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Am Dienstag hat sich ein neuer Kandidat für die US-Präsidentschaft aus der Deckung gewagt, der so gar nicht in bekannte Schemata der US-Politik passt: Rand Paul, Senator aus Kentucky. Ohne Pause redete der Republikaner im März 2013 dreizehn Stunden lang vor dem US-Senat, weil er dem Präsidenten nicht das Recht zugestehen wollte, gegen eigene Bürger mit Drohnen vorzugehen. Sein Ritterschlag war ein ganzseitiges Portrait in der „New York Times“ Ende Januar 2014. Für den Durchschnittsleser der bekanntesten Zeitung in den Staaten war der Artikel ein Verriss, für viele Insider jedoch der Hinweis: da streckt einer den Kopf heraus und strebt vielleicht sogar nach dem höchsten Amt im Staate.

Es ist noch unklar, wer das Rennen im republikanischen Lager machen wird. Aktuell hat sich bislang nur noch der texanische Senator Ted Cruz aus der Deckung gewagt. Doch auch Präsidenten-Sohn und -Bruder Jeb Bush werden Ambitionen nachgesagt. Als Filius des Bush-Clans wird er dabei zweifelsohne vom Establishment der Grand Old Party unterstützt.

Nach acht Jahren Regentschaft eines Präsidenten der Demokraten ist die Entscheidung, wer das Rennen bei den Republikanern machen wird, und damit sehr wahrscheinlich gegen Hillary Clinton antritt, von großer strategischer Bedeutung. Welcher Kandidat kann nicht nur in den konservativen Staaten des Südens punkten, sondern auch in den Neuenglandstaaten der Ostküste? Wer kann vielleicht sogar bei Migranten und jungen Menschen gegen die dort herrschende Vormacht der Demokraten bestehen?

Im Zwei-Parteien-System der USA sind die Spannbreiten innerhalb einer Partei zwangsläufig groß. Rand Paul gehört zum liberalen Flügel seiner Partei. Die Liberalen werden in Amerika als Libertäre bezeichnet. Denn noch stärker als in weiten Teilen Europas ist die Verortung der so genannten Liberalen dort noch beliebiger, noch sozialdemokratischer und noch staatsgläubiger. Der Name Paul steht seit vielen Jahren für diese libertäre Erneuerungsbewegung in den USA.

In Deutschland wird diese Graswurzelbewegung vielfach missverstanden und vielleicht auch bewusst missinterpretiert. Alles was nicht links ist, ist zwangsläufig rechts. Dass es auch noch eine dritte politische Grundlinie gibt, die klassisch-liberale bzw. die libertäre, wird in Deutschland übergangen. Sie passt nicht in das linke Weltbild vieler Journalisten. Militärische Zurückhaltung, die Begrenzung der Amtszeit von Abgeordneten, der Datenschutz und die Förderung der Zivilgesellschaft sind wahrlich keine Themen der politischen Rechten. Und seine Vorschläge zur Überwindung der Lesefaulheit von Gesetzentwürfen bei den Abgeordneten, wären durchaus auch im Bundestag sinnvoll – man denke nur an die Übernachtentscheidungen bei der Energiewende oder bei dem einen oder anderen „Euro-Rettungspaket“, das jedes Mal alternativlos war. In seinem „Read the Bills Act“ schlägt Paul vor, dass der Kongress pro 20 Seiten Gesetzestext einen Tag Lesezeit eingeräumt wird. „Niemand, und ich meine niemand, ist es möglich zu lesen, was im Gesetz steht“, so sein Vorwurf über die kurzen Beratungszeiten.

Wie immer sind solche Graswurzelbewegungen vielschichtig. Was sie jedoch vereint, ist das tiefe Misstrauen gegenüber staatlicher Allmacht. Rand Paul steht dabei in der Tradition seines Vaters Ron Paul, der viele Jahre als republikanischer Kongressabgeordneter und zweimaliger Präsidentschaftskandidat insbesondere bei jungen Menschen viele Anhänger hatte. Mit seiner Forderung „End the Fed“ startete er eine weltweite Bewegung gegen die Politik der Zentralbanken. Unter Journalisten wurde er spöttisch und anerkennend zugleich als „Dr. No“ bezeichnet, da er im Kongress meist gegen den Präsidenten der eigenen Partei gestimmt hat. Rand Paul wird mehr taktisches Gespür nachgesagt. Er will anschlussfähig bleiben. Auch deshalb stimmt er nicht immer gegen seine eigene Partei. Er will aber ebenso wie sein Vater nicht im republikanischen Lager eingebunkert sein, sondern Freiheitsfreunde in allen Gesellschaftsschichten begeistern.

In Amerika wächst seit Jahren eine breite Bewegung insbesondere junger Menschen heran, die sich als libertär verstehen, die vom Staat in Ruhe gelassen werden wollen und die herkömmlichen Antworten der Politiker oder der Professoren an den Hochschulen hinterfragen und auf die klassisch-liberalen Denker wie Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek oder Murray Rothbard zurückkommen. Eine dieser weltweiten, aus Amerika kommenden Bewegungen ist die Studentenorganisation „Students for Liberty“, die an diesem Wochenende ihre Europakonferenz an der Humboldt-Universität in Berlin abhält. Die „European Students for Liberty“ erwarten, dass sich über 800 junge Menschen aus allen Teilen Europas auf den Weg nach Berlin machen. Viele davon haben eigene Hochschulgruppen gegründet, kümmern sich aber nicht um das Sektierertum in den Studentenparlamenten, sondern organisieren Konferenzen oder Lesekreise und vernetzen sich weltweit.

Die Kandidatur Rand Pauls wird dieser Bewegung, über Amerika hinaus, weiter Auftrieb geben. Die wachsende Zahl von Unterstützern und deren Engagement im Wahlkampf werden dies zeigen. Vielen Präsidentschaftskandidaten geht irgendwann die Puste aus, weil ihnen das Geld für Werbespots und Kampagnen fehlt. Das Problem wird Rand Paul nicht haben, dafür ist die Zahl seiner Anhänger zu groß. Doch es geht nicht so sehr um die Person Rand Paul, sondern um die Ideen dahinter.

Es ist die Freiheitsidee, die Friedrich August von Hayek in seiner Verfassung der Freiheit so treffend formulierte: „Es war früher der Stolz des freien Mannes, dass er, solange er sich innerhalb der Grenzen des bekannten Rechts hielt, um niemandes Erlaubnis zu bitten und niemandes Befehl zu gehorchen brauchte. Es ist zu bezweifeln, ob einer von uns das heute von sich behaupten kann.“

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick am 10.3.2015.

[vc_row][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]Am 9. April konnten wir mit einer kleinen Feier die Eröffnung unseres Büros in Berlin-Mitte begehen. Bis in den Hausflur standen die zahlreichen Besucher aus Nah und Fern. Zu unseren Gästen zählten zahlreiche Vertreter unserer befreundeten Denkfabriken im In- und Ausland, wie dem Institute of Economic Affairs, dem Adam Smith Institute und dem Liberalen Institut Zürich. Wir konnten den Bundestagsabgeordneten Klaus-Peter Willsch begrüßen, die oppositionelle russische Abgeordnete Vera Kichanova von der „Libertarian Party of Russia“, eine Reihe von Wissenschaftlern und Medienvertretern und vor allem auch viele der jungen Menschen, auf die wir besondere Hoffnung setzen.

Mit kurzen Ansprachen haben uns Dr. Tom G. Palmer von unserem Partner „Atlas Network“ und Prof. Stefan Kooths inspiriert und erfreut. Tom Palmer erinnerte an das Vermächtnis von Antony Fisher, eine der wegweisenden und prägenden Gestalten in der Geschichte der  freiheitlichen Denkfabriken. Prof. Stefan Kooths gab zu Bedenken, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist: noch vor etwas mehr als 25 Jahren stand das Haus, in dem heute unser Büro ist, in einem Unterdrückungsstaat. Er gab Prometheus den Auftrag mit auf den Weg, dazu beizutragen, dass es nie wieder dazu kommen wird. Diesen Auftrag nehmen wir gerne an!

 

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Im Rahmen des von FAS-Redakteur Dr. Rainer Hank betreuten Blogprojekts „What’s left? Muss links sein, wer für eine gerechte und soziale Welt eintritt?“ hat Clemens Schneider einen Beitrag veröffentlicht unter dem Titel „Was Attac mit dem Manchesterliberalismus verbindet„. Ausgehend von der Lebensgeschichte des bedeutenden Manchesterliberalen Richard Cobden verdeutlicht Schneider, dass Linke keinen Alleinvertretungsanspruch auf Weltverbesserung haben. Lange Zeit war der Idealismus eine liberale Domäne. Ob nun mit Cobden, dem Armenbefreier und Pazifisten, oder mit William Wilberforce, der die Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien durchsetzte.

Auch aufgrund seiner enormen Erfolgsgeschichte im Laufe des 19. Jahrhunderts hat der Liberalismus sich in gewisser Weise zu Tode gesiegt. Schneider beobachtet eine „Verspießbürgerlichung des Liberalismus“, das Einziehen eines „langweiligen Pragmatismus“. Damit hat die Sache der Freiheit ihre Anziehungskraft auf Idealisten und Weltverbesserer verloren, die scharenweise ins linke Lager abgewandert sind. Dieses Phänomen hat schon Friedrich August von Hayek in seinem Aufsatz „Die Intellektuellen und der Sozialismus“ anschaulich dargestellt.

Indem sich Liberale nur noch auf das „Machbare“ und „Durchsetzbare“ beschränkt haben, haben sie ihr Wesensmerkmal verraten, das Schneider beschreibt mit den Worten: „Freiheit fordert die Bereitschaft, die Kontrolle aufzugeben.“ Die Pragmatiker wollen aber genau diese Kontrolle nicht aufgeben. Sie fürchten sich vor der Offenen Gesellschaft. Er fordert die Liberalen auf, die Welt endlich wieder verbessern zu wollen: „Liberale dürfen keine Angst haben vor dem Träumen.“

Lesen Sie den ganzen Beitrag auf FAZ.net …

Lesen Sie zum gleichen Thema auch den Artikel „Prometheus: Eine Sprache für die Freiheit finden“ …

Photo: Live Zakynthos from Flickr

Schon der Philosoph Johann Gottlieb Fichte wusste: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was für ein Mensch man ist.“ Wer immer nach dem Staat ruft, wenn es darum geht, für Menschen in Not zu sorgen, hat offensichtlich ein negatives und von Misstrauen geprägtes Menschenbild. Freunde der Freiheit misstrauen dem Menschen bisweilen zwar auch, aber vor allem, dann wenn man ihm Macht gibt – und das geschieht, wenn man nach dem Staat ruft.

Helfen, Teilen, Trösten, Bestätigen, Schenken

Wir leben in einem Land, in dem sich deutlich mehr als ein Viertel der Bürger ehrenamtlich engagiert – eine Untersuchung aus dem Jahr 2011 geht von 36 % aus. Beinahe 5 Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr in Deutschland gespendet, der allergrößte Teil davon für soziale Zwecke. Und in diesen Statistiken sind nur alle offiziellen Ehrenämter und Spenden erfasst. Darüber hinaus gibt es noch unzählige Menschen, die sich in ihrer Nachbarschaft, ihrem Freundeskreis oder ihrer Familie mit Zeit und Geld einbringen, um anderen zu helfen, ohne dass das irgendwo erfasst würde. All diese Menschen setzen sich ein, ohne dass sie jemand dazu gezwungen hätte. Sie setzen sich ein, weil sie einem inneren Bedürfnis folgen. Weil sie anderen Menschen helfen wollen.

Menschen haben eine stark ausgeprägte Empathiefähigkeit. Man kann natürlich trefflich darüber diskutieren, ob diese Fähigkeit nur ein schlauer Trick der Evolution ist oder ob es tatsächlich so etwas wie ein moralisches Empfinden gibt. Fakt ist aber, dass wir diese Empathiefähigkeit Tag für Tag einsetzen. Die wenigsten Menschen starren böse zurück, wenn ein Kind sie anlächelt. Die wenigsten bleiben kalt und teilnahmslos, wenn sie mit der Not und dem Leid anderer Menschen konfrontiert werden. Helfen, Teilen, Trösten, Bestätigen, Schenken – das tun unzählige Menschen ganz offensichtlich jeden Tag überall auf der Welt. Aus sich selbst heraus.

Eine Welt voller Egoisten?

Natürlich und offensichtlich ist die Welt nicht von lauter Heiligen bevölkert. Es gibt Kriegsverbrecher und Kindermörder, Erbschleicher und Taschendiebe. Und es gibt Menschen, die an dem Missgeschick, der weniger vorteilhaften Lage ihrer Nachbarn vorbeisehen. Wer sich nach sozialer Gerechtigkeit sehnt oder einfach nur seinem Empathie-Impuls folgt, kann da schon mal in Rage geraten, wenn er das alles sieht. Die Welt erscheint dann plötzlich voller Egoisten, die nur den eigenen Vorteil im Blick haben und ihm alles andere unterordnen. Das Bedürfnis, etwas dagegen tun wächst, je länger man mit dieser Brille durch die Welt läuft.

Doch ist diese Brille richtig eingestellt, um die Realität abzubilden? Sind Menschen wirklich grundsätzlich nur oder zumindest vor allem an ihrem eigenen Wohl interessiert? Dem eigenen Wohl, das sich dann zudem natürlich nicht dadurch verbessert, dass sie anderen helfen? Und die vielleicht interessanteste Frage: Warum sollen andere Menschen so egoistisch sein, nicht aber diejenigen, die das Phänomen zu beobachten meinen und etwas dagegen tun wollen? Ist es nicht etwas überheblich, so zu denken? Wer meint, dass man Solidarität über Zwang und Umverteilung regeln müsse, geht letztlich davon aus, dass er mit seiner Überzeugung besser ist als die Mehrheit der Menschen, die man erst dazu zwingen muss, anderen zu helfen.

Wer danken kann, kann etwas zurückgeben

Gehen wir doch einmal von dem Fall aus, dass Menschen das Schicksal anderer nicht egal ist. Die Zahlen der Ehrenamtlichen und die Spendensumme in unserem Land sprechen eigentlich schon eine deutliche Sprache. Auch die anekdotische Evidenz ist deutlich. Wie viele Menschen kennen Sie in Ihrem Umfeld, denen sie pauschal attestieren würden, dass sie blanke Egoisten sind? Diejenigen, die skeptisch gegenüber dem Ruf nach mehr Umverteilung sind, haben oft ein positiveres Menschenbild als die Umverteiler. Sie glauben nicht, dass man Menschen dazu zwingen muss, für das Wohl ihres Nächsten zu sorgen. Sie glauben, dass Menschen das ganz oft aus sich heraus tun.

Ein häufiges Argument für Umverteilung lautet, es sei erniedrigend für Menschen, von der Mildtätigkeit anderer abhängig zu sein. Darum müssten sie ein Recht auf einen bestimmten Lebensstandard haben. Auch dieses Argument passt nicht unbedingt in unsere alltägliche Erfahrung. Wir beziehen unseren Selbstwert wesentlich aus menschlichen Beziehungen: aus der Anerkennung durch unsere Eltern, durch die Geschenke unserer Partner, durch den freundlichen Gruß unserer Nachbarn. Anonymität vermag uns diesen Selbstwert nicht zu vermitteln. Und ein Recht auf etwas ist etwas Anonymes, losgelöst von menschlichen Beziehungen. Es ist wertvoller, etwas aus der warmen Hand des Schenkenden zu empfangen als aus der kalten Hand einer Behörde. Einem Menschen kann man danken und somit etwas zurückgeben. Von einer Behörde ist man gerade deshalb viel stärker abhängig, weil man nichts zurückgeben kann. Statt für immer mehr Umverteilung zu plädieren, sollte man wieder deutlicher machen, in welchem Ausmaß Menschen einander beistehen und helfen, damit noch viel mehr diesem Beispiel folgen. Geben wir Menschen die Möglichkeit, Gutes zu tun – und die Möglichkeit, Danke zu sagen!

Photo: grazergruene from Flickr

Von Kalle Kappner, ehemaliger Mitarbeiter von Frank Schäffler im Bundestag, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin und Research Fellow bei IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Die Debatte um Einwanderung, Integration und Flüchtlingspolitik wird von fortschrittspessimistischen Schwarzmalern einerseits und faktenresistenten Romantikern andererseits dominiert. Einig sind sich beide darin, Migration primär anhand ihrer Nützlichkeit für den Staat und die Sozialsysteme zu bewerten. Liberale Einwanderungspolitik dagegen baut auf der Überzeugung auf, dass das Ideal der Offenen Gesellschaft nicht an der Staatsgrenze endet.

In einer Publikationsreihe der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist kürzlich der Sammelband „Offene Grenzen? Chancen und Herausforderungen der Migration” erschienen, herausgegeben von Annette Siemes, Referentin am Liberalen Institut, und Clemens Schneider, mit einem Vorwort von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Der Band lässt sich auf den Seiten der Naumann-Stiftung kostenfrei herunterladen oder bestellen!

Migration und Mehrheitsgesellschaft: Das Spannungsfeld von Selbstschutz und Offenheit

Sabine Beppler-Spahl fragt, weshalb so viele Menschen in den Industriestaaten der Einwanderung gegenüber skeptisch bleiben, obwohl die wirtschaftlich positiven Folgen der Immigration in der Wissenschaft kaum umstritten sind. Es ist die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und der eigenen Werte, die Einwanderungskritiker wie Thilo Sarrazin (“Deutschland schafft sich ab”) oder den britischen Politiker Nigel Farage (“I’d rather be poorer with fewer immigrants.”) so populär macht. Einwanderung bringt Neues, Anstrengendes mit sich und führt nicht selten dazu, dass längst gelöst geglaubte Grundsatzfragen wieder neu diskutiert werden, wie die Debatten um ein mögliches Burka-Verbot zeigen.

Am Beispiel der USA zeigt die Autorin auf, dass Einwanderung nicht mit dem Verlust alter Identitäten einhergehen muss, sondern – im Gegenteil – das Leben und Selbstverständnis der Einheimischen sogar bereichern kann. Doch was unterscheidet die historischen USA vom heutigen Deutschland (und auch von den heutigen Vereinigten Staaten)? Integration sei nicht als Staatsaufgabe angesehen worden, Migration geschah nicht vordringlich unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit und die selbstsichere amerikanische Kultur – der American “Way of Life” – wirkte auf die Immigranten ungeheuer anziehend. Doch heute werde der Umbau Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft als technokratisches Elitenprojekt wahrgenommen, vorbei am Bürger und dessen Wünschen.

Es sei wichtig, zu diesem Schluss kommt die Autorin, dass die Einwanderungspolitik demokratisiert und die Interessen der Abgehängten wieder ernst genommen werden: “Darf eine Bevölkerung also entscheiden, die Grenzen des eigenen Landes zu schließen? Ja, das darf sie.” Aber damit sie es nicht tut, müssen die Befürworter einer Welt offener Grenzen ihre guten Argumente stärker in die Debatte einbringen. Es ist ein Fehler, sich nur auf die wirtschaftlichen Vorzüge verstärkter Einwanderung zu konzentrieren. Stattdessen muss der Einwanderer selbst in den Mittelpunkt der Debatte rücken, denn in letzter Konsequenz geht um persönliche Freiheit: “Menschen dort festzuhalten, wo sie durch Zufall geboren wurden, erinnert an die feudalen Fesseln des Mittelalters, das persönliche Mobilität kaum ermöglichte.”

Offene Grenzen und institutioneller Wandel

Kalle Kappner schildert die Rolle, die offene Grenzen als menschenrechtspolitisches Instrument einnehmen können. Den westlichen Staaten sei daran gelegen, ihr Modell der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Offenen Gesellschaft zu verbreiten und vormoderne Gesellschafts- und Staatsformen die Unterstützung zu entziehen. Doch die Rolle, die freie Migration bei der Beseitigung von Diktaturen und Unrechtsstaaten einnehmen könne, werde stark unterschätzt. Dabei habe sich die Abwanderung (oder deren Androhung) als Druckinstrument unterdrückter Bevölkerungsschichten historisch bewährt und sei auch aktuell in vielen Fällen viel wirkungsvoller als der Versuch, der herrschenden Elite demokratische Mitbestimmungsrechte abzuringen.

Staaten mit extraktiven Institutionen, in denen eine politische Elite die persönliche Bereicherung als oberstes Staatsziel ansieht, seien zum Wandel gezwungen, wenn ihrer Bevölkerung die Möglichkeit zur Abwanderung geboten werde: “Um ihre Privilegien zumindest teilweise zu retten, müssen sie die Institutionen inklusiver gestalten, sodass die Abwanderung für ihre Untertanen relativ weniger lohnenswert erscheint.” Individuelle internationale Mobilität könne so einen gesunden Systemwettbewerb in Gang bringen; Schon die Androhung der Emigration könne in vormodernen Gesellschaften einen Wandel vorantreiben.

Doch die geschlossenen Grenzen der westlichen Staaten mit ihren attraktiven Staatsmodellen nehmen den Opfern von Diktatur und Unrecht ihr wichtigstes Druckinstrument. Die Weltgesellschaft ist geschlossen. Das Recht der internationalen Mobilität ist nicht nur äußerst ungleich verteilt; Ausgerechnet die Bürger der unfreisten Länder haben auch die geringsten Auswanderungsmöglichkeiten. Ein Ausbau des Asylrechts könne hier keine Abhilfe schaffen, denn dieses habe ganz andere, auf individuelle Schicksale konzentrierte Ziele. Stattdessen müssten offene Grenzen zukünftig bewusst als Instrument der Menschenrechtspolitik eingesetzt werden – nicht um eine globale Völkerwanderung auszulösen, sondern um weltweit Anreize zur Modernisierung und Demokratisierung zu schaffen.

Nation: Fiktion und Konstruktion

Clemens Schneider analysiert  in seinem Beitrag das Konzept der Nation, dessen philosophische Grundlagen und die Überhöhung des Nationalstaates zum metaphysischen, mit einem eigenen Willen und mit Souveränität ausgestatteten Geschöpf. Die Nation habe ihren Ursprung im archaischen Stammesdenken und in der unzulässigen Übertragung von für Kleingruppen angemessenen Regeln und Idealen auf die große Gesellschaft. Der exklusive, auf den Schutz einer homogenen Gemeinschaft ausgelegte Nationalstaat lebe von der “falsche[n] Erwartung, dass die Großgruppe dasselbe Maß und dieselbe Art von Altruismus und Solidarität gewährleisten kann wie die Kleingruppe”.

Als weitere Quelle des Nationalismus sei auch der Rückzug der Religiosität auszumachen, der das Vakuum für den Nationalstaatsglauben schaffe. Auch das populäre Konzept der sogenannten Kulturnation sei bei genauerer Betrachtung kaum von ethnisch-rassistisch begründeten Abgrenzungskriterien zu unterscheiden. Der Wohlfahrtsstaat in seiner derzeitigen Ausprägung schließlich stütze den Nationalismus, denn er mache Abgrenzung und Exklusivität zwingend erforderlich. Die wenig bequeme Schlussfolgerung lautet: “Nationalismus und Sozialismus sind Zwillingsbrüder.”

Dass der Nationalstaat nicht ohne Alternative ist, zeige die Geschichte: Historisch seien alle zivilisierten Staaten inklusiv verfasst gewesen, wie der Verfasser mit Karl Popper feststellt. Persien, Rom, das britische Weltreich, all diesen Staaten ging es um territoriale Expansion und nicht um ethnische Exklusivität: “Weil inklusive Staaten stets auf Ausweitung zielen, ist nicht Abgrenzung das Charakteristikum dieser Staaten, sondern ein verhältnismäßig hohes Maß an Toleranz gegenüber anderen Kulturen.” Heute sei das Konzept des Nationalstaates auf dem absteigenden Ast, Staatlichkeit müsse zukünftig ohne Nation gedacht werden. Dazu bedürfe es einer Rückbesinnung auf die eigentlichen, nicht metaphysisch überhöhten Funktionen des Staates: “Ein Staat, der sich auf die Durchsetzung der Herrschaft des Rechts und die Sicherung der Freiheit und Unversehrtheit seiner Bürger konzentriert, ist ein Staat, der für jeden zugänglich sein kann. Er könnte die moderne, non-imperialistische Variante des inklusiven Staates sein.”

Offene Gesellschaft? Deutschland als Zuwanderungs- und Einwanderungsland

Annette Siemes liefert in einem abschließenden Beitrag einen Überblick über die derzeit stattfindende Migration nach Deutschland und die EU, erläutert rechtliche Grundlagen der Einwanderung und des Asyls, beschreibt die Bedeutung und Zusammensetzung von Migranten in Deutschland und schneidet kontroverse Themen wie das Wahlrecht, die Religionsausübung, Parallelgesellschaften, das fragwürdige Ideal der deutsche Leitkultur und die Erfolge und Misserfolge der Integrationspolitik an. Abschließend skizziert sie, wie eine liberale Reform des deutschen Einwanderungsrechtes aussehen könnte.

Dreh- und Angelpunkt der Immigration sei das deutsche Grundgesetz, das nicht nur Offenheit für Einwanderer nahelege, sondern auch für Immigranten eine fundamentale Bedeutung einzunehmen habe: “Grundbedingung für einen liberalen Integrationsbegriff ist somit immer die Kenntnis des Grundgesetzes und die Respektierung der Gesetze, die bürgerlichen Freiraum gewährleisten.” Der liberale Rechtsstaat habe kulturelle Gewohnheiten und Sitten, ja auch Kleidungsstile zu tolerieren, solange diese nicht mit dem Grundgesetz und den darauf aufbauenden gesetzlichen Grundlagen kollidieren. Fragen des Geschmacks seien nicht politisch zu lösen, sondern in der Zivilgesellschaft auszudiskutieren. Ein wichtiges und distinktives Ziel liberaler Einwanderungspolitik ist also die Begrenzung der Rolle des Staates – sowohl was die Selektion von Einwanderern als auch deren Integration und Entfaltung angeht.

Das Asylrecht müsse ausgebaut und stärker in kommunale Verantwortung gelegt werden, die EU-weiten Regelungen diesbezüglich seien stark reformbedürftig. Einwanderern solle zukünftig mittels eines kommunalen Wahlrechts, der doppelten Staatsbürgerschaft und einer Einbürgerungsperspektive nach vier Jahren Aufenthalt auch die politische Bindung an ihre neue Heimat ermöglicht werden, denn der Einwanderer sei als politisch befähigtes und gleichberechtigtes Mitglied des Gemeinwesens und nicht als fremdes und lediglich zu tolerierendes Element wahrzunehmen: “Ein dauerhafter Lebensmittelpunkt bedingt einen Anspruch auf Partizipation und Repräsentation. Wo langfristig gearbeitet wird, wo Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden, ist eine höhere Identifikation mit der Gesellschaft zu erwarten. Dieser Identifikation muss eine Gesellschaft freier Bürger mit stärkeren politischen Rechten begegnen.”

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog Offene Grenzen am 17. März 2015.