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Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883-1955) verfasste 1930 ein vielbeachtetes Essay „Der Aufstand der Massen“. Was als Abgesang auf die liberale Ordnung geschrieben war, liest sich heute mitunter wie eine Prognose auf Fake News, Populismus und Identitätspolitik.

Verwöhnte Kinder

Für Ortega, einen liberalen Republikaner vom alten Schlag, deutete sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg der Verlust der offenen, pluralen und dynamischen Gesellschaft an, die sein Altersgenosse Stefan Zweig in seinem ein Jahrzehnt später verfassten Buch „Die Welt von gestern“ so anschaulich und wehmütig beschreibt. Die Lektüre von Ortegas Text lohnt sich nicht nur für den Historiker. Es ist auch erstaunlich aktuell im Blick auf die Probleme, die heute auf unsere Gesellschaft zukommen. Corbyn und Orban, Trump und Maduro, Pegida und Campact – sie alle kann man in diesem Zeugnis europäischen Geistes wiederfinden.

Eine zentrale Rolle spielt in Ortegas zeitkritischem Rundumschlag der Gegensatz zwischen der Masse und den Eliten. Deshalb tun sich Kritiker leicht, ihm Snobismus vorzuwerfen. Weit gefehlt. So ungeschickt die Wortwahl gewesen sein mag. Er meint damit etwas ganz anderes: Masse bezeichnet hier keine gesellschaftliche Klasse, sondern eine Menschenklasse oder -art, die heute in allen gesellschaftlichen Klassen vorkommt. Er meint mit Masse Menschen, die es sich in der Bequemlichkeit des status quo einrichten. Die keine Ansprüche an sich, aber dafür umso mehr an die Gesellschaft haben. Die wie verwöhnte Kinder jetzt sofort ihren Willen durchsetzen wollen ohne überhaupt einen Gedanken an Voraussetzungen und Konsequenzen zu verschwenden. Insofern kann etwa das Staatsoberhaupt der USA durchaus als Teil der Masse begriffen werden

Die Herrschaft der Stammtische

Der Gegensatz dazu ist der elitäre Mensch. Das müssen weder Professoren noch Großbürger sein. Weder Abschluss noch Einkommen definieren für Ortega Elite, sondern Haltung. Elite sind Menschen, die Mühen auf sich zu nehmen bereit sind, um Verbesserung zu erreichen. Die die Bereitschaft aufbringen, auf andere zu hören, sie zu akzeptieren und von ihnen zu lernen. Es können also auch Menschen Elite sein, die völlig aus der üblichen sozioökonomischen Definition von Elite herausfallen. Letztlich beschreibt Ortega mit den beiden Begriffen Haltungen und Persönlichkeitstypen. Sein „Aufstand der Massen“ ist mithin eine Beschreibung der Revolte der Unvernunft, eine Art Gegenaufklärung.

Die Errungenschaften der Aufklärung im politischen Bereich sieht er gefährdet durch diejenigen, die ihrem Ethos der Anstrengung aus Bequemlichkeit und selbstverschuldeter Ignoranz entgegenstehen. Sie wollen die einfachen Lösungen. Und das hat durchaus Konsequenzen für grundlegende Prinzipien der freiheitlichen Demokratie. Deren wesentlicher Bestandteil ist der Schutz der Minderheit vor der Herrschaft der Mehrheit. Die Massenmenschen dagegen glauben, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken und mit Gesetzeskraft auszustatten.Den Wust von Gemeinplätzen, Vorurteilen, Gedankenfetzen oder schlechtweg leeren Worten, den der Zufall in ihm aufgehäuft hat, spricht er ein für allemal heilig und probiert mit einer Unverfrorenheit, die sich nur durch ihre Naivität erklärt, diesem Unwesen überall Geltung zu verschaffen.

Sie verachten den Pluralismus der freiheitlichen Gesellschaft und das Konzept des Individualismus: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht „wie alle“ ist, wer nicht „wie alle“ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden. Hier hallt bereits der Ruf der heutigen Massenmenschen voraus: Der Kampf der „99 Prozent“ gegen „die da oben“, der angeblich traditionellen Werte gegen „Gayropa“. Der Liberale sucht nach Wegen der Kooperation und der Versöhnung, der Massenmensch hingegen braucht die Feindbilder, um sich selbst zu bestätigen: Der Liberalismus … verkündet den Entschluss, mit dem Feind, mehr noch: mit dem schwachen Feind zusammenzuleben. … Mit dem Feind zusammenleben! Mit der Opposition regieren! Ist eine solche Humanität nicht fast schon unbegreiflich? … Die Masse … wünscht keine Gemeinschaft mit dem, was nicht zu ihr gehört; sie hat einen tödlichen Hass auf alles, was nicht zu ihr gehört.

Hat sich der Liberalismus zu Tode gesiegt?

Auch die großen Narrative hat es damals schon gegeben. Ortega reagiert allergisch auf das Gerede über den Niedergang und besonders den Niedergang des Abendlandes und stellt fest: Es gibt nur einen bedingungslosen Niedergang; er besteht in einem Schwinden der vitalen Kräfte. Damit meint er die Bereitschaft der „Elite“, sich auf Neues einzulassen, nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle und gesellschaftliche Entrepreneure zu sein. Paradoxerweise hängt dieser tatsächliche Niedergang zusammen mit den beiden großen Erfolgen des 19. Jahrhunderts, die Ortega ausmacht: liberale Demokratie und Technik. Nicht unähnlich den Analysen von Hayek scheint es ihm, als ob sich diese Errungenschaften gewissermaßen zu Tode gesiegt hätten:

Der fortschrittliche Liberalismus wie der Marxsche Sozialismus setzen voraus, dass sich, was sie als beste Zukunft ersehnen, unabwendbar … verwirklichen wird. Durch diese Theorie vor ihrem eigenen Gewissen gedeckt, ließen sie das Steuer der Geschichte fahren, blieben nicht länger in Bereitschaft und büßten Beweglichkeit und Tatkraft ein. … Kein Wunder, wenn die Welt heute leer von Plänen, Zielsetzungen und Idealen ist. Niemand befasst sich damit, sie bereit zu halten. Das ist die Fahnenflucht der Eliten, die immer die Kehrseite zum Aufstand der Massen darstellt.

Die Verstaatlichung des Lebens und Identitätspolitik

Die Kombination aus dieser Antriebs- und Ziellosigkeit und dem mangelnden Bewusstsein für die Mühen, die es kostet, Wohlstand und Freiheit zu erhalten, führt zu einer Anspruchshaltung, die die dynamischen – vitalen, wie Ortega sagt – Kräfte zerstört: Die Lebenslandschaft der neuen Massen … bietet tausend Möglichkeiten und Sicherheit obendrein, und alles fix und fertig, zu ihrer Verfügung, unabhängig von einer Bemühung ihrerseits … Eben die Vollkommenheit der Organisation, die das 19. Jahrhundert gewissen Lebensordnungen gegeben hat, ist Ursache davon, dass die Massen, denen sie zugute kommt, sie nicht als Organisation, sondern als Natur betrachten. … nichts beschäftigt sie so sehr wie ihr Wohlbefinden, und zugleich arbeiten sie den Ursachen dieses Wohlbefindens entgegen. Da sie in den Vorteilen der Zivilisation nicht wunderwürdige Erfindungen und Schöpfungen erblicken, die nur mit großer Mühe und Umsicht erhalten werden können, glauben sie, ihre Rolle beschränke sich darauf, sie mit lauter Stimme zu fordern, als wären sie angeborene Rechte.

Da die Massenmenschen sich im Recht glauben, haben sie keine Hemmungen, Machtmittel einzusetzen, um ihren Willen zu verwirklichen. Sie haben die deutlichsten Vorstellungen von allem, was in der Welt geschieht und zu geschehen hat und dulden keine Abweichungen. Daher schließt Ortega, dass die größte Gefahr, die heute die Zivilisation bedroht, die Verstaatlichung des Lebens ist, die Einmischung des Staates in alles, die Absorption jedes spontanen sozialen Antriebs durch den Staat; das heißt die Unterdrückung der historischen Spontaneität, die letzten Endes das Schicksal der Menschheit trägt, nährt und vorwärtstreibt. Das führt unweigerlich zu dem, was wir heute mit dem Begriff Identitätspolitik bezeichnen. Politische Macht soll zu einem Mittel werden, mit dem die eigenen Wertevorstellungen durchgesetzt werden, weit über die unmittelbare Sphäre des Politischen hinaus: da der Massenmensch tatsächlich glaubt, er sei der Staat, wird er in immer wachsendem Maße dazu neigen, ihn unter beliebigen Vorwänden in Tätigkeit zu setzen, um so jede schöpferische Minorität zu unterdrücken, die ich stört, ihn auf irgendeinem Gebiet stört – in der Politik, der Wissenschaft, der Industrie.

„Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft!“

Ortega, der die überlegenste Form menschlicher Beziehungen in dem Zwiegespräch sieht, diagnostiziert bei den Massenmenschen eine Tendenz zur Dialogunwilligkeit, die, je mehr sie betrieben wird, immer stärker in tatsächliche Dialogunfähigkeit umschlägt. Es sind die Menschen, die nicht mehr bereit sind, zuzuhören, dem anderen Raum zu geben. Es geht nicht mehr darum, in einem gemeinsamen Austausch von Argumenten einer Lösung näherzukommen: Wozu hören, wenn er schon alles, was not tut, selber weiß? Es ist nicht mehr an der Zeit zu lauschen, sondern zu urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Das Parlament als Schwatzbude gehörte schon damals zum Vorwurfsrepertoire der Feinde der offenen Gesellschaft wie die Ablehnung von Experten: Das Neueste in Europa ist es daher, „mit den Diskussionen Schluss zu machen“, und man verabscheut jede Form geistigen Verkehrs, die, vom Gespräch über das Parlament bis zur Wissenschaft, ihrem Wesen nach Ehrfurcht vor objektiven Normen voraussetzt. Das heißt, man verzichtet auf ein kultiviertes Zusammenleben, das ein Zusammenleben unter Normen ist, und fällt in eine barbarische Gemeinschaft zurück.

Dabei ist die Fähigkeit und Bereitschaft zum Diskurs kein Mittel, um die Wahrheit zu verwässern, wie es oft von den Massenmenschen dargestellt wird, sondern gerade die einzige Möglichkeit, ihr näher zu kommen. Das gilt insbesondere im Blick auf die „Wahrheit“ im menschlichen Miteinander, die eben niemals eine feste Wahrheit, sondern ein beständiges Austarieren, Lernen und Weiterentwickeln ist. Diskurs ist der Nährboden der freien Gesellschaft: Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft! Warum erfand man das alles? … Es dient dazu, die civitas, die Gemeinschaft, das Zusammenleben, zu ermöglichen. Diese zivilisatorischen Tugenden werden vom Massenmensch abgelehnt, weil er sie als hinderliche empfindet: Gleichgültig, ob er als Reaktionär oder Revolutionär maskiert ist, nach einigem Hin und Her wird er mit Entschiedenheit jede Verpflichtung ablehnen und sich, ohne dass er selbst den Grund dafür ahnte, als Träger unbeschränkter Rechte fühlen.

Das Unfehlbarkeitsdogma des Massenmenschen

Dieser Diskurs setzt freilich auch Respekt vor dem Prinzip der Vernunft und Rationalität voraus. Die Grundlage des Erfolgs von Fake News ist das Unfehlbarkeitsdogma des Massenmenschen: die Überzeugung, Wahrheit könne sich aus dem eigenen Gefühl beziehen. Weil einem selbst etwas plausibel erscheint, verzichtet man darauf, diese vermeintliche Wahrheit äußeren Umständen und anderen Menschen im Austausch auszusetzen.

Wahrscheinlich lässt sich ohnehin in Fragen des menschlichen Miteinanders nie die eine objektive Wahrheit finden. Umso wichtiger ist es allerdings, die Regeln des rationalen Diskurses einzuhalten, weil man sonst selber den Besitz der objektiven Wahrheit beansprucht, was jeglichen Diskurs vollständig verunmöglicht: Es gibt keine Kultur, wenn es keine Ehrfurcht vor gewissen Grundwahrheiten der Erkenntnis gibt. Wenn sich unser Partner in der Diskussion nicht darum kümmert, ob er bei der Wahrheit bleibt, wenn er nicht den Willen zur Wahrheit hat, ist er ein geistiger Barbar, … sind seine Gedanken in Wahrheit nur Triebe in logischer Verkleidung.

Dekontextualisierung: Bedrohung der Zivilisation

Einer der größten Fallstricke des Massenmenschen ist die Neigung zur Dekontextualisierung, die in einem engen Zusammenhang steht mit seiner Diskurs- und Rationalitätsverweigerung. Er hält sich selbst für den Maßstab, lehnt das Fremde ab und strebt nach der absoluten Herrschaft: Diese Selbstzufriedenheit führt ihn dazu, keine Autorität neben seiner eigenen anzuerkennen, auf nichts und niemanden zu hören, seine Meinung nicht in Zweifel zu ziehen und die Existenz des fremden Du zu ignorieren. Das innere Gefühl von Machtvollkommenheit reizt den homo vulgaris unausgesetzt, sein Übergewicht geltend zu machen. Er wird also handeln, als gebe es auf der Welt nur ihn selbst und seinesgleichen, und wird in alles hineinreden und ohne Rücksichten, Überlegungen, Vorbereitungen seine banalen Überzeugungen durchsetzen, gemäß einer „Taktik der starken Hand“.

Die Bejahung von Kontext ist freilich die Grundbedingung für das Entstehen von Zivilisation. Erst indem Kontext akzeptiert und wahrgenommen wird, wird Handel möglich, Wissensaustausch und Erkenntnisgewinn, Demokratie und Rechtsstaat. Kontext ist das Lebenselixier der offenen Gesellschaft. Besonders anschaulich wird das im Verhältnis des Massenmenschen zur Geschichte. Man begreift sich nicht als Teil eines evolutorischen Prozesses, als Ergebnis des Gewordenen und Motor des Werdenden. Vielmehr werden Punkte in der Vergangenheit oder Zukunft als absolutes Ideal dargestellt. Reaktionäre und revolutionäre Bewegungen haben gemeinsam, dass sie von mittelmäßigen, zeitfremden Männern ohne altes Gedächtnis und historischen Sinn geführt werden. Das Ergebnis sind Forderungen nach der Erhaltung eines völlig ahistorischen „Abendlandes“ oder nach der völlig utopischen weltweiten Gleichheit. Das Wissen um unser Eingebettet-Sein in einen geschichtlichen Kontext bewahrt uns vor Fehlern, ist essentieller Bestandteil des menschlichen Lernprozesses: Wir bedürfen der Geschichte in ihrem vollen Umfang, wenn wir ihr entfliehen und nicht in sie zurückfallen wollen.

„eine Überempfindlichkeit für Verantwortung wecken“

Ortega sieht mit großer Klarheit die Gefahren, die in der damaligen Zeit lauerten und in einem beispiellos brutalen Zeitalter europäischer Geschichte mündeten. Erschreckend, wie viele seiner Beobachtungen auch in der heutigen Zeit durchaus noch aktuell erscheinen, wenn man nach Polen oder Venezuela, nach China oder Russland oder auch vor die eigene Haustür blickt: Wer sich reaktionär und fortschrittsfeindlich gebärdet, tut es, um behaupten zu können, dass die Rettung von Staat und Volk ihm das Recht verleiht, alle anderen Gebote zu übertreten und den Mitmenschen zu zermalmen, besonders, wenn er eine Persönlichkeit von Format ist. Und dasselbe gilt für den Revolutionär. Seine scheinbare Begeisterung für den Handarbeiter und die soziale Gerechtigkeit dient ihm als Maske, um sich dahinter jeder Pflicht – wie Höflichkeit, Wahrhaftigkeit, vor allem Achtung und Bewunderung für überlegene Menschen – zu entziehen. Es können einem die Ohren klingeln, wenn man liest, wie er beobachtete: Angesichts von Europas sogenanntem Untergang und seiner Abdankung in der Weltherrschaft müssen Nationen und Natiönchen umherspringen, Faxen machen, sich auf den Kopf stellen oder sich recken und brüsten und als erwachsene Leute aufspielen, die ihr Schicksal selbst in der Hand halten. Daher die ‚Nationalismen‘, die überall wie Pilze aus der Erde schießen.

Es ist einmal wieder Zeit, für diejenigen, die Ortega als Eliten bezeichnet, die Hände aus dem Schoß zu nehmen und sich für die Auseinandersetzung zu rüsten. Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft lauten die Antworten auf Autokraten, Populisten und Demagogen. All die vielen Errungenschaften von liberaler Demokratie und Technik dürfen uns nicht zu Selbstzufriedenheit verleiten. Sie müssen behütet und wieder und wieder errungen und ausgebaut werden. Ortegas Warnung aus dem Jahr 1930 gilt auch uns: Wer sich von der Strömung eines günstigen Laufs der Ereignisse forttreiben lässt, unempfindlich gegen die Gefahr und Drohung, die noch in der heitersten Stunde lauern, versagt vor der Verantwortung, zu der er berufen ist. Heute wird es notwendig, in denen, die sie fühlen können, eine Überempfindlichkeit für Verantwortung zu wecken.

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Minister – das ist lateinisch und heißt: Diener. Und das sollten sie in erster Linie auch sein: Diener ihres Souveräns, des Volkes. Es ist hingegen vollkommen egal, ob sie ostdeutsch, weiblich, verdient oder Jens Spahn sind.

Kabinettsbesetzung: Zwischen Soap und Kindergeburtstag

Wohl über kein politisches Thema wird in Zeiten von Koalitionsverhandlungen so viel spekuliert wie über die Besetzung des Kabinetts. Es ähnelt einer Soap, die zur besten Nachmittagssendezeit das alternde Publik der öffentlich-rechtlichen bei Laune hält, wenn eine ganze Republik spekuliert: Wie geht es weiter mit den vertrauten Figuren, an deren Schicksalen und Erfolgen wir uns Nachmittag für Nachmittag ergötzen? Besonders schmerzlich ist es, wenn über die Jahre liebgewonnene Protagonisten wie etwa Thomas de Maiziere oder Sigmar Gabriel aus dem Drehbuch geschrieben werden. Dabei reicht es schon, dass man sich die Soap einfach nicht mehr ohne diese Figuren vorstellen kann, um plötzlich Sympathie für diese eigentlich flachen oder ursprünglich gänzlich unsympathischen Rollen zu empfinden.

Doch der Trennungsschmerz ist allzu schnell überwunden, wenn es um die Neubesetzung geht. Schließlich verknüpfen wir so einige Erwartungen an die Profile der Neuen. Nur beziehen sich diese beim Bundeskabinett eben seltener auf die sexuelle Ausrichtung oder die familiäre Bande zu anderen Soap-Stars. Stattdessen stehen in den Medien und am Stammtisch der repräsentative Charakter des neuen Kabinetts im Vordergrund: Wird es etwas keinen ostdeutschen Minister geben? Wie steht es um die Frauenquote? Werden genug Junge ins Kabinett geholt?

In der parteiinternen Diskussion verwandelt sich die Personaldebatte mittels Quoten- und Versorgungsdenken dann langsam in einen Kindergeburtstag. Wie zwischen Fünfjährigen, die darum streiten, wer zuerst mit einem Holzlöffel auf der Suche nach dem Topf um sich schlagen darf, werden gegenseitige Sympathie und Gruppenzugehörigkeit in die Waagschale geworfen. So müssen die Parteivorstände von Union und SPD peinlich genau darauf achten, dass alle Landesgruppen, Parteiflügel und Unterorganisationen entsprechend im neuen Kabinett vertreten sind. Dann erst kommt die persönliche Ebene: Wer kann mit wem und wer möchte seinen Parteifreund am liebsten als dritten Honorarkonsul in Wladiwostok sehen? Gibt es vielleicht noch Versprechen einzulösen oder sind da gar verdiente Alt-Ministerpräsidenten, die ihre Karriere im fernen Preußen langsam ausklingen lassen sollen? Am Ende sind sowohl die öffentliche als auch die parteiinterne Diskussion Symptom eines großen Missverständnisses, was die Rolle der Minister angeht.

Minister sollen dem Gesetzgeber dienen, nicht andersherum

Die Minister sind als Teil der Exekutive nämlich hauptsächlich für die Verwaltung und – wesentlich wichtiger – für die Umsetzung der Beschlüsse der gesetzgebenden Gewalt verantwortlich. Zwar kann die Bundesregierung Gesetze in Bundestag einbringen, deren Beschluss obliegt aber stets den Abgeordneten. Das macht die Minister, im Sinne des lateinischen ministrare, zu Dienern. Sie dienen dem Bundestag als ausführendes Organ – nicht der Bundestag den Ministern als Beschlussorgan oder Jubelperserverein. Auch wenn das in den vergangenen Jahren allzu häufig den Anschein erweckte. Damit dienen die Minister mittelbar vor allem dem Volk, dessen repräsentative Vertretung der Bundestag ist.

Anders als der Bundestag muss die Besetzung der Minister nicht repräsentativ sein. Sie müssen keine Quoten erfüllen und sie sollten auch nicht zur puren Verhandlungsmasse oder Abfindung werden. Vielmehr sollte die Bundeskanzlerin bei der anstehenden Benennung ihrer Minister Fachkompetenz und Dienstbereitschaft, altmodisch Demut, als Maßstab für die Eignung annehmen. Gleiches gilt für die sie bewertende Öffentlichkeit und die Medien. Leider lassen die vergangenen Wochen sowohl bezüglich Fachkompetenz als auch hinsichtlich der Demut nichts Gutes vermuten. Auf der eine Seite streiten sich zwei führende SPD-Politiker öffentlich, von Eitelkeit wie Anspruchsdenken getrieben –  und am Ende wohl für beide erfolglos – um ein Ministeramt. Auf der anderen Seite – glaubt man den durchgesickerten Informationen – spielen die CDU-Minister munter Bäumchen-wechsel-dich. Getreu dem Motto: ein Jurist kann sowohl Gesundheit als auch Bildung.

Der Abgeordnete sollte der eigentliche Star sein

Die „Kindergeburtstagssoap“ der Kabinettsbesetzung ist zuletzt aber vor allem auch ein Symptom eines stetig schwächer werdenden Parlaments. Während vielen Menschen selbst Verbraucherschutz, Landwirtschafts- oder Entwicklungshilfeminister bekannt sind, rangiert der eigene Wahlkreisabgeordnete häufig unter ferner liefen. Dabei soll dieser am Ende über die konkreten Projekte des jeweiligen Ministers entscheiden und ihre Ausführung kontrollieren. Ja, als wie stark kann ein Parlament überhaupt noch bezeichnet werden, wenn sich eine geschäftsführende Regierungschefin schlicht weigern kann, mit wechselnden Mehrheiten (ähnlich wie in den Vereinigten Staaten) zu regieren und dies nicht öffentlich hinterfragt wird.

Dabei hätte gerade eine solche Konstellation dem Abgeordneten endlich wieder mehr Gewicht verliehen. Man stelle sich nur vor: Woche für Woche müsste die Bundeskanzlerin gemeinsam mit ihren Ministern im Parlament erscheinen und sich für Ihre Entwürfe und Entscheidungen rechtfertigen, um eine Mehrheit zu erhalten. Eine Regierungserklärung ist dann nicht mehr zu allererst eine Show-Einlage für die Heute-Nachrichten und die Regierungskollegen in Brüssel, sondern der ernsthafte Versuch, den Vertreter des Souveräns von Politikvorschlägen zu überzeugen. Der Minister als demütiger Diener, der Wahlkreisabgeordnete als Star: Das wäre doch was!

Photo: Daniel Cheung on Unsplash

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Roboter in der Arbeitswelt werden immer populärer, was pessimistische Stimmen dazu bewegt, lauthals nach einer Robotersteuer zu rufen. Doch die krankt an zwei Problemen: Die Bemessungsgrundlage ist schwerlich zu definieren und sie würde Investitionen hemmen. Doch erst diese sichern unseren gesellschaftlichen Wohlstand.

Roboter werden die Arbeitswelt in den kommenden Jahrzehnten deutlich verändern und viele Tätigkeiten übernehmen, die heute von Menschen ausgeführt werden, etwa in der Pflege, im Transportgewerbe oder in der Rechtsberatung. Unbestritten profitiert die Menschheit, wenn Roboter weitere mühsame Tätigkeiten übernehmen. Dennoch bereitet die zunehmende Robotisierung der Arbeitswelt vielen Menschen Unbehagen. Sie fürchten wachsende Arbeitslosigkeit und Ungleichheit.

An Popularität gewinnt daher die Forderung, den Einsatz von Robotern gezielt zu besteuern – einerseits, um den Wandel auszubremsen, andererseits, um vermeintliche Verlierer zu kompensieren und Einkommensungleichheit zu mildern. Vergangene Automatisierungsschübe wurden von ähnlichen Ängsten begleitet, haben aber mittelfristig zu höheren Reallöhnen geführt und die Arbeitslosigkeit nicht erhöht. Nur wenige Menschen würden heute die Uhr zurückdrehen und auf die Vorteile des Webstuhls, der Massenproduktion oder des Computers verzichten wollen.

Auch die vierte industrielle Revolution birgt das Potenzial massiver Wohlstandsgewinne, die durch eine Robotersteuer zwar geschmälert, aber kaum umverteilt werden könnten. Damit alle Menschen an den Früchten des Wandels teilhaben, braucht es offene Märkte und viele Kapitaleigner.

Robotersteuer gewinnt an Popularität

„Wenn ein Roboter den Job eines Menschen übernimmt, sollte er auf ähnliche Weise besteuert werden wie menschliche Arbeiter“, so der wohl prominenteste Befürworter einer Robotersteuer, Bill Gates. Auch andere Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft haben sich für eine Robotersteuer ausgesprochen, darunter Steven Hawkings, Benoît Hamon, Thomas Straubhaar, Frank Appel, Robert Shiller und der österreichische Ex-Bundeskanzler Christian Kern, der in dieser Frage fast 80% seiner Landsleute hinter sich sieht.

Ihr Argument lautet wie folgt: Im Zuge der Robotisierung der Arbeitswelt steigen die Einkommen von Roboterbesitzern, während Menschen mit ersetzbaren Tätigkeiten sinkende Einkommen erfahren oder gar ihre Jobs verlieren. Das führt nicht nur zu wachsender Arbeitslosigkeit und Ungleichheit, sondern belastet auch den auf Sozialabgaben und Lohnsteuern angewiesenen Sozialstaat. Als Gegenmittel kommt eine gezielte Steuer auf den Einsatz von Robotern in Frage, deren Aufkommen Umverteilung und neue Arbeitsplätze finanzieren könnte. Außerdem wäre die Robotersteuer in der Lage, den Wandel abzubremsen und den Menschen Zeit zur Anpassung an die neue Arbeitswelt zu verschaffen.

Praktisches Problem: Was ist ein Roboter?

Was auf den ersten Blick wie eine vernünftige Reaktion auf den Wandel der Arbeitswelt klingen mag, ist bei näherem Hinsehen mit zahlreichen Problemen behaftet. So ist nicht klar, welche Teile des Kapitalstocks als Roboter der Besteuerung unterliegen sollten.

Jede Steuer braucht eine klar definierte Bemessungsgrundlage. Wenngleich wir alle ein Bild vor Augen haben, wenn wir an einen Roboter denken, fällt es nicht leicht zu definieren, welche Teile des Kapitalstocks einer Robotersteuer unterliegen sollten und welche nicht. Während herkömmliche Definitionen von technischen Apparaturen zur Übernahme mechanischer Arbeit ausgehen, schwebt den Befürwortern einer Robotersteuer eine breitere Definition vor. Sie wollen auch „Denkarbeiter“, also beispielsweise Bankangestellte oder Juristen, vor der Automatisierung schützen. Nicht nur die Abfüllanlage in der Brauerei, sondern auch der mit einer Beratungssoftware ausgestattete PC wäre demnach ein Roboter.

Doch haben nicht der Pflug oder der Container weitaus mehr Arbeitsplätze vernichtet als jeder Roboter? Ist das zentrale Kriterium tatsächlich, dass Roboter menschliche Arbeit ersetzen, so müsste eine konsistente Steuer nichtrobotische Werkzeuge ebenso einbeziehen – und würde sich somit kaum mehr von der bereits existierenden Kapitalertragsteuer unterscheiden.

Praktisches Problem: Können Roboter besteuert werden?

Selbst wenn eine konsistente Definition der zu besteuernden Roboter gelingen sollte, stellt sich die Frage, wie die Bemessungsgrundlage einer Robotersteuer ermittelt werden soll. Roboter beziehen kein Einkommen, das direkt besteuert werden könnte. Stattdessen müssten roboternutzende Unternehmen oder Roboterbesitzer besteuert werden. Vorstellbar wäre etwa eine Steuer auf jene Teile des Kapitalstocks, die als Roboter identifiziert wurden. Alternativ könnten der Gewinn oder Umsatz je nach der Roboterintensität variabel besteuert werden. Roboterbesitzer könnten im Rahmen der Einkommensteuer erhöhte Sätze für Einkünfte aus der Roboternutzung abführen.

In der Praxis laufen diese Vorschläge auf eine zusätzlich Ertragssteuer auf Roboter hinaus. Wird eine umfassende Roboterdefinition zugrunde gelegt, käme die Robotersteuer einer Erhöhung der Kapitalertragsteuer gleich, die langfristig nicht Kapitaleigner, sondern Konsumenten und Arbeitnehmern belastet. Wird eine engere Definition verwendet, müsste sich die Steuer auf ein komplexes und willkürliches Regelwerk stützen und böte so Anlass für allerlei Lobbyaktivitäten, Verteilungskämpfe und Ausweichreaktionen.

Bezeichnenderweise umschiffen die meisten Befürworter der Robotersteuer sowohl die Definitionsfrage als auch die Frage nach der konkreten Umsetzung.

Automatisierung: Eine Erfolgsgeschichte

Der Wandel der Arbeitswelt ist kein neues Phänomen. Der mechanische Webstuhl und die Dampfmaschine haben unter Zeitgenossen die Befürchtung genährt, dem Menschen ginge bald die Arbeit aus. So machte Karl Marx in seinem Kapital die vermeintliche Gesetzmäßigkeit aus, dass „[m]it der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung [produziere].“

Doch im Rückblick lässt sich feststellen, dass die industrielle Revolution nicht zu dauerhafter Arbeitslosigkeit führte, sondern viele neue Arbeitsplätze schuf. Kurzfristig möglicherweise gesunkenen Reallöhnen folgte ein beispielloses Lohnwachstum, sodass die Früchte der industriellen Revolution heute allen Menschen zu Gute kommen.

Auch jüngste Erfahrungen geben Anlass zu Optimismus: Trotz kontinuierlicher Automatisierung weisen die Arbeitslosenraten in hochtechnisierten Ländern wie den USA, Deutschland und Großbritannien über das letzte Jahrhundert keinen Aufwärtstrend auf. Maschinen haben Menschen nicht aus der Arbeitswelt verdrängt, sondern produktiver und damit reicher gemacht. Auch die Ungleichheit ist nicht explodiert. Tatsächlich bewirkt der technologische Fortschritt in Bezug auf viele Kategorien von Konsumgütern eine Angleichung der Konsumgewohnheiten.

Ist diesmal alles anders?

Historische Erfahrungen lassen vermuten, dass auch die „Automatisierungsdividende“ der vierten industriellen Revolution bei den Menschen ankommt – ganz ohne Robotersteuer. Oder gibt es Gründe für die Annahme, dass dieses Mal alles anders kommen wird?

Ein Problem könnte die Geschwindigkeit darstellen, mit der sich der Wandel vollzieht. Während die Robotisierung langfristig allen Menschen nützen dürfte, verlangt sie manchen Menschen enorme Anpassungsleistungen ab. Es ist außerdem vorstellbar, dass Menschen sich nicht beliebig qualifizieren können. Vielleicht stoßen wir irgendwann an eine Grenze, die immer weniger Menschen überspringen können. Ein solches Szenario würde nicht zwangsläufig zu Arbeitslosigkeit führen, aber möglicherweise zu dauerhaft sinkenden Reallöhnen für die Betroffenen und wachsender Einkommensungleichheit.

Aktuelle Studien deuten allerdings darauf hin, dass nur wenige der aktuell ausgeführten Jobs unmittelbar automatisiert werden können. Während Frey und Osborne schätzen, dass bis zu 47 % der US-amerikanischen Arbeitsplätze mit heutiger Technik automatisiert werden könnten, kommt eine neuere Studie der OECD auf Basis angemessenerer Analysemethoden zu durchschnittlich 9 % in den 21 untersuchten OECD-Ländern. Studien von McKinsey und dem Weltwirtschaftsforum kommen zu ähnlich moderaten Ergebnissen. Auch die vierte industrielle Revolution scheint den Menschen also viel Zeit zur Anpassung zu lassen.

Robotersteuer ist kontraproduktiv

Sollte es wider Erwarten zu wachsender Arbeitslosigkeit und Ungleichheit durch den vermehrten Einsatz von Robotern kommen, wäre die Einführung einer Robotersteuer dennoch kontraproduktiv. Als Steuer, die am Ende doch schlicht den Einsatz von Kapital bestraft, würde sie Anreize zum Investment in den Kapitalstock verringern und so langfristig zu verminderter Produktivität und geringerem Wohlstand führen. Darüber hinaus wären die Kosten vor allem durch Arbeitnehmer und Konsumenten zu tragen, in Form geringerer Löhne und höherer Preise.

Dass das Produktivitätswachstum derzeit zu gering und nicht zu hoch ausfällt, ist eine von vielen vertretene Position – zumindest lässt die staatliche Subventionierung von Forschung und Ausbildung im MINT-Bereich darauf schließen. Eine Robotersteuer würde diesen Bemühungen zuwiderlaufen. Damit alle Menschen von der Robotisierung profitieren, sind offene Märkte erforderlich, die in Konkurrenz stehende Unternehmenseigner dazu bewegen, Produktivitätsgewinne in Form von sinkenden Preisen an die Konsumenten weiterzugeben. Außerdem kann die Politik ihren Beitrag leisten, indem sie Personen mehr Möglichkeiten zum Kapitalbesitz lässt, etwa im Rahmen der Altersvorsorge.

Erstmals veröffentlicht bei IREF.

Photo: Herb Neufeld from Flickr (CC BY 2.0)

Die Politik wird immer übergriffiger. Die projektierte Große Koalition will jetzt einen Minister für Heimat stellen. Das erinnert in geradezu grotesker Weise an George Orwells Buch „1984“. In solchen Bereichen hat der Staat in einer freiheitlichen Demokratie nichts verloren!

Selbstbeglücker statt Weltbeglücker

„Ministerium für Frieden“, „Ministerium für Überfluss“, „Ministerium für Liebe“, „Ministerium für Wahrheit“ – mit diesen vier Ministerien zeichnete Orwell in seinem Roman das Bild von einem Staat, der die volle Kontrolle über das Leben der Bürger übernimmt. Mit blumigen Worten wird die eiserne Faust geschmückt, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung erdrückt. Der dystopische Staat, den Orwell schildert, ist das Gegenteil der freiheitlichen Demokratie, die wir über Jahrhunderte in der westlichen Welt entwickelt, ja erkämpft haben. In ihr ist der Bürger ein selbstverantwortliches Individuum. Und der Staat ist eine Art Dienstleister, der nur innerhalb klar definierter Grenzen tätig werden darf. Unter all den Grenzen ist die Grenze der Selbstbestimmung die kostbarste, weil sie das Grundprinzip der freiheitlichen Demokratie, des Rechtsstaates und der Marktwirtschaft ist.

Die größten Feinde dieser modernen, aufgeklärten und zutiefst emanzipatorischen Staatsform sind die (vorgeblichen und überzeugten) Weltbeglücker. Während sie die Selbstbestimmung des Menschen zwar oft im Munde führen, sind ihre Taten in der Regel angetan, sie einzuschränken und zu ersetzen durch ihre scheinbar wohlwollende Fremdbestimmung. Das Gegenkonzept zu einer freiheitlichen Ordnung stammt aus alten Zeiten, als das Überleben abhing vom Zusammenhalt innerhalb kleiner Horden. Der Anführer, der weise Mann kannte sich aus und wusste, was das Beste ist für den Stamm. Darum vertrauten sich unsere Vorfahren seiner Leitung an. Die offene Gesellschaft ist ganz anders: Dank Wissenschaft und Technik, dank Institutionen und Regeln, dank Kommunikation und Kooperation ist es uns möglich geworden, diese Anführer loszuwerden und selber Frau oder Herr über unser Leben zu werden. Wir brauchen keine Weltbeglücker mehr – wir sind Selbstbeglücker geworden!

Die freiheitliche Demokratie lebt von der Zurückhaltung der Politik

In einer freiheitlichen Demokratie hat Politik die Aufgabe, zu organisieren. Das spiegelt sich tatsächlich auch sehr anschaulich wider in den Bezeichnungen der Ministerien: Eine Verkehrsministerin kümmert sich etwa um Autobahn- und Schienennetz. Ein Außenminister ist zuständig für Beziehungen mit anderen Staaten. Selbst wenn man in vielen Fällen der Ansicht ist, dass die Ministerien (viel) zu viele Aufgaben übernehmen, ist in der Regel klar, dass sie deutlich umrissene und klar zuweisbare Aufgaben haben. Was aber soll ein Heimatministerium für eine Aufgabe haben? Wie taucht der Bereich „Heimat“ im Bundeshaushalt auf? Welche exekutiven Befugnisse verbindet man mit diesem neuen Teilbereich des Innenministeriums?

Man kann dieses neue Ministerium auch als PR-Gag abtun. Ein netter Einfall des (noch-)CSU-Vorsitzenden, um die eigene Klientel zu beglücken. Man kann es als den Versuch der neuen Regierung interpretieren, verlorene AfD-Wähler zurückzuholen. Im Grunde genommen ist es aber vor allem eines: Eine ganz und gar unzulässige Überschreitung der Kompetenzen der Politik. Politik muss sich um konkrete Aufgaben kümmern. Man kann sich dann trefflich streiten, wie weit die Überwachung gehen soll, wie groß die Umverteilung sein soll oder welche Bildungsaufgabe wie finanziert und organisiert sein soll. Aber Politik darf sich nicht um Gefühle kümmern. Und Heimat ist keine klar umrissene Aufgabe, sondern ein durch und durch subjektives Gefühl. Was der Rostocker Werftarbeiter, die Saarbrücker Restaurantbesitzerin, der Kindergärtner im Prenzlauer Berg und die IT-Spezialistin aus Coburg unter Heimat verstehen, kann selbst von einem Herrn Seehofer nicht verstanden und erst recht nicht bedient werden.

Identitätspolitik: das Grundübel unserer Zeit

Ähnlich aberwitzig wie das neue Heimatministerium wäre es, wenn die SPD ein Ministerium für soziale Gerechtigkeit eingeführt hätte oder die Grünen eines für Genderfragen. Der Begriff Heimat bezieht seine Bedeutung daraus, dass er Identität stiftet. Man begreift Arnsberg, das Sauerland, Westfalen, Deutschland oder gar Europa irgendwie als Orte, denen man sich zugehörig fühlt – wegen der besonderen Küche, wegen der Sprache, der Schulklasse, der Architektur, der Landschaft, des Schützenvereins … Und jeder wird eine andere Mischung aus Gründen haben, warum er sich dort zuhause fühlt. Diese Identität ist immer etwas ganz und gar Singuläres. Das sagt schon die eigentliche Wortbedeutung.

Das Grundübel politischer Diskussionen in unserer Zeit ist das Thema Identität. Es gibt nichts Privateres als Identität. Dass diese Frage in die Politik gezerrt wurde, hat übergriffigen Politikern Tor und Tür geöffnet. Hier beginnt der Weg zurück in die Vormoderne – oder voran in Orwellsche Dystopien. Identitätspolitik ist so schwammig, dass sie sich demokratischer Kontrolle entzieht. Und gleichzeitig so gewalttätig, dass sie Diskurse verunmöglicht. Die Entprivatisierung, die Verstaatlichung, die Nationalisierung von Identität fügt der freiheitlich-demokratischen Ordnung mittel- bis langfristig einen schweren Schaden zu. Man sollte das Heimatministerium nicht als PR-Gag belächeln. Es ist weit mehr: Es ist der Einstieg in eine Politik, die nicht mit Argumenten und Zahlen argumentiert, sondern mit Gefühlen und Geboten – mit Moral. Wohin das führen kann, lässt sich in Venezuela und Kuba genau so beobachten wie in der Türkei und Russland. Politik darf nicht den Anspruch moralischer Führerschaft erheben – weder, wenn es um den Veggie Day geht, noch, wenn es um die Heimat geht. Denn, um den berühmten bayerischen Dichter Ludwig Thoma zu zitieren, „kein Laster ist so widerwärtig wie die Tugend, die sich vor der Öffentlichkeit entblößt.“

Photo: Stiftung Haus der Geschichte (CC BY-SA 2.0)

1968. Für die einen der Beginn ihrer Zeitrechnung und das eigentliche Ende des finsteren Mittelalters. Für die anderen der Untergang des Abendlandes und der erste apokalyptische Reiter. Das halbe Jahrhundert, das seitdem verstrichen ist, könnte uns lehren, dass beide Wahrnehmungen in die Irre führen. Ein Plädoyer für eine Neubewertung.

Die Revoluzzer sind bis an die Grenzen des Grotesken gezähmt

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt beklagte kürzlich „eine linke Meinungsvorherrschaft“. Solche Klage erinnern bisweilen an den Vorwurf der politischen Antagonisten, die, wie im letzten Jahr Martin Schulz, überall den „neoliberalen Mainstream“ wittern. In der Tat, Untersuchungen zeigen, dass die meisten Politikjournalisten, die sich parteipolitisch zuordnen würden, das bei den Grünen oder der SPD tun. Die wenigsten von ihnen sind aber hartgesottene Sozialisten, sondern eher progressive Freunde des deutschen Wohlfahrtsstaates. Mit dem Bereich der Ökonomie verhält es sich vergleichbar. Unter deutschen VWLern und Finanz- und Wirtschaftspolitikern gibt es einen relativ breiten Konsens, dass fiskalische Disziplin und Zurückhaltung bei staatlichem Interventionen die bessere Lösung sind. Damit sind sie aber (leider!) noch lange nicht leidenschaftliche Jünger der Ideen von Mises, Hayek und Friedman.

Es ist ein einfacher psychologischer Trick, dass wir anderen und auch uns selbst gegenüber den Gegner gerne stärker und bedrohlicher zeichnen als er wirklich ist. Auch die 68er haben mit dem Kampf gegen den „Muff von tausend Jahren“ maßlos übertrieben. So miefig waren die Jahre der frühen Bundesrepublik keineswegs. Im Gegenzug haben aber auch ihre Gegner den Einfluss der 68er überzeichnet wie auch die von ihnen vermeintlich ausgehende Bedrohung. Rückblickend kann man sogar feststellen, dass die 68er bis an die Grenzen des Grotesken gezähmt wurden: Joschka Fischer ist jetzt ein 110-prozentiger Westler. Alice Schwarzer kann es als Tugendwächterin mit Christa Meves aufnehmen. Rainer Langhans tritt bei RTL auf, während Uschi Obermaier die US-Staatsbürgerschaft angenommen hat.

Es war keine Revolution

So gerne Anhänger und Gegner der 68er-Bewegung es auch gehabt hätten: es war keine Revolution. Eine Revolution war die Machtergreifung der Nationalsozialisten oder der Fall von Mauer und Eisernem Vorhang. Was um 1968 herum geschah, hatte jedoch keineswegs eine die gesamten Verhältnisse umstürzende Wirkung. Das politische System blieb komplett intakt, die Parteien hatten davor und danach ähnliche Ergebnisse und auch die Mehrheit der Bevölkerung änderte nicht plötzlich ihr Verhalten. Es war, wie Dobrindt durchaus zutreffend beobachtet, eine Elitenbewegung. Doch obwohl die Aktivisten keinen Umsturz in Gang gebracht haben, gehen doch durchaus signifikante Veränderungen auf sie zurück: Vergangenheitsbewältigung und Umweltschutz, sexuelle Befreiung, Säkularisierung und Friedensbewegung, um nur einige zu nennen.

Diese Veränderungen kamen aber keineswegs abrupt, sondern entwickelten und entfalteten sich über mehrere Jahrzehnte hinweg. So begannen etwa die Proteste gegen Kernkraft Anfang der 70er Jahre und erst im Jahr 2000 wurde der Ausstieg eingeleitet. Die Homosexuellen-Emanzipation nahm im Jahr 1969 richtig Fahrt auf, 1994 wurde die rechtliche Ungleichbehandlung aufgehoben, 2001 die gleichgeschlechtliche Verbindung weitestgehend der Ehe gleichgestellt. Es dauerte also etliche Jahrzehnte bis sich die Ideen dieser Elitenbewegung so weit durchgesetzt hatten, dass politische und rechtliche Maßnahmen politisch denkbar und durchsetzbar wurden. Die 68er haben keineswegs eine Revolution durchgeführt, sondern Evolutionen angestoßen.

Wertewandel geht nur, wenn die Mehrheit mitspielt

Die Proteste waren ein Rundumschlag: gegen die vermeintlichen und tatsächlichen Nazi-Eltern, gegen Bigotterie und Prüderie, gegen Marktwirtschaft, gegen US-Imperialismus, gegen Standesdünkel und Bürgerlichkeit. Manches aus jener Zeit hat sich nicht einmal ansatzweise durchgesetzt: Kommunenleben mit sexueller Promiskuität ist nicht gerade ein Schlager unter den Lebensentwürfen. Die anti-amerikanischen Tendenzen werden bei Irak-Krieg und Anti-TTIP-Demos bisweilen zum Leben erweckt, werden aber eigentlich nur am rechten und linken Rand ordentlich kultiviert. Der bürgerliche Lebensstil ist derzeit wieder groß im Kommen. Stichwort „Neo-Biedermeier“. Und schließlich sollten sich die Leute, die in ihrer Jugend „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ krakelt haben, zu den wichtigsten Wirtschaftsreformern seit Ludwig Erhard mausern.

Auf anderen Gebieten waren die Proteste durchaus erfolgreicher. Aber eben nicht von einem Tag auf den anderen, sondern in langsamen Wandlungsprozessen über Jahrzehnte hinweg. In einem evolutorischen Prozess haben sich in der Gesellschaft Werte verändert und neue Überzeugungen durchgesetzt. Man mag nicht alle diese Veränderungen begrüßen, aber sie sind eben auch nicht allein das Werk einer abgehobenen Meinungselite. Sie sind Ergebnis langfristiger gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Menschen hierzulande sind durchaus fähig, sich ihre eigene Meinung zu bilden und Entscheidungen zu treffen. Sie haben ja auch keineswegs die vollständige Agenda übernommen, sondern das, was ihnen richtig oder plausibel erschien. Die veränderten Werte sind mehrheitsfähig.

Was Mises, Hayek und die 68er verbindet

Viele Errungenschaften der 68er sind auch aus liberaler Perspektive sehr zu begrüßen. Andere mag man erheblich kritischer sehen. Wenn man diese korrigieren will, muss man in den Wettbewerb der Ideen eintreten. Da hilft kein Jammern. Da hilft nur anpacken. Überzeugungsarbeit leisten. Weniger Selbstmitleid. Mehr Ausstrahlung.

Die 68er haben eindrücklich bestätigt, was Ludwig von Mises 1927 beobachtete: „Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog.“ Und durchaus im Geist des Protestes gegen den Status Quo kann man auch lesen, was Friedrich August von Hayek 1978 formulierte, als er die Bedeutung von nicht nur technischer, sondern auch moralischer Innovation für die Evolution der Kultur hervorhob: „Wir müssen zugeben, dass die moderne Zivilisation weitgehend dadurch möglich wurde, dass man den darüber empörten Moralisten kein Gehör schenkte.“ In diesem Sinne: Weg mit dem Muff unter den Talaren – von 1000 wie von 50 Jahren!