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Photo: Mark Fahey from Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Putin, Trump, Erdogan, Orban – aber auch Merkel, Macron, Trudeau … Überall blicken die Leute auf Männer und Frauen, von denen sie sich Rettung versprechen. Dabei kamen die wirklichen Fortschritte für die Freiheit nie von den Führern, sondern stets von den Bürgern.

Die Wiederkehr der Faszination Macht

Die Faszination, die von Macht ausgeht, steckt scheinbar in unseren Genen. Durch die vielen Epochen der Geschichte hindurch erstarrten die Menschen vor Ehrfurcht, wenn die Zarin Katharina in der Kutsche an ihnen vorbeifuhr oder wenn sie auf dem Forum Romanum einen Blick auf Caesar erheischen konnten. Sie versprachen sich Weltfrieden von Gorbatschow und Befreiung von Fidel Castro. Wenn nur der richtige Mann das Ruder des Staates übernähme, dann würden Sorgen und Nöte für immer vertrieben.  Heute richten die einen ihre hoffnungsvollen Blicke auf den russischen oder amerikanischen Präsidenten, während die anderen auf den französischen Newcomer oder die „Anführerin der freien Welt“ setzen.

Sorgenfreie Zeiten wie die 1990er Jahre brachten eher Pragmatiker an die Macht. Doch mit den Verwerfungen, die sich in den letzten Jahren seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise ergeben haben, kam das Zeitalter der starken Männer zurück. Obama war einer der ersten, der auf dieser Welle reiten konnte. In China begann die Ära der Abkehr vom Pragmatismus mit dem Wechsel zum derzeitigen Präsidenten Xi Jinping. Putin wurde immer tollkühner bei seinen außenpolitischen Husarenstücken. Die Wähler Mittel- und Osteuropas suchten zunehmend ihr Heil in schillernden Charismatikern. Sebastian Kurz hat in Österreich eine traditionsreiche Partei genauso im Handstreich gekapert wie Jeremy Corbyn in Großbritannien. Und inzwischen werden sogar der Ober-Pragmatikerin Merkel messianische Wunderkräfte zugeschrieben.

Überbietungswettbewerb der Weltretter

Man könnte dieses Phänomen achselzuckend hinnehmen und einfach auf die lange Liste menschlicher Schwächen setzen. Allerdings sind die Folgen so gravierend, dass wir eigentlich alles daran setzen sollten, es zu eliminieren – in unseren Gewohnheiten wie in unseren Erzählungen. Die offensichtlichste Konsequenz ist, dass man mit dem Ruf nach dem starken Mann oder der starken Frau deren Herrschaft legitimiert. Damit bereitet man häufig nicht nur den Weg für den Ausbau von Machtstrukturen, sondern auch für deren eklatanten Missbrauch, wie man derzeit besonders anschaulich bei dem philippinischen Präsidenten Duterte beobachten kann. Manche starke Persönlichkeit ward gerufen und ersehnt, um dann mit Hilfe von Gewalt und Unterdrückung am Sessel der Macht festzukleben: Mugabe, Chavez, Erdogan …

Doch es kommen ja nicht nur Irre und Kriminelle in Amt und Würden aufgrund der Sehnsucht nach der starken Person. Kurz und Macron werden versuchen, das aus ihrer Sicht Beste zu tun für ihr Land. Und auch nur so lange, wie sie demokratisch legitimiert sind. Trotzdem sind sie ein Problem. Denn sie suggerieren durch ihr Auftreten und ihre Botschaften, dass sie in der Lage wären, grundlegende Probleme in den Griff zu bekommen. Der Blick in die Geschichte lehrt freilich, dass es ihnen niemals so gelingen wird, wie sie behaupten. Die Folge ist häufig, dass sich viele Menschen frustriert den noch simpleren Heilsbringern zuwenden, anstatt ihre Erwartungen an die Politik zurückzuschrauben. Es gibt dann eine Art Überbietungswettbewerb der Weltretter.

Macht korrumpiert auch die Untertanen

Ein weiteres Problem mit dem Konzept der starken Frauen und Männer ist, dass die Bürger immer mehr übersehen, vergessen und verdrängen, dass sie selber für die Lösung von Problemen zuständig sind. Das französische System wird sich nur reformieren, wenn sich bestimmte Mentalitäten ändern. Die USA werden erst dann „great again“, wenn sich der Unternehmergeist wieder breitmacht, der dieses Land zu seiner jetzigen Größe und Bedeutung geführt hat. Das Heil der Türkei liegt nicht in militärischer Stärke und der Unterdrückung von Minderheiten. Russlands Zukunft kann nicht auf Raketen bauen und Chinas nicht auf 4,3 Millionen Soldaten. Und Indiens Weg aus der Armut führt nicht über die Exklusion von Muslimen, sondern über gesicherte Eigentumsrechte. All die Lösungsvorschläge der Mächtigen führen dazu, dass Bürger ihre Verantwortung für das Gemeinwesen delegieren an die starken Männer. Und so korrumpiert Macht nicht nur diejenigen, die sie innehaben, sondern auch diejenigen, die sie anderen bereitwillig zugestehen. Die sich bequem zurücklehnen und ihr Schicksal in die Hand der Mächtigen legen.

Die wesentlichen Verbesserungen unseres Lebens sind nicht Ergebnis großer Taten großer Männer. Sie sind die Folge des Handelns vieler mutiger und optimistischer Individuen. Was Not tut in der Politik, sind nicht die „Retter des Abendlandes“ und „Anführerinnen der freien Welt“, sondern selbstbewusste Bürger, die sich Verantwortung weder abnehmen lassen noch sie abschieben. Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Toleranz und Demokratie sind das Ergebnis des Engagements einzelner, die diese Werte und Prinzipien in ihrem Alltag leben. Wie der geniale schottische Philosoph Adam Ferguson einmal schrieb: sie sind „Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Planens“. Und darum kann die Lösung unserer Probleme auch nicht von den Mächtigen dieser Welt kommen. Wirklich verantwortungsbewusste Politiker werden keine umfassenden Heilsversprechen machen, sondern Bedingungen schaffen und Hürden beseitigen, damit die Bürger ihre Probleme selber lösen können.

Photo: EU2017EE Estonian Presidency from Flickr (CC BY 2.0)

Angela Merkel hat das Thema Digitalisierung neu für sich entdeckt. Schon auf dem Weltwirtschaftsgipfel Anfang des Jahres in Davos sprach sie von einer „Sozialen Marktwirtschaft 4.0“, denn, so die Kanzlerin: „disruptive technische Veränderungen verändern auch unsere Gesellschaft disruptiv.“ Diesen Gedanken hat sie jetzt in ihrem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Antwort auf die EU-Vision von Emmanuel Macron nochmals unterstrichen und auf die deutsch-französische Initiative für disruptive Innovationen hingewiesen, „also solche Innovationen, die bisherige Technologien ersetzen oder verdrängen und ganz neue Geschäftsmodelle schaffen“, wie sie betont.

Freilich unterliegt die Kanzlerin einem Irrglauben. Dem Irrglauben, die französische oder deutsche Regierung, oder gar die EU-Kommission wüssten, welche künftigen Innovationen bisherige Technologien ersetzen oder verdrängen werden. Wenn man Innovation staatlich erfinden könnte, wäre die Sowjetunion nie auseinandergebrochen und die DDR wohl auch nie untergegangen. Gerade diese Systeme sind ja davon ausgegangen, dass ihr staatlich gelenktes Vorgehen besser funktioniert, als der Ideenreichtum der Vielen. Doch hier ist die Kanzlerin nicht ganz alleine. Viele Landesregierungen glauben, sie könnten Innovationen fördern und entwickeln. Die Folge sind meist teure Mitnahmeeffekte für Maßnahmen, die so oder ähnlich eh stattgefunden hätten, und im schlimmsten Fall Fördermittel-Vernichtung in Innovations-Sackgassen.

Doch viel interessanter ist eigentlich die Grundthese Merkels. Stimmt es überhaupt, dass „disruptive technische Veränderungen auch unsere Gesellschaft disruptiv verändern“? Ich meine: Nein! Neue Technologien kommen nicht über Nacht. Sie ersetzen Bestehendes nicht von heute auf morgen. Es gibt hier kein Schwarz oder Weiß. Die Blockchain wird vielfach als eine disruptive Innovation bezeichnet. Doch ist sie wirklich disruptiv? Also unterbricht sie Bisheriges und stellt es damit auf den Kopf. Nein, die Anwendung der Blockchain ist mindestens 10 Jahre alt und ist mit der Entwicklung der Kryptowährung Bitcoin populär geworden. Inzwischen gibt es zahlreiche Kryptowährungen und Anwendungsversuche, die aber das Wirtschaftsgeschehen bislang nicht disruptiv verändert haben. So ist es mit vielen Innovationen. Sie entwickeln sich nicht disruptiv, sondern evolutionär. Die Anwendungen werden erst von Wenigen genutzt.  Bewähren sie sich, dann springen weitere auf und in einem Prozess von Versuch und Irrtum entwickelt sich über einen längeren Zeitpunkt eine neue Technologie, die die alte verschwinden lässt.

Anders als es die Kanzlerin meint, gibt es jedoch tatsächlich disruptive Prozesse in einer Gesellschaft. Sie kommen allerdings nicht aus der Wirtschaft oder von den Universitäten, sondern aus der Politik. Nur sie ist disruptiv. Der Angriff der USA auf den Irak war disruptiv. Er hat den Nahen Osten in ein bis heute anhaltendes Chaos gestürzt. Die Folgen für die gesamte Welt sind fatal. Auch die Brexit-Entscheidung ist für die Bürger Großbritanniens und der EU disruptiv. Der Austritt wird zwangsläufig persönliche oder zumindest ökonomische Folgen auf beiden Seiten haben, deren Ausgang heute nicht klar ist. Auch die Entscheidung Angela Merkels, im Herbst 2015 die Migranten und Flüchtlinge an der ungarischen Außengrenze der EU nach Deutschland durchreisen zu lassen, war ein disruptives Ereignis, das Folgen für alle Menschen in Deutschland hat, ob sie es wollen oder nicht. Die jüngste Entscheidung Donald Trumps, Strafzölle auf Aluminium- und Stahlprodukte zu erheben, ist ein disruptives Ereignis. Es verändert plötzlich den Handel zwischen Menschen in den USA und der EU. Und auch die Antwort der EU darauf ist disruptiv. Wer Harley Davidson-Motorräder oder amerikanischen Whisky in der EU vertreibt, kann ein Lied davon singen. Er wird von heute auf morgen in seiner Existenz bedroht.

Lassen wir uns nicht Angst machen vor evolutorischen Veränderungen durch technischen Fortschritt. Dieser erleichtert meist unser aller Leben. Beschäftigen wir uns lieber mit der Unberechenbarkeit der Politik. Deren Macht zu bändigen, wäre aller Mühe wert, weil deren Entscheidungen, die teilweise über Nacht getroffen werden, unsere Freiheit plötzlich und unmittelbar einschränken oder sogar zerstören. Daher hilft es, die Worte des britischen Liberalen Lord Acton aus dem 19. Jahrhundert zu vergegenwärtigen: „Geschichte ist kein von unschuldigen Händen gewebtes Netz. Unter allen Ursachen, die Menschen abwerten und demoralisieren, gehört Macht zu den beständigsten und lebendigsten.“

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Dilma Rousseff from Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)

Wirtschaftliche Sanktionen gehören auf die Müllhalde der internationalen Politik. Sie zwingen nicht nur Millionen Menschen in die Armut, sondern stützen auch noch die autoritären Regime, gegen die sie gerichtet sein sollen.

Iran, Nordkorea, Venezuela, Kuba und Russland: All diese Länder haben etwas gemein. Sie werden geführt von skrupellosen Autokraten, die ihre jeweilige Bevölkerung lediglich als Spielball betrachten, und Millionen Menschen zu Armut und Unfreiheit verdammen. Der Kampf gegen solche Regime ist ein prägendes Element des 20. Jahrhunderts und wird es wohl auch im 21. Jahrhundert bleiben. Ein „Regime Change“ hin zu einer demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich organisierten offenen Gesellschaft ist unbestreitbar das Ziel der gemeinhin als „Westliche Welt“ bezeichneten Wertegemeinschaft. Und diese Transformation sollte auch das Ziel freiheitlicher Politik sein.

Die Gretchenfrage ist jedoch, wie dieses Ziel erreichet werden kann. Für einige Zeit galten Deutschland und Japan nach dem zweiten Weltkrieg als die gelungenen Vorbilder. Massive militärische Intervention gefolgt von umfassend gestütztem Wiederaufbau. Doch die Erfahrungen in anderen Teilen der Welt zeigten schnell die Grenzen militärischer Interventionen auf. Insbesondere Kuba, Haiti, Somalia und Vietnam sind traurige Paradebeispiele für dauerhaft fehlgeschlagene Interventionspolitik. Mittlerweile sind wirtschaftliche Sanktionen das Mittel der Wahl und erleben nicht zuletzt seit dem Einzug Donald Trumps ins Oval Office eine Renaissance. Zwar werden die Sanktionen häufig – und natürlich vorhersehbar – von den Unterstützern oder Sympathisanten der betroffenen Regime kritisiert, doch kaum jemand stellt die Frage, ob Sanktionen überhaupt Sinn ergeben. Ein Fehler.

Sanktionen sind Lebenselixier für autokratische Regime

Handelsströme und Zahlungsverkehr sind weltweit vernetzt. Kaum ein Land könnte heute noch autark wirtschaften und gleichzeitig den erlangten Wohlstand erhalten. Schließt man eine Volkswirtschaft vom Zugang zu den internationalen Finanz- und Gütermärkten aus, so hat das gravierende Konsequenzen für die örtliche Bevölkerung. Importgüter wie Öl oder PKW werden unbezahlbar teuer, Arbeitsplätze in den Export-Industrien gehen verloren. Gleichzeitig verlieren auch Unternehmen in den sanktionierenden Staaten Handelspartner und damit Umsätze. Einem Land, das keinen Zugang zu den internationalen Märkten hat, droht sozusagen die globalisierte Steinzeit. Diese drastischen Folgen im Hinterkopf, müssen Wirtschaftssanktionen als Instrument der internationalen Politik also sehr gut begründet sein.

Die Empirie zeigt jedoch, dass wirtschaftliche Sanktionen gegen unliebsame Regime und deren Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert zum überwiegenden Teil nicht erfolgreich waren. Einer Studie des Peter­son Insti­tute for Inter­na­tio­nal Eco­no­mics zufolge führten gerade einmal ein Drittel der durchgesetzten Embargos zu einem Regime-Wechsel im jeweiligen Land. Insbesondere bei großen Volkswirtschaften ist kaum eine positive Wirkung von Sanktionen zu erkennen. Häufig scheinen sanktionierte Regime wie jene in Havanna und Pjöngjang sogar länger zu leben als alle anderen. Und tatsächlich wirken Sanktionen häufig wie ein Lebenselixier für autokratische Regierungen. Statt deren Unterstützung erodieren zu lassen, statten Sanktionen Diktatoren mit ganz neuen Möglichkeiten aus.

So kontrollieren Autokraten und deren Oligarchen-Freunde in einem sanktionierten Land häufig den illegalen Handel mit Gütern und Waren. Sie können nach Belieben Preisaufschläge auf Schmuggelware verlangen, und dem Regime wohlgesonne Unternehmen bei der Verteilung von rationierten Gütern bevorzugen. Die Diktatoren Saddam Hussein und Slobodan Milosevic konnten auf diese Weise ungeahnte Reichtümer anhäufen und ihre Regime am Leben halten. In Russland deckt in den letzten Jahren der Oppositionelle Alexey Nawalny das dortige System auf. Dieser von außen aufgezwungene Protektionismus schadet dabei vor allem der großen Masse der Bevölkerung und den Oppositionskräften, die kaum mehr Zugriff auf Kapital und Güter haben. Die Regierungsmacht ist derweil die einzig verbliebene Institution, die Geld und Einfluss verteilen kann, und erhöht dadurch noch ihre Anziehungskraft für Unternehmen und Politiker im eigenen Land. Ganz zu Schweigen von der guten Ausrede, die Sanktionen Autokraten bieten, um das Versagen der eigenen misslungenen Wirtschaftspolitik zu begründen.

„Smart Sanctions“ gegen Individuen als Ausweg?

Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnten sogenannte „Smart Sanctions“ darstellen. Dort werden lediglich bestimmte Individuen aus dem direkten Umfeld des Regimes sanktioniert. So werden beispielsweise die Londoner und New Yorker Konten zahlreicher russischer Oligarchen eingefroren und Einreiseverbote für westliche Staaten erteilt. Auf den ersten Blick erscheint es sehr sinnvoll, auf diese Weise den Unmut der mächtigsten Unterstützer eines Regimes zu erregen. Mehr ihrem Geld verpflichtet als einem Staatslenker könnten sie selbst einen Umsturz herbeiführen.

Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil wahrscheinlich. Durch die Sanktionen werden die Eliten einer Autokratie in die Enge getrieben. Wo vorher UBS, Barclays, Deutsche Bank und die Bank of America die Finanzierung von Vorhaben ermöglichten, bleibt jetzt nur noch der Autokrat und die Staatsbank. Individualsanktionen treiben Eliten noch weiter in der Arme der regierenden Autokraten statt sie zum Umdenken anzuregen.

Autokratische Regime wie die Mafia behandeln

Das bedeutet nicht, dass sich die internationale Gemeinschaft mit autokratischen Regimen einfach so abfinden sollte. Stattdessen sollte sie sich dessen bewusstwerden, dass umfangreiche staatliche Eingriffe allzu häufig unabsehbare externe Effekte nach sich ziehen. Der Schweizer Ökonom Reiner Eichenberger schlägt stattdessen vor, autokratische Regime wie die Mafia zu behandeln. Anstatt zu versuchen, das Regime durch smart sanctions errodieren zu lassen, sollten den Eliten eines Landes Alternativen angeboten werden. Dieser Vergleich liegt nicht so fern, wie auf den ersten Blick vermutet. So stellt der italienische Sozialwissenschaftler Diego Gambetta fest, dass Mafiaorganisationen und Staaten in ihrer Aufgabe grundsätzlich ähnlich sind: sie verwalten und überwachen die Aktivitäten in einem bestimmten Gebiet.

Eine solche Alternative könnte eine Kronzeugen-Regelung sein, die Eliten, die beim Aufbau einer neuen Ordnung helfen, den Erhalt ihres Vermögens garantieren. Häufig bedarf es eben nur eines mächtigen Funktionärs (oder Mafia-Bosses), um das gesamte Gebilde zum Einsturz zu bringen. Das haben die sogenannten Maxi-Prozesse der 1980er Jahre gegen die sizilianische Cosa Nostra eindrucksvoll bewiesen. Auch wenn die positive Wirkung von Eichenbergers Vorschlag erst noch zu beweisen ist, gilt in diesem Fall: Schlimmer als mit Sanktionen gehts nimmer.

Photo: Van Gogh „Weber am Webstuhl“ (1884), gemeinfrei

In der deutschen Politik wird gerne gejammert: über Ungleichheit und Fremde und Neid. Rechts wie links wird der Eindruck erweckt, früher wäre alles besser gewesen. Das ist grundfalsch. Es ist an der Zeit für eine neue Fortschrittsbewegung.

Früher war alles besser?

Warum denken so viele Menschen in Deutschland, dass „früher alles besser war“? Der Wohlstand wächst seit Dekaden, unterbrochen nur von Episoden internationaler Krisen. Noch nie waren Güterausstattung, Lebenserwartung und Mobilität in Deutschland so gut wie heute. Es muss also darin liegen, könnte man meinen, dass all die positiven Informationen schlicht nicht durchdringen. Doch des Pudels Kern ist: so richtig sie sind, selbst wenn die Argumente durchdringen, erzeugen sind doch allenthalben Abwehrverhalten. Stichworte: Lügenpresse, Elitendenken, Fake News. Was sind die Ursachen der allgegenwärtigen Vergangenheitsverherrlichung?

Dauerndes Gejammer über Ungleichheit und das Fremde

Im Grunde bestimmen insbesondere zwei Themen das Lamento über die aktuelle Situation in Deutschland. Von linker Seite wird das Gefühl propagiert, weite Teil der Gesellschaft würden „abgehängt“, während sich die Champagner-Elite auf Kosten der ehrlichen Leute eine Yacht nach der anderen kaufe. Die rechte Seite des politischen Spektrums, traditionell häufig ein wenig wirtschaftsfreundlicher, hat ein anderes Feindbild: Das Fremde. Hier sind es nicht die Reichen, sondern Flüchtlinge und ausländische Konzerne, die dem ehrlichen Deutschen Arbeit, Wohlstand und vor allem die Leitkultur stehlen.

Klar ist: weder wird Deutschland zu einem kultur- und rechtslosen Raum, weil es eine ohne Frage große organisatorische Leistung vollbringt und natürlich auch gewisse Risiken eingeht, indem es über eine Million hilfesuchende Menschen aufnimmt. Klar ist auch, dass von Wirtschaftswachstum und marktwirtschaftlichen Regeln alle Teile der Gesellschaft profitieren. Gerade auch die Ärmsten. Trotz der unterschiedlichen Feindbilder, sind Motivation und vor allem Lösungsansätze beider Seiten des Spektrums eng verwandt.

Fantasieprobleme führen zu echter sozialer Spaltung und Empörungspolitik

Die Motivation ist der Neid. Dabei ist es vollkommen unerheblich, ob Björn Höcke und Katja Kipping diese Missgunst auch selber empfinden, oder ob sie sie nur schüren, um im politischen Wettbewerb besser gehört zu werden. Am Ende steht die soziale Spaltung als Ergebnis einer Solidarisierung mit der gefühlt moralisch haushoch überlegenen Gruppe, die den vom Staat bevorzugten Eliten oder Migranten geradezu hilflos ausgeliefert sei. Doch nicht durch das Gefühl der moralischen Erhabenheit macht diese Strömungen so attraktiv, es sind die einfachen Lösungen. Es sind Lösungen wie „Reiche besteuern!“ oder „Kriminelle Ausländer abschieben!“.

Doch einfache Lösungen sind häufig zu kurz gedacht. Sie befriedigen einen Impuls der aufgestachelten Massen und verkennen dabei die langfristigen und fast immer negativen externen Effekte. Der französische Ökonom Frédéric Bastiat (1801-1850) sah genau darin das Problem einfacher Lösungen:

Dies ist der ganze Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Ökonomen: Der eine klebt an der sichtbaren Wirkung, der andere berücksichtigt sowohl die Wirkung, die man sieht, als auch diejenige, die man vorhersehen muss. Aber dieser Unterschied ist enorm, denn es ist fast immer so, dass die unmittelbare Folge günstig ist und die letztendlichen Folgen unheilvoll und umgekehrt.

Am Ende führen die Fantasie-Probleme nicht nur zu echter sozialer Spaltung, sondern im schlimmsten Fall zur Umsetzung verheerender Politik: Aus Neid wird Abschottung, aus Missgunst Fortschrittsfeindlichkeit.

Der Fortschritt sollte wieder zur gesellschaftlichen Strömung werden

Was kann die adäquate Antwort der Verfechter einer offenen Gesellschaft auf die Neid-Politik von rechts und links sein? Gesellschaftliche Strömungen entstehen dadurch, dass sie immer und immer wieder aufgegriffen werden. Mit vereinzelten Hinweisen auf Fakten wie den steigenden Wohlstand wird nur Abwehrverhalten erzeugt. Stattdessen wäre es an der Zeit, den Glaube an den Fortschritt wieder zu einer gesellschaftlichen Strömung zu erheben. Ahnlich wie in der Zeit der industriellen Revolution, die große Teile der Bevölkerung aus Subsistenzwirtschaft und Armut befreite. Gründe dafür gibt es genug:

In den letzten 200 Jahren hat die Weltbevölkerung eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchsen Bevölkerung und Lebensstandard kaum. Eine hohe Kindersterblichkeit, Hunger und eine geringe Lebenserwartung waren der Alltag der Menschen. Seit 1800 hat sich der Lebensstandard der Weltbevölkerung verfünfundvierzigfacht, bei gleichzeitig stetig wachsender Weltbevölkerung.

 

Charles I. Jones: “The Facts about Economic Growth” (2015) NBER Working Paper Series

Dieses Fortschritts-Wunder fußt auf genau dem, was ein wirrer Thüringer Ex-Geschichtslehrer und eine Stalinistin mit nationalen Vorlieben am liebsten beseitigen wollen: auf einer marktwirtschaftlich organisierten, offenen und pluralen Gesellschaft. Halten wir an diesen Institutionen fest, gibt es keinen Grund, warum das Fortschritts-Wunder nicht anhalten sollte. Dem Club of Rome zum Trotz: Ein Ende der absoluten Armut ist absehbar und wir müssen uns vor immer weniger Krankheiten fürchten.

Am Ende geht es aber auch darum, Alternativen anzubieten zum spalterischen Gejammer von rechts und links. Die Besinnung auf den Fortschritt, auf die eigene und die gesellschaftliche Entwicklung, ist dann hoffentlich sogar ein wirksames Mittel gegen den lodernden Populismus in der deutschen Politik.  Statt wehmütig in eine verklärte Vergangenheit zurückzublicken, sollten wir also die Zukunft in den Fokus nehmen, mit all ihren Herausforderungen. Keine neue Erkenntnis, sagte doch schon Seneca: „Es ist schon ein großer Fortschritt, den Willen zum Fortschritt zu haben.“

 

Photo: European People’s Party from Flickr (CC BY 2.0)

Juncker ermöglicht seinem Intimus und Protegé eine Blitzkarriere in der Kommission. Die Deutsche Bank schüttet für 17.000 ihrer 98.000 Mitarbeiter Boni in Höhe von 1,3 Milliarden Euro aus. Der scheidende VW-Vorstand Matthias Müller erhält 2.900 Euro Rente – täglich. Wenn Angehörige der Elite so eklatant gegen das allgemeine Anstandsverständnis verstoßen, muss man sich nicht wundern über Ressentiments.

Sonntagstun statt Sonntagsreden

Manches war tatsächlich früher besser. Man kann auch ohne eine zu große Portion Kulturpessimismus festhalten, dass es früher einen klareren Ehrenkodex gab. Gerade Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft sahen sich nicht nur als gutbezahlte Alphatierchen, sondern auch als Vorbilder. Das macht sie nicht zu besseren Menschen. Aber es hält die schlechten Neigungen und Gewohnheiten, die wir alle haben, etwas besser in Schach. Von rechter Seite wird der mangelnde Anstand dem Verfall der Sitten zugeschrieben; von linker Seite dem Egoismus, den das kapitalistische System in Menschen erzeugt. Was auch immer die Ursache sein mag – das Gegenmittel liegt auf der Hand.

Als in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, war es riskant, sich in Opposition zum Regime zu begeben – insbesondere, wenn man etwa in herausragender Stelle in einem Konzern tätig ist. Im damaligen Vorstand der Deutschen Bank gab es einige, von den Machthabern ohnehin schon misstrauisch beäugte, bekennende Katholiken. Radikaler Widerstand kam für diese Menschen aus vielen Gründen nicht in Frage. Aber es war eine Selbstverständlichkeit für sie, sich nach dem sonntäglichen Kirchbesuch noch ausführlich vor der Kirche zu unterhalten, damit möglichst viele Leute sehen, wo sie gerade den Vormittag verbracht hatten. Werte und Haltungen waren für sie nicht so sehr eine Frage der Sonntagsreden als vielmehr des Sonntagstuns.

Herrhausen: „Handlung muss durch Haltung begründet sein“

Etwa fünfzig Jahre später ermordete die barbarische RAF den damaligen Vorstandssprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen. Wie kaum ein anderer „Wirtschaftskapitän“ nach ihm verkörperte er das alte Ideal des Verantwortungsträgers: gebildet und interessiert, mit einem gerüttelten Maß an Querdenkertum ausgestattet und im Bewusstsein seiner Rolle für das Ganze, nicht nur des Landes, sondern der Welt. Er formulierte auf der Hauptversammlung im Jahr 1989 einen Anspruch, den man heutigen Bänkern jeden Morgen zurufen sollte: „Die Deutsche Bank kann sich nicht allein darauf beschränken oder konzentrieren, gute Geschäfte zu machen. Sie muss, weil sie eine bestimmte Größe hat, eine bestimmte Autorität, eine bestimmte Position hier und draußen in der Welt, gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Wir müssen eine Art von ethischer Verpflichtung akzeptieren. Handlung muss durch Haltung begründet sein.“ – Das Gegenmittel zu mangelndem Anstand ist in der Tat die Rückbesinnung auf derlei Werte und Haltungen.

Politiker und Journalisten reagieren beklagenswerterweise auf das Problem freilich nur sehr selten mit Apellen an Werte und Haltungen. In der Regel wird sofort nach Regulierungen und Verboten gerufen. Und das ist wohl eine der bittersten Folgen des Anstandsmangels von Leuten wie Juncker und Jain, von Firmen- und Gewerkschaftsbossen bei Mannesmann, Ergo und VW: sie geben denen Futter, die sich für staatlich verordnete Moral stark machen. Die Analyse ist leider richtig: Hier versagen Selbstkontrolle und Verantwortungsgefühl zum Teil vollkommen. Die vorgeschlagene Lösung hingegen ist fatal.

Anstand darf nicht zur Staatsaufgabe werden

Kein noch so ausgeklügeltes Gesetz, keine noch so durchdachte Rechenschaftspflicht, kein noch so hartes Verbot wird menschliches Verhalten ändern. Anstand lässt sich nicht verordnen, sondern nur lernen, üben und durchhalten. Ganz im Gegenteil: der Versuch, Menschen durch staatliche Interventionen zu anständigem Verhalten zu erziehen, hat in der langfristigen Konsequenz oft den gegenteiligen Effekt. Denn es findet in gewisser Weise ein Outsourcing statt: Wertevermittlung wird nicht mehr als Aufgabe von Eltern und Lehrern, Freundinnen und Partnern wahrgenommen, sondern als Aufgabe staatliche Institutionen und Gesetze. Vielleicht ist die Ursache für den Mangel an Anstand ja nicht der von rechts beklagte Verfall oder der von links beschriene Neoliberalismus, sondern vielmehr die Verschiebung der Herausforderungen, die eigentlich in der persönlichen Verantwortung jedes einzelnen liegen sollten, auf den Staat?

Friedrich August von Hayek hat in seinem sehr lesenswerten Essay „Das moralische Element in der Unternehmerwirtschaft“ von 1962 betont, dass wir verstehen müssen „warum es höchst wichtig ist, dass eine freie Gesellschaft auf starken moralischen Überzeugungen beruht, und warum wir, wenn wir Freiheit und Moral erhalten wollen, alles in unserer Macht Stehende tun sollten, um die entsprechenden moralischen Überzeugungen zu verbreiten.“ Anstand – oder Moral, wie es Hayek hier nennt, – ist nicht ein Luxusgut, das man Gewinn oder Effizienz, ökonomischen oder politischen Zielen opfern kann. Und Anstand ist auch nicht etwas, das man stattlich verordnen kann. Anstand ist eine Haltung, die für ein gedeihliches Miteinander in Freiheit unerlässlich ist und kann nur freiwillig durch Überzeugung angenommen werden. Wenn wir diese Aufgabe nicht wieder stärker selber in die Hand nehmen, steht es schlecht um die Zukunft der freien Gesellschaft.