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Photo: leo gonzales from Flickr (CC BY 2.0)

Sie packen an. Sie arbeiten zusammen. Sie schaffen ein Umfeld, in dem sich Menschen zusammentun, um Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. Die Bürgerplattformen sind die funktionierenden Alternativen zu politischen und bürokratischen Lösungsversuchen.

Ein Korrektiv zur Politik

Am Montagabend trafen sich etwa 650 Berliner auf dem Gelände der Rütli-Schule in Neukölln mit dem Regierenden Bürgermeister. Anders als das bei solchen glamourösen Veranstaltungen sonst oft der Fall ist, war das Event freilich nicht dazu da, um dem Bürgermeister eine Bühne zu bieten, sondern vor allem, um ihn zum Zuhören zu bringen. Den größten Teil des Abends über stellten sich die Bürgerplattformen der Berliner Stadtteile Treptow-Köpenick, Neukölln und Wedding-Moabit vor. Erst in der letzten Viertelstunde durfte der „Landesvater“ drei Fragen beantworten.

Diese Herangehensweise passt zu dem Format der Bürgerplattformen, die weder Ansammlungen von Wutbürgern sind noch von langweiligen, kritiklosen Claqueuren. Sie sehen sich als Korrektiv zur Politik. Es passt, dass sie über ihre finanziellen Ressourcen folgendermaßen Auskunft geben: „Um als gleichberechtigter Partner in der Auseinandersetzung mit Politik und Verwaltung auftreten zu können, legen wir großen Wert auf Selbstständigkeit im Handeln und eine finanzielle Unabhängigkeit von staatlicher Förderung.“ Die Organisationen finanzieren sich allein durch Mitgliedsbeiträge und Spenden.

Konkrete Probleme lösen

80 zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die insgesamt etwa 100.000 Menschen in Berlin erreichen, haben sich in den drei Netzwerken zusammengeschlossen. Begonnen hat das dieses „community organizing“ in den 60er Jahren in den USA. Also in einer Zeit, in der die Frage der Rassentrennung, der Vietnamkrieg und allgemeine soziale Unruhen zu massiven Verwerfungen führten. Politiker waren in vielen Städten wie Chicago oder New York entweder tief korrupt oder buchstäblich nicht mehr imstande, ihren Aufgaben nachzukommen.

Einer der großen Vordenker des Konzepts war Saul Alinsky, eine höchst streitbare Persönlichkeit, der die dramatischen Zustände in den amerikanischen Großstädten und Problemzonen nicht mehr hinnehmen wollte. Alinsky lässt sich politisch kaum einordnen – Marxisten haben ihn ebenso zu vereinnahmen versucht wie auch jüngst die Tea Party. Er selbst sagte einmal im Interview mit dem Playboy: „Ich konnte niemals ein starres Dogma oder eine Ideologie akzeptieren, weder Christentum noch Marxismus. … Wenn Du denkst, Du habest einen direkten Draht zur absoluten Wahrheit, dann wirst Du doktrinär, humorlos und intellektuell verstopft.“ Ihm ging es nicht darum, eine bestimmte Heilslehre zu verwirklichen, sondern darum, konkrete Probleme zu lösen.

Verantwortung übernehmen

Alinsky ging es um Veränderung und Verbesserung. Er rief nicht nach der nächsten Lösung durch den politischen Apparat. Er versteckte sich nicht hinter hohlen Phrasen. Sondern er packte an und brachte zivilgesellschaftliche Gruppen an einen Tisch. Ein wichtiges Element seiner Arbeit war die Kontrolle der Politik durch engagierte Bürger – ein dringend notwendiges Element der Machtbeschränkung in dem immer verfilzter werdenden System seiner Zeit. Noch wichtiger aber und noch nachhaltiger war die Idee, dass Bürger selber Lösungen finden und an ihrer Verwirklichung mitarbeiten können.

Um einen Spielplatz wieder benutzbar zu machen, um Transportmöglichkeiten für die Alten im Stadtviertel zu schaffen, um den Bürgersteig zu reparieren, sogar um Schulen zu gründen – für all das braucht man zunächst weder Behörden noch Politiker. All das kann man auch selber machen – und oft viel effizienter. Das ist der eigentlich bemerkenswerte Kerngedanke des „community organizing“: Den Menschen die Augen dafür zu öffnen, dass sie selber Verantwortung übernehmen können. „Verantwortung übernehmen“ war dann auch die Formulierung, die bei dem Treffen der Bürgerplattformen am häufigsten fiel.

Hier wachsen positive Mentalitäten heran

Bei den Bürgerplattformen treffen unterschiedlichste Menschen aus verschiedensten Milieus aufeinander und ergänzen sich bei der gemeinsamen Aufgabe, Probleme zu lösen. Da ist der Küchenmeister aus dem Berliner Südosten, der zu DDR-Zeiten den offenen Konflikt mit den Herrschenden nicht gescheut hat. Neben ihm steht ein 15jähriger Schülersprecher, der eindrucksvoll sein Wort zu machen versteht. Da ist die Frau aus dem anatolischen Dorf, Mutter von sechs Kindern, die mit kräftiger Stimme ruft: „Ich wollte weiterkommen! Darum habe ich mich gebildet, habe über Physik und Chemie und über Geschichte gelernt – und bin nach Deutschland gekommen. Viele Leute aus meinem Dorf haben es mir nachgemacht, weil auch sie etwas erreichen wollten.“ Und daneben steht der bürgerliche Familienvater, der sich in seiner katholischen Gemeinde engagiert. Sprachschulen für indonesische Studenten, muslimische Pfadfindergruppen, das Projekt der Weddinger Bürgerschule – all dies entsteht aus der Mitte der Bürgerplattformen.

Was all diese Menschen eint, ist der Wille, Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen weiterkommen und etwas erreichen: für sich, für ihre Familien, für ihre Nachbarn. Dieser Impuls ist ja in der Tat der Motor für echte Veränderung. Für Veränderung, die nicht von oben verordnet und organisiert ist, sondern die von den Menschen selbst gestaltet wird. Man kann nur hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht und viele Nachahmer findet. Nicht nur, weil diese selbstverantwortliche Organisation Probleme effizienter und informierter löst. Sondern insbesondere auch, weil das Übernehmen von Verantwortung Menschen glücklicher macht. Wenn sie etwas erreicht haben, ist es ihr Spielplatz, ihre Kleiderkammer, ihre Schule. Und dieser verdiente Stolz wird sie prägen – sie und die nachwachsenden Generationen. Hier wachsen positive Mentalitäten heran und entstehen veritable Freiheitsinseln!

Photo: Ann Larie Valentine from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Frederic Schneider, Politikwissensschaftler und Praktikant bei Prometheus.

Das ZDF besitzt die Rechte an der US-Kultserie „Mad Men“. Die hat in den letzten Jahren vier Golden Globes und fünf Emmys abgeräumt. Eigentlich, sollte man meinen, die perfekte Gelegenheit für den Sender, seinem gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätsauftrag nachzukommen und der Altersstruktur seiner Zuschauer (60 Jahre im Schnitt) entgegenzuwirken. Sülz-Formate wie „Markus Lanz“ oder Kochshows, die maximal als Schlafmittelersatz taugen, raus – die Erfolgsserie „Mad Men“ rein ins Programm.

Irgendwas ist dann schief gelaufen … Die Programmdirektoren haben sich dagegen entschieden, die Erfolgsserie im Vorabendprogramm laufen zu lassen: Don Draper und seine Werbe-Kollegen versauern stattdessen um 00:35 Uhr auf ZDFneo. Obwohl zuerst mit knackigen Slogans wie „Hinter jeder erfolgreichen Frau steht ein Mann, der ihr auf den Arsch glotzt!“ beworben, bekommt die Serie am Ende ein Sender, der nicht einmal analog zu empfangen ist. Auf einem Sendeplatz mitten in der Nacht. Das Traurige für den Zuschauer: der über eine Zwangsabgabe finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk schnappt so den anderen Sendern spannende Formate weg und verbannt sie ins Nirgendwo.

Bei den Fußball-Rechten ist das ähnlich. Die gebührenfinanzierten Anstalten benehmen sich dabei als schrieben wir das Jahr 1982. Denn ARD und ZDF müssen damals wie heute nicht darauf achten, ob sie die Rechte zu Marktpreisen erwerben. Heute lassen sie sich im Namen des Informationsauftrages von der Deutschen Fußball Liga ausquetschen und zahlen dabei Mondpreise. Nicht-gebührenfinanzierte Sender können sich die Bundesliga-Lizenzen schon lange nicht mehr leisten. Das Geld ist nie und nimmer über Werbung wieder hereinzuholen.

Über eine Milliarde Euro pro Jahr geben die Öffentlichen für sportliche Großereignisse aus. Neben der Bundesliga zeigen sie auch die Fußball Europa- und Weltmeisterschaften, die Olympischen Winter- und Sommerspiele, Leichtathletik und vieles mehr. Die meisten dieser Großereignisse sind dabei so beliebt, dass sie auch für Sender wie SAT1, RTL und PRO7 interessant sein dürften, wäre da nicht das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das eigentlich so gut wie jeden Preis zahlen kann und auch zahlt.

Der Umgang mit den Übertragungsrechten für sportliche Großereignisse ist nur das krasseste Beispiel eines durch staatliche Institutionen total verzerrten Marktes. Das Prinzip gilt auch in anderen Bereichen. Oftmals wird von Befürwortern von ARD und ZDF ins Feld geführt, nur mit dem Öffentlich-Rechtlichen lasse sich überhaupt Qualität gewährleisten. Das ist ein Irrglaube. Welcher private Sender würde denn eine politische Talkshow am Sonntagabend zeigen, während in der ARD Günther Jauch seinen Talk veranstaltet? Auf der anderen Seite: gäbe es die ARD nicht, dann gäbe es wahrscheinlich Günther Jauchs Talkshow trotzdem, zum Beispiel auf PRO7 oder n-tv. Ob sie dort auch mit fast 300.000 Euro pro Ausgabe zu Buche schlagen würde, ist mindestens fragwürdig.

Die privaten Fernsehsender sind durchaus in der Lage, hochwertige Nachrichten und Filme, Serien, Talkshows und Sportübertragungen zu produzieren. Solange sie gegen den mit einem Goldesel ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Rundfunk antreten müssen, lohnt es sich aber oft nicht für sie. ARD und ZDF sollten aufhören, bei Produktionen und Übertragungsrechten mitzubieten, die auch auf den Privaten laufen würden. Für uns Zuschauer besteht dadurch nicht die Gefahr eines Qualitätsverlusts. Im Gegenteil.

Photo: Giorgio Montersino from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Vor fünf Jahren, am 7. Mai 2010, beschloss der Deutsche Bundestag das erste Griechenland-Paket. Schon damals hieß es, Griechenland habe nicht einmal ein Grundbuch. Fünf Jahre später haben sie immer noch keins. Und auch im Jahr 2020 wird es in Griechenland immer noch kein solches geben. Der Termin sei nicht mehr zu halten, hieß es kürzlich, da eine Finanzierungslücke zur Vollendung von derzeit 220 Mio. Euro bestünde.

Jeder weiß inzwischen: Griechenland hat nicht nur ein Problem mit dem fehlenden Grundbuch, sondern auch die Korruptionsrate ist so hoch wie in einem Entwicklungsland. Deshalb reicht es eben nicht, langwierige Reformen von außen zu oktroyieren und gleichzeitig immer mehr Geld in ein Fass ohne Boden zu werfen.

Das Hauptproblem Griechenlands ist das mangelnde Vertrauen der Investoren. Weder investieren Bürger aus dem eigenen Land in die Wirtschaft des südlichen Euro-Staates, noch investieren ausländische Geldgeber in einem Land, in dem es keine verlässlichen Strukturen in Staat und Gesellschaft gibt.

Dieses Problem hat jedoch nicht nur Griechenland. Viele Staaten auf dieser Welt kennen diesen Teufelskreis aus Entwicklungshilfe, Korruption und Misswirtschaft. Alles hängt letztlich daran, dass Eigentum nicht rechtssicher erworben und übertragen werden kann, das Eigentum in seiner Verfügbarkeit eingeschränkt ist und staatliche Willkür keine Planungssicherheit gewährleistet.

Aus diesem Dilemma kommen viele Länder nicht heraus. Denn es erfordert einen kulturellen Wandel in den Köpfen der Menschen, damit sich dies oftmals erst über Generationen hinweg ändert. Der Einzelne hat es in solch einem Umfeld schwer. Unternehmensgründer, Investoren und Eigentümer haben meist nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Also entweder auf den Sankt-Nimmerleinstag für eine Eintragung ins Handelsregister zu warten oder mit „Fakelaki“ nachzuhelfen.

Die Rettung wird vielleicht die Cyberwährung Bitcoin bringen. Denn das Revolutionäre an Bitcoin ist, dass er ohne Staat auskommt und nicht zentral gesteuert wird und werden kann. In der kommenden Woche kommt dazu ein neues Buch auf den Markt: „Bitcoin – Geld ohne Staat“ von Aaron König. König stellt darin den Nutzen der Cyberwährung für die Vereinfachung des Zahlungsverkehrs dar – aber nicht nur. Er zeigt zusätzlich auf, welche fast schon unbeschränkten Möglichkeiten sich rund um Bitcoins künftig ergeben.

Denn die geniale Idee des Erfinders, der unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto bekannt ist, war die Blockchain-Technologie. Blockchain ist ein öffentliches Protokoll im Internet, das dazu dient, Transaktionen mit Bitcoins für jedermann zu dokumentieren. Ein öffentlicher Schlüssel dient als eine Art Kontonummer, an die jeder der sie kennt, Bitcoins überweisen kann. Um jedoch an die Bitcoins heranzukommen, benötigt der Empfänger einen privaten Schlüssel, der nur ihm bekannt ist. Das öffentliche Protokoll schützt vor Missbrauch. Nicht eine Regulierungsbehörde, der Staat oder eine Zentralbank überwacht die Einhaltung der Regeln, sondern alle Nutzer gleichzeitig.

Diese dezentrale Verteilung der Kontrolle ermöglicht ganz neue Möglichkeiten. Warum braucht man noch ein Grundbuch, wenn die Eigentumsverhältnisse eines Grundstücks in einer Blockchain nachgewiesen werden können? Warum braucht man noch ein Handelsregister, wenn die neuen Eigentümer eines Unternehmens in der Blockchain für alle sichtbar nachgewiesen werden können? Und warum braucht man noch ein Standesamt, wenn der Bund fürs Leben auch in der Blockchain öffentlich dokumentiert werden kann?

Die große Chance dieser Technologie ist, dass in korrupten Staaten keine Beamten mehr bestochen werden müssen, um eine Genehmigung zu bekommen. Auch die notarielle Beurkundung entfiele, wenn Eigentümeränderungen in einer Blockchain veröffentlich würden. Der öffentliche Glaube, der durch die Eintragung im Grundbuch oder Handelsregister derzeit erreicht werden soll, ist durch eine Blockchain ebenso, aber viel unbürokratischer und preiswerter möglich. Staatliche und notarielle Gebühren entfielen, Behördengänge und Wartezeiten wären überflüssig und staatlicher Willkür würde ins Leere laufen.

Für viele Entwicklungs- und Schwellenländern würde so die Grundlage für Fortschritt und Wohlstand geschaffen. Es wäre vergleichbar mit der Entwicklung und Verbreitung des Mobiltelefons. Bürger und Unternehmen mussten nicht mehr darauf drängen, dass das Festnetz ausgebaut und funktionsfähig vom Staat oder seinen beauftragten Unternehmen zur Verfügung gestellt wird, sondern die Verbreitung der Mobiltelefone hat in diesen Ländern die Festnetztechnologie schlicht übersprungen.

Für viele scheint dies alles utopisch und unrealistisch zu sein. Doch was ist schon realistisch? Als Adam Smith 1776 in seinem Buch „Wohlstand der Nationen“ für den Freihandel warb, war dieser fern jeder Realität. Er glaubte selbst nicht daran. 90 Jahre später war dieser fast weltweit erreicht. Sicherlich konnte sich eine übergroße Mehrheit der kriegsgebeutelten Bürger in Deutschland am 8. Mai 1945 nicht vorstellen, dass Ludwig Erhard drei Jahre später mit der Freigabe der Preise und dem Ende der Zwangsbewirtschaftung die Grundlage für die marktwirtschaftliche Ordnung in Deutschland schuf. Das Richtige setzt sich über kurz oder lang durch, weil die Idee der Freiheit stärker ist als jeder Zwangsapparat, jedes Verbot und jede Knechtschaft. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick am 8. Mai 2015.

Photo: Wikimedia Commons

Heute jährt sich die deutsche Kapitulation im Zweiten Weltkrieg zum 70. Mal. Es war das Ende der Kampfhandlungen, nicht aber des Krieges. Den Krieg haben nicht die Generäle und Staatsmänner beendet, sondern die Bürger, die sich für ein Miteinander anstatt für das Gegeneinander entschieden.

Ein Sieg ist nicht dasselbe wie Frieden

Vor zwei Wochen haben wir hier Betrachtungen darüber angestellt, dass uns Geschichtsschreibung oft ein falsches Bild vermittelt. Dass nicht Feldherren und Führer die entscheidenden Persönlichkeiten waren, sondern dass „der wirkliche Fortschritt für die Menschheit von Erfindern, Unternehmern, Denkern und deren Unterstützern ausging.“ Der heutige Jahrestag ist ein gutes Beispiel dafür, wie Geschichtsschreibung uns in die Irre führen kann. Klar, der 8. Mai war der Tag des Sieges der Alliierten über Deutschland. Er war auch, wie Richard von Weizsäcker in seiner bedeutenden Rede vor dreißig Jahren sagte, der „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Aber er war eben nicht der Tag, an dem der Krieg aufhörte.

Denn ein Sieg ist nicht dasselbe wie Frieden. Das liegt zum Teil daran, dass die Sieger auch alles andere als weiße Westen hatten: die pauschale Internierung von Japanern durch die US-Regierung, der Bombenterror über Dresden und vor allem Hiroshima und Nagasaki, ganz zu schweigen von dem verbrecherischen Regime Stalins, das dem Hitlers in Vielem verblüffend ähnelte. Das liegt aber auch daran, dass Krieg mehr ist als nur Kampfhandlungen – der auf den Zweiten Weltkrieg folgende Kalte Krieg hat das deutlich gezeigt. Krieg ist dort, wo Menschengruppen einander fürchten oder hassen, wo Gegeneinander herrscht und nicht Miteinander.

Krieg wird nicht von Geschützen beendet, sondern von ausgestreckten Händen

Darum bedurfte es noch etlicher Jahre bis der Zweite Weltkrieg tatsächlich vorbei war. Etlicher Jahre – und vor allem vieler mutiger Menschen, die es geschafft haben, Leid, Angst und Hass hinter sich zu lassen und aufeinander zuzugehen. Anstatt am 8. Mai Militärparaden zu veranstalten, sollten wir besser dieser Menschen gedenken und ihnen danken. Zumal es nicht überall gelang, den Krieg zu beenden. Denn die Panzer der Roten Armee standen bis Anfang der 90er Jahre noch auf deutschem Boden, um die kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa zu schützen. Abermillionen lebten noch Jahrzehnte lang in Unfreiheit und Unterdrückung.

Der Zweite Weltkrieg wurde nicht von Feldherren und Geschützen beendet, sondern von ausgestreckten Händen. Das waren gleich zu Beginn die Trümmerfrauen, die dem jahrelangen zerstörerischen Wüten ihren tapferen Willen zum Neubeginn entgegensetzten. Das waren die amerikanischen Bürger, die nur wenige Monate nachdem ihre Söhne und Ehemänner im Kampf gegen Deutschland gefallen waren, Millionen von CARE-Paketen hierher schickten. Das waren die Polen, Tschechen, Slowaken, Balten, die den vertriebenen Deutschen ein Stück Brot, ein Glas Milch oder einen Schlafplatz boten.

Frieden kommt durch das Bemühen jedes Einzelnen

Die unzähligen Verbrechen, die im Laufe des Krieges begangen wurden, haben dennoch lange zu einer Stimmung des Misstrauens, wenn nicht gar des Hasses beigetragen. Es waren noch weitere Schritte nötig, um dem Frieden zum Durchbruch zu verhelfen. Wie etwa die die Luftbrücke nach West-Berlin, das Treffen Adenauers und Ben Gurions in New York, Adenauers und de Gaulles in Reims, der Brief der polnischen Bischöfe vor fünfzig Jahren, der Kniefall Willy Brandts in Warschau. Noch viel wichtiger als all diese politischen Aktionen waren die kleinen Schritte, die Menschen Tag für Tag aufeinander zugegangen sind. Exemplarisch dafür steht die gemeinsame Aktion deutscher und französischer Jugendlicher beim Grenzübergang St. Germanshof in der Südpfalz, bei der im Sommer 1950 die Schlagbäume niedergerissen wurden. Schüler- und Studentenaustausch, gemeinsam durchgeführte sportliche und kulturelle Ereignisse, kleine alltägliche Versöhnungsgesten der Opfer auf allen Seiten und die Bereitschaft, nationale Ressentiments hinter sich zu lassen – all das hat den Zweiten Weltkrieg wirklich beendet und Frieden geschaffen.

Der 8. Mai ist eine gute Gelegenheit, um sich der Menschen zu erinnern, die unser heutiges Zusammenleben in Europa ermöglicht haben. Das waren ein paar Politiker. Es waren aber vor allem einfache Menschen, die durch ihren Mut und ihre Versöhnungsbereitschaft das Antlitz dieser Erde zum Besseren verändert haben. Frieden kommt nicht durch große Worte oder wohlklingende Verträge. Frieden kommt durch das Bemühen jedes Einzelnen. Der große englische Pazifist Richard Cobden stellte schon 1850 fest:

„Der Fortschritt der Freiheit hängt mehr an der Bewahrung des Friedens, der Verbreitung des Handels und der allgemeinen Bildung als an den Bemühungen von Regierungen und Außenministerien.“

Wenn Lokführer der Bahn und bald auch die Piloten der Lufthansa wieder die Arbeit niederlegen, gilt es buchstäblich innezuhalten. Dann steht wieder ganz Deutschland im Stau, kommt zu spät zur Arbeit und Millionen von Bürgern werden in Geiselhaft genommen, um die Ziele einiger wenigen durchzusetzen.

Dann sagen die einen: „Das Streikrecht ist auf den Barrikaden der Arbeiterkämpfe vor 150 Jahren mit Blut und Tränen erkämpft worden“. Wieder andere meinen: „Wie sollen sich die Arbeitnehmer sonst gegen die Übermacht der Arbeitgeber wehren?“ Und nochmals andere posaunen: „Die Koalitionsfreiheit ist im Grundgesetz geschützt und deshalb ist der Streik das legitime Mittel zur Durchsetzung von Gewerkschaftsforderungen.“

In einer solch emotional aufgeladenen Stimmung ist es hilfreich einmal über den Tellerrand zu schauen. Wie machen es andere? Können wir von diesen vielleicht sogar lernen? Das Land mit den wenigsten Streiktagen ist unser südlicher Nachbar, die Schweiz. Dort fiel durchschnittlich pro 1000 Beschäftigte lediglich ein Arbeitstag durch Streiks aus, in Deutschland waren es 16 (Quelle: WSI 2014, Hans-Böckler-Stiftung 2014). Die Schweiz hat Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosigkeit lag 2014 bei 3,3 Prozent. Ist die geringe Streikbereitschaft der Schweizer Arbeitnehmer vielleicht sogar die Ursache für die Vollbeschäftigung?

Sicherlich ist der Zusammenhang nicht monokausal, aber völlig abwegig ist er auch nicht. Rund die Hälfte der Schweizer Arbeitnehmer darf gar nicht streiken. Sie sind einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt, bei dem eine strenge Friedenspflicht gilt, die so tief in der eidgenössischen Gesellschaft verwurzelt ist, wie vielleicht nur noch die außenpolitische Neutralität der Schweiz. Der wesentliche Unterschied zu Deutschland ist, dass das Tarifkartell aus Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften bei weitem nicht diese dominierende Bedeutung hat. Zwar kennt auch die Schweiz ein kollektives Arbeitsrecht, bei dem Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften einen Rahmentarifvertrag verhandeln, doch anders als in Deutschland sind Gehaltsverhandlungen und Einstufungen von Arbeitnehmern nicht die Aufgabe der Tarifpartner, sondern individuelle Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den jeweiligen Betrieben. Die Schweiz kennt im Wesentlichen nur Informationspflichten des Unternehmens gegenüber der Mitarbeitervertretung oder den Beschäftigten. Ein Mitwirkungsrecht wie es das Deutsche Arbeitsrecht kennt, ist dort fremd.

Führt dies zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeitnehmer, weil sie weniger Macht gegenüber der „Kapitalseite“ haben? Nein, ganz im Gegenteil. Die Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes ist nicht nur für den Arbeitgeber gut, sondern auch für die Arbeitnehmer.

Sie können sich ihren Arbeitsplatz aussuchen, leichter höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Anders als in Deutschland kündigen daher in der Schweiz viele Arbeitnehmer, ohne vorher einen neuen Arbeitsplatz zu haben.

Wenn jetzt die Regierung eine Monopolisierung der Lohnfindung durch ein Tarifeinheitsgesetz durchsetzen will, um dem Arbeitgeberverband und den Deutschen Gewerkschaftsbund zu gefallen, geht dies in die falsche Richtung. Es zementiert die Gewerkschaftsmacht gegenüber den Kunden des Unternehmens, aber auch gegenüber den Arbeitnehmern. Sie werden faktisch zu einer Mitgliedschaft in der mitgliederstärksten Gewerkschaft genötigt. Der Preis dafür ist hoch. In wenig wettbewerbsintensiven Märkten, wie dem Bahn- oder Luftverkehr, bekommen die Großgewerkschaften plötzlich ein Erpressungspotential in die Hand, das vielleicht den Egoismus der Spartengewerkschaften einschränkt, aber dennoch die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen auf Dauer gefährdet. Denn die Kunden können und werden die Leistungen der Bahn substituieren, indem sie mit Fernbussen oder Auto fahren. Und Passagiere der Lufthansa wechseln zu Wettbewerbern, die verlässlicher und preiswerter sind. Deshalb ist das non-zentrale Modell der Lohnfindung in der Schweiz unserem Modell des gesetzlich zementierten Tarifkartells überlegen – nicht nur was die geringe Zahl der Streiktage betrifft. Es schafft vor allem mehr Vertragsfreiheit auf beiden Seiten und stärkt damit die individuelle Freiheit.

Wenn am 1. Mai auf den hiesigen Marktplätzen die verbalen Schlachten des Klassenkampfes von gestern geschlagen werden und am Schluss das alte Arbeiterlied: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ geträllert wird, sollten Freiheitsfreunde in Nah und Fern das Lied der Sportfreunde Stiller „New York, Rio, Rosenheim“ anstimmen. Dort heißt es: „Wir woll’n nicht Leben wie ein eingerollter Igel; wir leben unser Leben und das Göttliche in jedem. Sie schüren Angst und Frust, wir haben darauf keine Lust.“

Photo: Holger Wirth from Flickr