Suppenhuhn sehen sie den kapitalistischen Ausbeuter. Doch wenn dies die Regel wäre, dann würden wir keinen Wohlstand, keine Innovationen und Fortschritt kennen. Denn dieser beruht auf dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“ des Einzelnen. Diese Alternative aber ist eine Technokratie, die eher an Platons Wächterstaat erinnert. Dort werden Entscheidungen in einer Gesellschaft aufgrund von Expertenwissen getroffen. Doch der entscheidende Nachteil dieser geschlossenen Gesellschaften, in denen der Staat, seine Regierung und deren Beauftragten die Bürger an die Hand nehmen, ihnen schwierige Entscheidungen abnehmen und Sicherheit und Geborgenheit versprechen, ist der Umstand, dass bei Nichterfüllung alle die Folgen tragen müssen. So war es auch bei Orwells Fabel. Dort übernehmen am Ende die Schweine die Macht und errichten eine Gewaltherrschaft neuen Ausmaßes.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 30. Januar 2016.

 

Photo: Jorbasa Fotografie from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Dr. Karolin Herrmann, Referentin für Haushaltspolitik und Haushaltsrecht beim Deutschen Steuerzahlerinstitut

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt und als hätte man darauf gewartet, gab die Europäische Kommission unlängst eine zur Vorweihnachtszeit passende Mitteilung heraus. Darin plant sie neue Sicherheitsanforderungen für Kerzen, Kerzenhalter und Kerzenzubehör, denn diese, so die Kommission, könnten ein Risiko für die Verbrauchersicherheit darstellen. Was unter einer Kerze zu verstehen ist, liefert der Text gleich mit – nämlich ein „Produkt, das aus einem oder mehreren brennbaren Dochten besteht, die von einer bei Raumtemperatur (20 °C bis 27 °C) halbfesten Brennmasse gestützt werden.“ Um den Verbraucher zu schützen, hat sich das europäische Expertengremium besondere Sicherheitsanforderungen einfallen lassen. So sollen frei stehende Kerzen oder Kerzen, die mit einem Halter oder Behälter geliefert werden, nicht umkippen dürfen. Bei Kerzen, die ohne Halter oder Behälter geliefert werden, muss der Hersteller den Verbraucher künftig darauf hinweisen, dass die Verwendung eines geeigneten Halters erforderlich ist.

Kurzum, die meisten Passagen lesen sich wie ein Paradestück aus dem Brüsseler Kuriositätenkabinett. Warum mich solche Texte ärgern? Sie degradieren den Bürger zum Kleinkind – getreu dem Motto „Messer, Gabel, Schere, Licht – sind für kleine Kinder nicht.“ Aber ist es nicht in der europäischen Verantwortung, den Bürger vor Feuerschäden zu bewahren? Ist es nicht begrüßenswert, wenn uns die EU vor Alltagsgefahren schützt? Warum soll sich die EU nicht um unsere Sicherheit sorgen? Weil eine solche Regelung gegen die Grundprämisse gelebter Subsidiarität verstößt! Liegt es doch in der Verantwortung des Einzelnen und ist es doch eine Frage des gesunden Menschenverstands, wackelige Kerzen nicht ohne geeignete Unterlage anzuzünden. Der sichere Umgang mit entflammbaren oder scharfen Gegenständen ist Teil eines individuellen Erziehungs- und Lernprozesses und erfordert keine supranationale Initiative. Die europäische Fürsorge und Zwangsbeglückung ist Kalkül und zugleich Deckmäntelchen, um supranational mehr Kompetenzen und ein höheres Budget durchsetzen zu können. Befindet sich Europa also in der Wohlfühlfalle?

Allein in diesem Jahr wurden auf europäischer Ebene mehr als 1.800 Rechtsakte auf den Weg gebracht. Tatsächlich entbehren viele Verordnungen und Richtlinien jeglicher ordnungspolitischen Grundlage. Nehmen Sie nur die Richtlinie Nummer 603/2013, nach der die Kennzeichnung von Säuglingsnahrung so zu gestalten ist, dass sie Mütter nicht vom Stillen abhält. Der Verordnungsgeber vermutet, dass Frauen durch Babyfotos auf Milchpulververpackungen manipuliert werden könnten und verbietet ab Sommer 2016 eine entsprechende Bebilderung. Auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob sich die EU wirklich um den Schutz von Kleinkindern bemüht oder den Eltern unvermittelt Fehlverhalten unterstellt.

Spätestens hier schließt sich die grundsätzliche Frage an, wie die Kompetenzen innerhalb der Europäischen Union zu verteilen sind. Politikwissenschaftler verweisen dabei gern auf ein Demokratiedefizit in der EU. Es fehle an einer strikten Trennung der „Staatsgewalten“. Tatsächlich haben sowohl die Europäische Kommission als auch der Ministerrat Kompetenzen, die sich auf die Exekutive und auf die Legislative beziehen. Der Kommission obliegt neben dem Initiativrecht für die Gesetzgebung auch die Kompetenz, die Umsetzung des EU-Haushalts zu kontrollieren. Der Ministerrat kann Rechtsakte beschließen und internationale Verträge aushandeln, hat aber auch Kompetenzen der initiierenden und ausführenden Exekutive, denn er entscheidet aufgrund der rotierenden Ratspräsidentschaften über die Gesetzgebungsagenda.

An der Wahl der Kommission sind die Bürger weder unmittelbar noch mittelbar beteiligt. Die Kommissionsmitglieder werden alle fünf Jahre von den Mitgliedstaaten gewählt, das Europäische Parlament bestätigt das gesamte Kollegium via Zustimmungsvotum. Ein Misstrauensvotum für einzelne Kommissionsmitglieder gibt es nicht.

Der Ministerrat setzt sich je nach Sachthema aus den jeweiligen Fachministern der Mitgliedstaaten zusammen. Das Demokratiedefizit besteht in der Zusammensetzung des Ministerrats. Die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten werden nur mittelbar von den Bürgern der Europäischen Union gewählt und kontrolliert. Die Bekleidung der Ministerposten erfolgt auf nationaler Ebene über Wahlen. Hier werden die Bürger ihre Entscheidung aber primär an der nationalen Politik ausrichten.

Dem Ministerrat steht der Ausschuss der ständigen Vertreter (COREPER) zur Seite. Dem Gremium sind etwa 300 Arbeitsgruppen aus 28 EU-Mitgliedstaaten untergeordnet, in denen nationale Beamte themenbezogen zusammenarbeiten. Der COREPER bereitet die Ratssitzungen vor, beschließt die Tagesordnungen und legt dem Ministerrat entscheidungsreife Entwürfe vor, die meist nur noch der förmlichen Zustimmung bedürfen. Die Sitzungen des COREPERs und des Ministerrats finden in der Regel nicht öffentlich statt. Eine demokratische Legitimierung und Kontrolle des Ministerrats ist durch das hochgradig administrativ verflochtene COREPER nicht gegeben.

Diese wenigen Spiegelstriche verdeutlichen, dass es in der EU tatsächlich ein Demokratiedefizit gibt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass es im Zuge des Lissabon-Vertrags bereits Verbesserungen gegeben hat und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments gestärkt wurden. Die Frage ist auch, ob eine alleinige Verringerung des Demokratiedefizits in der EU genügt, um die europäischen Kompetenzen wirksam zu beschränken. Demokratie ist ein Willensbildungsverfahren und Ausdruck der jeweiligen Mehrheitsmeinung. Demokratie ist eine gute und die wahrscheinlich am ehesten Freiheit schaffende Methode, um widerstreitende Meinungen zu vereinen. Demokratie ist aber nur eine hinreichende und keine notwendige Bedingung, um Willkür, Ad-hoc-Gesetzgebung und politische Selbsterhaltungsinteressen wirksam zu begrenzen.

Europa braucht einen Ordnungsrahmen, der sich aus universalen Regeln zusammensetzt. Dazu gehört etwa die Verteidigung der mit dem europäischen Binnenmarkt verbundenen Grundfreiheiten oder die Schaffung eines Rechtsrahmens, um den grenzüberschreitenden Wettbewerb zu regeln. Hingegen kann eine politische Vertiefung nicht mit der steigenden gesellschaftlichen Komplexität und Vielfalt harmonieren. Oder akademisch ausgedrückt: Die Präferenzverfehlungskosten einer supranational koordinierten Politik steigen mit der Heterogenität der nationalen Systeme. Wie wichtig eine Prioritätensetzung in der EU ist, zeigt die aktuelle Flüchtlingskrise. Die Entgrenzung europäischer Zuständigkeiten in der Verbraucherpolitik steht im traurigen Widerspruch zum augenscheinlichen Unvermögen, auf europäischer Ebene eine Lösung der Flüchtlingskrise herbeizuführen.