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Die britische Steuer auf zuckerhaltige Getränke: ein Modell für Deutschland? Nein, denn statt den mündigen Bürger zu fördern, ist eine Zuckersteuer lediglich paternalistische Volksernährungspolitik, die vor allem die Armen trifft.

Die Debatte um die Zuckersteuer geht am Wesentlichen vorbei

In dieser Woche wurde in Großbritannien eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke eingeführt. Getränke, die mehr als 8 Gramm Zucker pro 100 Milliliter enthalten, werden von nun an mit 24 Pence pro Liter extra besteuert. Das britische Vorbild entfacht auch in Deutschland wieder eine Debatte über Sinn und Unsinn einer Zuckersteuer. Während die Organisation foodwatch es als „wissenschaftlichen Konsens“ bezeichnet, dass zuckerhaltige Getränke eine Hauptschuld für Fettleibigkeit tragen, argumentieren Gegner der Zuckersteuer mit den gescheiterten Experimenten in Mexiko und Dänemark.

Tatsächlich ist es äußerst zweifelhaft, ob eine Zuckersteuer Fettleibigkeit gerade bei Jugendlichen wirksam bekämpfen kann. Für Marktführer Coca Cola käme es einer Selbstaufgabe gleich, das Rezept für die weltweit beliebte Classic Cola zu ändern. Stattdessen verkleinert Coca Cola lieber seine Flaschen auf dem britischen Markt, um subjektive Preissprünge durch die Steuer zu umgehen. Für Befürworter der Steuer bereits ein Erfolg. Doch die Diskussion über die Wirksamkeit der Zuckersteuer ist müßig, denn es wäre viel wichtiger, einmal die Logik hinter solchen Lenkungssteuern zu hinterfragen.

Volksernährungspolitik, die vor allem die Ärmsten trifft

Konsumsteuern, wie die Mehrwert- oder eine Zuckersteuer, haben eine oft übersehene Eigenschaft: Wie sehr sie den Steuerzahler belasten, hängt vor allem vom jeweiligen Haushaltseinkommen ab. Menschen mit geringen Einkommen geben häufig einen Großteil ihres Geldes für Konsumgüter des täglichen Lebens aus. Das führt dazu, dass sie im Vergleich zu Besserverdienern auch einen wesentlich größeren Anteil ihres Einkommens lediglich für Konsumsteuern aufwenden müssen. Eine Zuckersteuer würde also gerade die Ärmsten unserer Gesellschaft am härtesten treffen, während Besserverdiener vermutlich kaum etwas merken würden.

Aber vielleicht ist genau dies die Idee hinter einer Zuckersteuer. So zeigen doch viele Studien, dass in den unteren Einkommensschichten Fettleibigkeit wesentlich häufiger vorkommt. Da erscheint es doch nur logisch, eine Steuer zu wählen, die gerade diese Einkommensschichten besonders trifft und sie damit zum „richtigen“ Verhalten erzieht. Hat die britische Regierung also alles richtig gemacht? Nein, denn die Frage ist hier nicht nur, ob die Zuckersteuer logisch oder wirksam ist, sondern wie weit der Einfluss des Staates in die private Lebensgestaltung reichen sollte. Und am Ende ist gerade die Ernährung immer noch eine höchst private Entscheidung. Eine bestimmte Lebensweise mit fiskalischen Mitteln zu erzwingen ist selbstgefällige „Volksernährungspolitik“, die vor allem diejenigen, die sich kaum wehren können, in ihren persönlichen Entscheidungen beschränkt. Oder anders ausgedrückt: Was sagt es über das Bürgerverständnis einer Regierung aus, wenn sie es für nötig hält, den von ihr Regierten einen anderen Lebensstil aufzudrücken?

Die Politik sollte sich endlich von den ganz großen Lösungen verabschieden

Sicher, Fettleibigkeit und schlechte Ernährung sind ein großes Problem, und das gerade bei Kindern und Jugendlichen. Doch es ist kein Ausweg, den Verbraucher immer weiter zu entmündigen und ihm die individuelle Lebensweise bis in kleinste zu diktieren. Dabei sind insbesondere die von vielen angeführten Kosten für die Sozialversicherungen eben kein Argument für mehr staatlichen Paternalismus. Das Besondere an Sozialversicherungen ist schließlich, dass sie Bürgern in jeder Lebenslage helfen, unabhängig davon, wie sie in eine Notsituation geraten sind. Oder sollten Menschen in Not bei der Aufnahme ins Krankenhaus zukünftig anhand ihres individuellen „Lebensstilrisikos“ befragt und eingestuft werden? Sozialversicherungen sind eine humanitäre Errungenschaft aber sie dürfen nicht dazu umgedeutet werden, den Bürger zu gängeln.

Was also ist die Alternative zur Zuckersteuer? Der Gesetzgeber sollte sich von der Idee der Makro-Lösungen verabschieden. So lehrt uns der österreichische Nobelpreisträger und Ökonom Friedrich August von Hayek, dass die großen Lösungen für gesellschaftliche Probleme immer zum Scheitern verurteilt sind. Sie bedürfen eines allumfassenden Wissens über alle Gründe für ein Problem sowie alle möglichen Effekte einer Lösung, das von keiner Regierung jemals erlangt werden kann. In der Folge führen viele gut gemeinte Regelungen am Ende dann doch zu so genannten „negativen externen Effekten“. Und da staatliche Lösungen für ein Problem dann auch noch per se zentral angelegt sind, können sie nicht einmal untereinander verglichen werde.

Stattdessen führt auch in diesem Fall der erfolgreiche Weg nur über den mündigen und eigenverantwortlichen Bürger. Dieser muss durch Bildung und Zugang zu Informationen in die Lage versetzt werden, Entscheidungen differenziert zu treffen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Abwägung von Gesundheitsgefährdung und Genuss, die uns der Staat weder abnehmen soll noch kann. Aufklärung über gesunde und ungesunde Ernährung von klein auf sowie Kennzeichnungspflichten hingegen stärken den Konsumenten in seiner Stellung. Dass einzig der Konsument eine Trendwende einleiten kann, zeigen nicht zuletzt der seit Jahren zurückgehende Zuckergehalt von Softdrinks und das stetig wachsende Angebot von zuckerfreien Softdrinks; nicht auf Druck einer Regierung, sondern auf Verlangen des mündigen Verbrauchers.

 

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Der Gesetzgeber engt den Spielraum von Unternehmern und Konsumenten in einem schleichenden Prozess immer stärker ein – und die Gerichte machen mit. Der missionarische Eifer dieser Weltbeglückungsträume zwingt den Bürgern immer mehr ein Wertesystem auf. Darf die Politik das?

Die Politik erweitert ihren Handlungsspielraum

Ludwig Erhard, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder – Kanzler, die sich ständig mit Rauchwaren im Mund abbilden lassen oder vor laufender Kamera ein Bier bestellen, wären heute nur noch schwerlich denkbar. Eine moderne Prüderie hat Einzug gehalten in der Sphäre der Politik. Das hat auch damit zu tun, dass zumindest halbwegs das Gleichgewicht zwischen Reden und Handeln gewahrt werden muss. Und in Bezug auf das Reden hat eine zunehmend freudlose Stimmung immer mehr die Oberhand gewonnen. Alkohol, Tabak, Zucker, Fett, Fleisch – was früher einmal unverzichtbarer Grundbestandteil von Schützenfest, Karneval und Omas 80. Geburtstag war, wird von verschiedensten Seiten für das Unglück in dieser Welt verantwortlich gemacht. Kein Wunder also, dass man inzwischen erleben kann, wie Politiker Fotografen darum bitten, sie nicht beim Fleisch-Essen abzulichten.

Eine krude Mischung aus Puritanismus und Selbstoptimierung ist auf dem Vormarsch. Natürlich kann man nicht leugnen, dass die Politik auf diesem Feld durchaus eine bestehende Nachfrage bedient. Es sind inzwischen bei weitem nicht mehr nur „die Ökos“, die sich einem gesundheitsbewussten Lebensstil verpflichtet fühlen. Unabhängig davon, ob man diese Entwicklung nun begrüßt oder bedauert, muss man sich die Frage stellen: Nutzt die Politik diesen Trend, um hemmungslos die Grenzen ihres legitimen Handelns zu überschreiten und mithin diese Grenzen im allgemeinen Bewusstsein zu verschieben? Auch Freunde des gesunden Lebens sollten hier Acht geben, weil es eben nicht nur um konkrete Fragen geht, sondern um prinzipielle.

Gleichheit vor dem Gesetz war gestern

Vor zwei Wochen hat der Bundesgerichtshof entschieden, die ohnehin schon exzessiven Regeln zu Tabakwerbung im Internet so streng wie möglich auszulegen. Nicht einmal auf ihren eigenen Webseiten dürfen die Hersteller von Rauchwaren mehr Menschen beim munteren Konsum von Tabakprodukten zeigen. Wie rechtfertigen Gesetzgeber und Richter eigentlich solche massiven Eingriffe in die unternehmerische Freiheit? Staatliche Akteure sind inzwischen völlig außer Rand und Band geraten, wenn es darum geht, die Bürger vor ihrer eigenen „Dummheit“ zu schützen. Und bedauerlicherweise gibt es auch eine große Zahl an Bürgern, die das tolerieren oder gar selber einfordern. Gerade diese Unterstützung in Teilen der Bevölkerung macht es Politikern immer leichter, die Grenzen der geduldeten Eingriffe in die Entscheidungen ihrer Bürger weiter zu verschieben. Während sie dabei vermeintlichen Schutz ermöglichen, zerstören sie in Wirklichkeit Stück für Stück die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats.

Die Argumente für die einzelnen Eingriffe kommen in der Regel im pragmatischen Gewand daher nach dem Schema: In diesem konkreten Fall sei jetzt eine bestimmte Maßnahme gerechtfertigt, weil sie ein erwünschtes Ziel begünstige. Was im Einzelfall dann sinnvoll und vernünftig erscheinen mag und darum Zustimmung erntet, untergräbt zunehmend die Freiheit, die sich unsere Vorfahren mühsam erarbeitet haben. Denn eine zentrale Grundlage unserer individuellen Freiheit ist es, dass wir keinen willkürlichen Eingriffen der Herrschenden ausgesetzt sind, sondern in einem verlässlichen System aus allgemeinen und gleichen Regeln leben. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist, wie die Philosophin Hannah Arendt einmal herausstellte, das Gegenstück zu Machtausübung. Das ursprünglich griechische Konzept der „Isonomie“, das später von mittelalterlichen Rechtsgelehrten und den Denkern der Aufklärung weiterentwickelt wurde, und die Grundlage unseres Rechtsverständnisses bildet, wird laut Arendt dadurch gekennzeichnet, dass hier das Konzept der Herrschaft durch Personen vollständig fehle. Es ist das Ideal der Herrschaft des Rechts.

Diskriminierung für einen guten Zweck

Dieses Bollwerk gegen Willkür der Politik untergraben die paternalistischen Einzelmaßnahmen gegen alle möglichen Produkte und Verhaltensweisen, die als schädlich angesehen werden. Der Tabakproduzent und der Hersteller von Katzenfutter werden vollkommen unterschiedlich behandelt. In diesem Geiste dürfte es nicht mehr allzu lange dauern, bis auch die Süßwarenhersteller und die Computerspielentwickler ins Visier genommen werden. Wir geraten immer tiefer in einen Strudel der Diskriminierung hinein. Politiker und Meinungsmacher entscheiden, wer bestraft und wer belohnt werden soll, denn sie entscheiden auch, was schädlich ist und was nicht; was bekämpft werden muss und was in Ruhe gelassen wird; und was dem Bürger (oder sollte man sagen: dem Untertan?) zu einem besseren Leben verhilft.

Pragmatismus statt Prinzipienreiterei – mit diesem Argument werden Einwände gegen die diskriminierenden Maßnahmen der Politik oft vom Tisch gewischt. Was zählt schon die unternehmerische Freiheit, wenn Leben gerettet werden können? Diese Logik ist ein bewährtes Mittel, um Macht auszuweiten und Freiheit einzuschränken. Diesen süßen Sirenengesängen nicht zu folgen, erfordert Stehvermögen. Während man für ein abstraktes Prinzip streitet, werden einem Raucherlungen und Drogenstatistiken entgegengeschleudert. Man darf sich davon nicht irremachen lassen. Früher wurde die Willkür der Herrschenden gerechtfertigt mit religiösen Begründungen oder dem nationalen Interesse – heute eben mit der Sorge um die Gesundheit und das Wohlergehen der Bürger. Was Friedrich August von Hayek 1961 in dem Artikel „Die Ursachen der ständigen Gefährdung der Freiheit“ schrieb, ist in diesem Zusammenhang zeitlos gültig: „dass die Freiheit nur erhalten werden kann, wenn sie nicht bloß aus Gründen der erkennbaren Nützlichkeit im Einzelfall, sondern als Grundprinzip verteidigt wird, das der Erreichung bestimmter Zwecke halber nicht durchbrochen werden darf.“

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Als Friedrich August von Hayek 1974 der Ökonomienobelpreis verliehen wurde, schrieb der jüngste Preisträger Richard Thaler gerade seine Doktorarbeit über Verhaltensökonomie, die ihn später so populär machen sollte. Die Idee, dass der Mensch eine nutzenmaximierende Maschine sei, war lange die vorherrschende Denkrichtung in der Volkswirtschaftslehre. Thalers Verdienst, dieses falsche Bild des Einzelnen zu zerstören, hat die Schwedische Akademie der Wissenschaften jetzt gewürdigt.

Doch Vertreter der Verhaltensökonomie werden nicht zum ersten Mal mit diesem Preis gewürdigt. Vor 15 Jahren bekam Daniel Kahnemann bereits den Preis für seine Forschung auf diesem Gebiet. Schon Kahnemann widersprach vehement dem neoklassischen Paradigma eines „homo oeconomicus“, der alle Entscheidungen rational und ökonomisch trifft. Selbst Hayek hatte dies in seinen Arbeiten herausgearbeitet. Es gehört zur DNA der Ökonomen der Österreichischen Schule, deren wohl bekanntester Vertreter Hayek ist. Die Österreicher haben dem Konzept des „homo oeconomicus“ schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts widersprochen. Sie gehen davon aus, dass Wissen und Informationen immer subjektiv und verstreut sind und einem ständigen Wechsel unterliegen. Daher gibt es für Entscheider, seien es Konsumenten oder Unternehmer, nicht eine feste Wahrheit, sondern viele Möglichkeiten, da keiner umfassendes Wissen haben kann.

Daher kann auch niemand, keine Regierung und kein Parlament, vorhersagen, was die Zukunft bringt. Und da kollidiert Hayek mit Thaler fundamental. Thaler nutzte seine Erkenntnisse der irrationalen Entscheidungen des Einzelnen dazu, ein völlig neues Politikkonzept den Regierungen anzubieten, das er Nudging nennt. Dabei geht es darum, dass Bürger zu richtigem Verhalten angestupst (to nudge) werden. Nicht mehr Gesetze oder Verordnungen regeln die Grenzen des Zusammenlebens, sondern Methoden aus der Psychologie sollen Bürger zu richtigem Verhalten bringen. Dieses Anstupsen ist zur Mode moderner Regierungsführung geworden. Thaler beriet bereits Barack Obama in diesen Fragen. Der ehemalige britische Premierminister David Cameron richtete ein „Behavioural Insights Team” in der Downing Street 10 ein. Und auch Angela Merkel hat eine Gruppe im Kanzleramt, die sich um das sanfte Anstupsen der Bürger kümmert. Das Ziel ist, unterhalb der Gesetzgebung durch psychologische Maßnahmen das Verhalten der Bürger zu ändern.

Aus der Erkenntnis der Verhaltenspsychologie heraus, dass Menschen nicht immer das tun, was sie tun WOLLEN, werden also neue politische Konzepte gestrickt. Jetzt geht es nicht mehr darum, dass Bürger nicht das tun, was sie tun WOLLEN, sondern, dass sie nicht tun, was sie tun SOLLEN. Das mag harmlos klingen – wer hat schon etwas dagegen, wenn Autofahrer auf Autobahnen vor zu dichtem Auffahren durch Unfallbilder auf Hinweistafeln gewarnt werden. Doch welche Methoden und welche Maßnahmen eine Regierung ergreift, entzieht sich dabei in der Regel der Kontrolle des Souveräns. Welche Ziele die Regierung damit verfolgt, erst recht.

Hayek hat in seiner Dankesrede bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm vor der Anmaßung von Wissen gewarnt. Er hat gerade seiner eigenen Zunft vorgeworfen, viel Elend mit ihren Empfehlungen an die Politik angerichtet zu haben. „In dem Glauben, dass Ökonomen die Kenntnis und die Macht besitzen, die Vorgänge in der Gesellschaft ganz nach unserem Gutdünken zu gestalten, eine Kenntnis, die wir in Wirklichkeit nicht besitzen, werden wir nur Schaden anrichten“, so Hayek. Doch nicht nur die Ökonomen haben dieses Wissen nicht, sondern auch Parlamente, Regierungen und Beamte haben dieses Wissen nicht. Niemand hat dieses allumfassende Wissen.

Deshalb ist Nudging als weicher Paternalismus nichts Harmloses, sondern ein Angriff auf die Autonomie des Menschen als Bürger, als Konsument und generell als Individuum. Prometheus – Das Freiheitsinstitut hat dazu im vergangenen Jahr eine Studie durch den deutschen Nudging-Experten Professor Jan Schnellenbach erstellen lassen, die als Fazit hat, dass das Konzept des Nudging, anders als von den Befürwortern behauptet, sehr wohl die Autonomie des Einzelnen einschränken kann, da Maßnahmen auch zur gezielten Manipulation genutzt werden können. Wer schützt die Bürger in einem Rechtsstaat davor, dass eine Regierung mit Methoden des Nudging an Parlament und Gerichten vorbei, Grundrechte einschränkt, wenn die Maßnahmen gar nicht im Detail bekannt sind? Man kann nur sagen: wehret den Anfängen.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

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Von Dr. Hubertus Porschen, Vorsitzender des Verbandes “Die Jungen Unternehmer“, CEO der App-Arena GmbH.

Noch nie von Nudging gehört? Dann sollten Sie das schnell ändern. Denn betroffen sind wir alle. Aus dem Englischen übersetzt bedeutet Nudging „schubsen“. Es ist ein Werkzeug, mit dem menschliche Schwächen systematisch korrigiert oder ausgenutzt werden können – ein Schubser in die vermeintlich richtige Richtung. Im Bundeskanzleramt gibt es dafür seit 2015 drei Referenten – bislang.

Verhaltensmuster lenken

Das Konzept des Nudging stammt aus der Verhaltensökonomie. Es setzt auf psychologische Methoden, um menschliche Entscheidungen zu beeinflussen, zu lenken, zu manipulieren. Da klassische Marketingstrategien an Einfluss verlieren, bedient sich neuartiges Marketing mittlerweile des Nudging. Ohne sich manipuliert zu fühlen, soll der Kunde sich zum Kauf entscheiden. Aus meiner Sicht eine fragwürdige Praxis.

Unbegrenzte Ideen für staatliches Nudging

Auch der Staat möchte Nudging nutzen. Er will bestimmte Verhaltensweisen seiner Bürger korrigieren, da sie in seinen Augen zu viele Fehlentscheidungen treffen, weil sie emotional oder spontan handeln, oder zu träge seien. Zugleich kann nicht alles mit staatlichen Ge- oder Verboten belegt werden. Bekanntestes Beispiel für staatliches Nudging ist die Gestaltung von Zigarettenpackungen, die Raucher abschrecken soll. Künftig könnten noch viele andere  Branchen von Eingriffen betroffen sein, denn die Wunschliste für staatliches Nudging ist unbegrenzt: Die Menschen sollen sich gesünder ernähren, weniger Fleisch essen, das Klima schonen, für das Alter vorsorgen, Organe spenden, moralisch gut handeln und und und. Als Unternehmer sehen wir die staatliche Beeinflussung der Menschen kritisch, zumal auch in die unternehmerische Freiheit eingegriffen wird.

Nudging soll „Gutes“ bewirken

Die meisten Leute sind sich einig: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiger Faktor im Arbeitsleben. Hier soll zwischen Männern und Frauen Gleichberechtigung herrschen. In der Elternzeit werden auch Väter ermutigt, sich eine Auszeit zu nehmen und ein paar Monate auf den Nachwuchs aufzupassen. Das Ehegattensplitting führt jedoch langfristig zu einem entgegengesetzten Effekt. Die steuerlichen Vorteile führen dazu, dass sich der Job der Frau in der Partnerschaft oftmals nicht mehr lohnt – sie bleibt zu Hause. Ein Schubser in die falsche Richtung, denn so fördert man keine Geschlechtergerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Ein weiterer fragwürdiger Nudge, mit ähnlicher Wirkung, ist das Betreuungsgeld. Familien werden dafür belohnt, ihre Kinder nicht in eine Betreuungsstelle zu schicken. Die Mütter müssen zweimal überlegen, ob nun eine Teilzeit-Stelle, oder doch der komplette Verzicht auf einen Job lohnenswerter ist.

Paternalismus versus mündige Bürger

Der paternalistische Staat geht vom Grundsatz aus, dass der Staat weiß, was gut ist für seine Bürger. Entsprechend lenkt er sie. Befürworter einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung lehnen diese Sichtweise kategorisch ab. Klug geworden durch historische Erfahrungen gehen sie von einem anderen Ansatz aus: Von dem mündigen, eigenverantwortlichen Bürger, der frei handeln kann und darf, solange er die Freiheit seiner Mitbürger nicht beschränkt. Das Ergebnis ist eine offene, pluralistische Gesellschaft, die auch unternehmerische Freiheit umfasst.

Subtile Manipulation politischen Denkens

Politisches Nudging beinhaltet immer ein normatives Urteil, d.h. ein Werturteil, wie bestimmte Dinge in der Welt beschaffen sein sollen. Nudging für eine politische Agenda kann leicht in falsche Hände gelangen. Das ist brandgefährlich. Wissend, dass Menschen dem Schwarmverhalten unterliegen, können sie im Denken und Akzeptieren subtil dorthin getrieben werden, wo man sie haben will!

Eigenständigkeit und Eigenverantwortung werden untergraben

Wir erleben derzeit in der Politik – weltweit – eine wachsende Missachtung und Geringschätzung von Fakten. An ihre Stelle treten zunehmend Gefühlsströmungen. Insbesondere durch die sozialen Medien haben die Verstärkermechanismen für „gefühlte“ Zusammenhänge und Behauptungen stark zugenommen. Für den Staat mag es verlockend sein, gewisse postfaktische Tendenzen in seinem Sinne zu lenken. Das eigenständige Denken und Handeln des Einzelnen – als Bürger, Verbraucher, Unternehmer – wird untergraben. Dadurch werden die Grundlagen einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft schleichend ausgehöhlt. Nudging für die politische Agenda ist deshalb ein klares No Go!

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Im Jahr 2008 machte ein Buch Furore, das einen “echten dritten Weg” versprach zwischen Regulierungswut und Laissez-faire. Der Titel: “Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness”. Diese sehr umfassende Verheißung stammt von dem Harvard-Juristen Cass Sunstein und dem in Chicago lehrenden Ökonomen Richard Thaler. Nudging sollte die Technik sein, mit der das moderne Staatswesen des 21. Jahrhunderts optimiert werden kann.

Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern?

Grundlage ihrer Nudge-Theorie sind im Grunde genommen zwei Banalitäten: Erstens, wir tun nicht immer das, was wir gerne tun würden: vom regelmäßigen Schwimmen bis zu mehr Sorgfalt bei unserer individuellen Finanzplanung, vom Energiesparen bis zur gesunden Ernährung. Kurz: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zweitens, es gibt aber auch ganz gute Möglichkeiten, dieses Problem zu umgehen, nämlich, indem wir uns selbst überlisten: zum Beispiel, indem man sich morgens mit einer Freundin zum Joggen verabredet oder einfach, indem man Neujahrsvorsätze fasst. Der Trick besteht darin, dass wir die Umstände für uns so verändern, dass wir eine bestimmte Entscheidung eher treffen.

Sunstein und Thaler empfehlen nun der Politik, sich diese Phänomene menschlichen Verhaltens zunutze zu machen. Indem man einige kleine Schrauben anders setzt oder den Rahmen leicht verschiebt – so ihr Argument –, kann man große Teile der Bevölkerung dazu bewegen, sich im Blick auf Bereiche wie Gesundheit, Umwelt und Vorsorge richtig zu verhalten. Die Ziele, die mit der Methode des Nudging erreicht werden sollen, sind im Verständnis von Sunstein, Thaler und ihren Mitstreitern solche, die ohnehin breiten gesellschaftlichen Zuspruch finden und Nutzen für die Gesamtheit stiften. Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern? Ist es nicht besser, Krankheitskosten zu senken, die Umwelt zu schonen und jedem eine solide Alterssicherung zu ermöglichen?

Nudging als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur?

Diese Ziele sollen dank Nudging nun nicht mehr mit Gesetzen und Verboten erreicht werden, sondern auf Samtpfoten. Darum bezeichnen die Erfinder des Nudging ihr Konzept auch als “libertären Paternalismus”, weil es zwar versucht, Menschen zum richtigen Verhalten zu bringen, aber niemals explizit eine abweichende Entscheidung verbietet. An die Stelle des Veggie Days könnte dann zum Beispiel eine bundesweite Kantinen-Initiative treten: Brokkoli und Fenchel sind dann so zu platzieren, dass wir lieber dort zugreifen als bei Currywurst oder Tortellini alla Panna. Nudging präsentiert sich mithin als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur.

Es gibt auf vielen Ebenen sehr gute Einwände gegen diese Art, vorgeblich gesellschaftlich gewünschte oder möglicherweise nützlichere Ergebnisse zu produzieren. Dazu gehören Fragen des Demokratie- und Rechtsstaatsverständnisses, Fragen der Transparenz und Kontrollierbarkeit sowie insbesondere auch die Frage nach menschlicher Autonomie und dem grundlegenden Verständnis von Eigenverantwortung. An dieser Stelle soll vor allem auf ein Problem eingegangen werden: Worin liegt die Gefahr dieses scheinbar harmlosen Mittels? Die Antwort lässt sich knapp zusammenfassen: Sie liegt in einem einzigen Buchstaben.

Ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow

In der Theorie hört sich Nudging zunächst einmal harmlos an, sanft und vernünftig. Es ist ein gewaltfreies Modell, das scheinbar gut geeignet ist für eine Welt, in der Individualität einen immer größeren Raum einnimmt. Zwischen diesen theoretischen Überlegungen und der praktischen Umsetzung ist allerdings ein Zwischenschritt erforderlich, der sehr gefährlich sein kann. Denn es muss Menschen geben, die bestimmen, auf welchen Gebieten Nudging eingesetzt wird; die entscheiden, in welche Richtung “genudged” werden soll; die feststellen können, welche Ergebnisse richtig, also erwünscht sind. Das sind Politiker und Bürokraten. Nun ist es freilich ohnehin schon in vielen Fällen kaum möglich, eine objektiv richtige Entscheidung zu treffen. Die einen argumentieren etwa, man solle komplett auf Fleisch oder gar alle tierischen Produkte verzichten. Die anderen raten davon ab, Laktose zu konsumieren. Wieder andere schwören darauf, keinerlei Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Und hier geht es nur um einige diätetische Differenzen …

Über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze hinaus birgt aber die Notwendigkeit zu entscheiden, was richtig sein soll, noch eine wesentlich größere Gefahr: Wir wissen, dass Politiker und Bürokraten keine selbstlosen, allgütigen und allwissenden Gestalten sind. Insbesondere Politiker haben in der Regel eine Agenda. Wer aber für eine bestimmte politische Richtung einsteht, wird auch eine hypothetische Objektivität gegebenenfalls sehr rasch aufgeben zugunsten einer Perspektive, die mit seinen eigenen Überzeugungen und Ansichten konform geht. Um es etwas schematisch zu illustrieren: Während ein Politiker der Grünen sich des Instruments vielleicht bedienen wird, um den Fleischkonsum zu reduzieren, könnte es einer AfD-Politikerin dabei helfen, ein traditionelles Familienbild stark zu machen. Es ist ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow.

Hier kommt der Buchstabe ins Spiel. In der Theorie geht Nudging davon aus: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun wollen. Der Politiker denkt: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun sollen. Während Nudging in der Theorie dazu dient, uns dabei zu helfen, unsere tatsächlichen Präferenzen besser zu verfolgen, wird es in der politischen Praxis schnell zu einem Mittel, die Präferenzen anderer besser umzusetzen. Die Technik wird mit einer Agenda ausgestattet.

Nudging kann den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen

Am Ende läuft vieles auf die grundsätzliche Frage hinaus: Wer entscheidet eigentlich, was das Richtige ist? Gewiss, es gibt immer gesellschaftliche Stimmungen, die eine relativ breite Zustimmung finden. Die Stimmung in den letzten zwei, drei Jahrzehnten etwa lässt sich unter Stichworten wie Nachhaltigkeit, Ökologie und Fitness zusammenfassen. Doch auch wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung diese Ziele zu eigen macht, ergibt sich daraus noch nicht, dass es legitim wäre, die Ziele für alle zu setzen. Zwar argumentieren die Freunde des Nudging, dass genau das schließlich nicht geschehe. Man wolle ja nur etwas vorschlagen und ein wenig attraktiver machen. Klar ist jedoch: Eigentlich sollten sich alle Menschen ihrem Vorschlag anschließen. Insofern werden immer noch Ziele gesetzt. Es wird immer noch auf allen möglichen Gebieten unseres Lebens bestimmt, was gut und was schlecht ist. Nur die Mittel zur Durchsetzung haben sich geändert.

Nudging kann am Ende, wie auch andere Formen des Paternalismus, den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen. Im Grundgesetz findet sich unmittelbar nach der Bestimmung zum Schutz der Menschenwürde die Formulierung: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.” Diese Bestimmung begründet unser Land als freiheitlichen Staat. Wenn politische Akteure der Ansicht sind, dass bestimmte Formen der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu korrigieren sind, und wenn sie nach Mitteln suchen, diese Entfaltung sanft in die richtige Richtung zu lenken, dann stellen sie prinzipiell jene Autonomie infrage, die uns zu mündigen Bürgern macht.

Vor gut sechseinhalb Jahrzehnten rief Ludwig Erhard den Delegierten des 1. CDU-Bundesparteitags in Erinnerung, “dass die freie Konsumwahl zu den in den Sternen geschriebenen Grundrechten eines Volkes und jedes einzelnen Menschen gehört und dass es demgegenüber ein Verbrechen an der Würde und an der Seele des Menschen bedeutet, ihn durch staatliche Willkür zum Normalverbraucher erniedrigen zu wollen”.

Erstmals erschienen auf dem Blog der Ludwig-Erhard-Stiftung.