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Photo: Sascha Kohlmann from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. N. Christian Hesse, wirtschaftspolitischer Referent und Redenschreiber.

Wie konnte es zu Trump und Brexit kommen, obwohl doch die Meinungseliten nachdrücklich vor den Folgen gewarnt haben? Von den zwei wichtigsten Erklärungssträngen – dem ökonomischen und dem kulturellen – wäre vor allem der politischen Linken die ökonomische Erklärung lieber, da sie dann ihre bekannten Umverteilungsinstrumente ins Spiel bringen könnten.  In Umfragen ist allerdings der kulturelle Erklärungsstrang bedeutender. Weder für Trump-Wähler noch für Brexiteers war die ökonomische Ungleichheit wahlentscheidend. In der Brexit-Kampagne wurde der Widerstandsgeist gegen eine als paternalistisch, regelbrechend und abgehoben dargestellte Brüsseler Elite geweckt. Der Hauptslogan der Brexiteers war „take back control“, nicht „increase taxes and redistribution“. Gegen welche Art von Elite sich die amerikanischen Wähler richteten, zeigt der Kandidat Trump. Er zählt zwar zur ökonomischen, nicht aber zur kulturellen Elite. Auch seine Wähler sind im Durchschnitt keineswegs so ökonomisch unterprivilegiert, wie oft behauptet wird.

Die Politologen Inglehart und Norris haben sich die Motive von Trump-Anhängern und Brexiteers genauer angesehen.[1] Sie erkennen einen kulturellen backlash und ein tiefes Misstrauen gegen das linksliberale Establishment. Sowohl in den USA als auch in Großbritannien gibt es eine verbreitete, große Sorge vor illegaler Migration, vor allem aus wenig entwickelten Ländern. Aus dieser Sorge lässt sich noch keine generelle Fremdenfeindlichkeit und erst recht keine rassistische Einstellung ablesen, wohl aber eine Skepsis an der von vielen Kommentatoren gepriesenen Multi-Kulti-Gesellschaft.

Bei der nach diversen Gleichheitsidealen strebenden Meinungselite in Politik und Medien löst derartige Skepsis befremden aus. Denn die konkreten Probleme bei der praktischen Umsetzung der gut gemeinten Ideale dringen in die Elitenblasen kaum vor. Solche Blasen, in der sich jeder seine politische Meinung und moralische Erhabenheit bestätigen lässt, gab es freilich schon immer. Die heutige Blase der Meinungseliten ist aber nicht nur besonders groß, sondern auch besonders homogen. In der US-Hauptstadt Washington haben ganze 92,8 Prozent der Wähler Hilary Clinton gewählt. Unter US-Hauptstadtjournalisten sind die Präferenzen traditionell noch pro-demokratischer.[2]

Die Parteienpräferenz deutscher Meinungseliten ist zwar auch stark linkslastig, aber immerhin etwas gleichmäßiger verteilt. Für die Meinungspluralität bringt dies dennoch wenig, wenn sich alle im Bundestag vertretenen Parteien – mit einigen Abstrichen bei CSU und Linke – bei den entscheidenden europa-, gesellschafts-, migrations- und energiepolitischen Fragen weitgehend einig sind. Ein politisch korrekter Sprachcode erschwert es zusätzlich, die ohnehin ähnlichen Positionen zu unterscheiden. Es verwundert nicht, wenn in einer solchen Blase die Diskussionskultur leidet, der politische Wettstreit erlahmt und der Kontakt zur Außenwelt mehr und mehr abreißt. Die Kluft zwischen Journalisten und Lesern wächst genauso wie die zwischen Politikern und Wählern. Die resultierende Verdrossenheit beruht dann oft auf Gegenseitigkeit.

Es scheinen also weniger Neid und materielle Sorgen, auch kein (Fremden-)Hass zu sein, der viele Briten und US-Amerikaner bei ihrer Wahlentscheidung leitete. Eher eine Mischung aus Ohnmacht, Ärger und Verunsicherung. Ohnmacht, den Eliten in Washington bzw. Brüssel ausgeliefert zu sein. Ärger, sich für den eigenen Lebensstil und die eigenen Wertvorstellungen von diesen Eliten noch beschimpfen zu lassen. Verunsichert sind viele Menschen, wenn die Globalisierung, die EU-Integration und die internationalen Flüchtlingsströme abseits sanktionsbewährter Regeln über sie hereinbrechen. Vor allem die illegale Zuwanderung bereitet vielen Menschen große Sorgen. Forget the economy. It’s immigration, stupid.

Die Antworten der Meinungseliten, auch in Deutschland, fallen nun unterschiedlich aus. Einige wollen mit staatlichen Transfers die Gemüter beruhigen. In Österreich steckt die Regierung den Rentnern vor der kritischen Präsidentenwahl noch schnell 100 Euro zu. Andere verfolgen hartnäckig einen pädagogischen Ansatz. Die Politik müsse nur noch besser erklärt werden. Wieder andere werden pathetisch, geschichtsvergessen und maßlos. Nicht jede Kritik am Euro ist gleich eine Kriegserklärung, nicht jeder Tweet Trumps das Ende des Westens und nicht jeder rechte Kommunalpolitiker die Reinkarnation Hitlers.

Ordoliberale Ideen drohen im Wettstreit zwischen linken Meinungseliten und rechtem Protest unter die Räder zu kommen, wenn Protektionismus, Umverteilung und Konjunkturprogramme den scheinbar kleinsten gemeinsamen Nenner bilden. Wer weder den Bürgern, noch den selbst gesetzten Regeln, noch dem Markt mehr traut, dem bleiben nur politische Lösungen. Dabei wäre gerade hier mehr Skepsis angebracht.

Ordoliberale haben ein Grundvertrauen in die Bürger, in das Recht und in den Markt. Ihre Prinzipien und Werte können viele Menschen überzeugen, die sich enttäuscht von den Eliten abwenden. Sie müssen nur glaubhaft vertreten werden.

Freihandel

Der marktwirtschaftliche Wettbewerb und freier Handel, auch über Ländergrenzen hinweg, sind ebenso zentrale wie umstrittene Prinzipien der ordoliberalen Konzeption.  Zahlreiche Missverständnisse rund um den Freihandel halten sich hartnäckig. Während sein Beitrag zur weltweiten Armutsbekämpfung und zum friedlichen Miteinander beharrlich unterschätzt wird, wird er für globale Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht, mit denen er oft gar nichts zu tun hat. Ob wachsende Ungleichheit, globale Finanzkrisen oder Klimawandel: Ein Freihandel im ordoliberalen Sinne ist Teil der Lösung, nicht des Problems. So waren für die Finanzkrise 2008 nicht unregulierte, sondern fehlregulierte Märkte ursächlich. Man kann für den Freihandel sein, und die organisierte Verantwortungslosigkeit auf den internationalen Finanzmärkten kritisieren. Ordoliberale tun dies. Es würde schon helfen, den freien Güterhandel gedanklich stärker vom freien Personenverkehr zu trennen. Mehr Freihandel muss nicht mit mehr Migration einhergehen. Ganz im Gegenteil. Die internationale Arbeitsteilung macht Migration oft entbehrlich. Zudem kann Freihandel den Migrationsdruck mindern, indem er die wirtschaftlichen Perspektiven in den Herkunftsländern verbessert.

Doch ganz ohne Zumutungen ist auch der globale Freihandel nicht zu haben. Auf kulturelle Spannungen bietet der Freihandel alleine keine passende Antwort. Denn er beschleunigt den Strukturwandel und verändert damit den Alltag vieler Menschen oft schneller, als es ihnen recht ist. Dabei entwickelt er eine Eigendynamik, die zum Ohnmachtsgefühl der Bürger beiträgt. Doch diese Ohnmacht lässt sich begrenzen, ohne das ordoliberale Freihandelsprinzip aufzugeben. Es kommt darauf an, wie der Freihandel vertreten wird, unter welchen Spielregeln er stattfindet und wie diese Regeln durchgesetzt werden.

Demut

Das entscheidende ordoliberale Bewertungskriterium sind die Regelinteressen der souveränen Bürger. Die einzelnen Gesellschaftsmitglieder sind der Ausgangs- und Zielpunkt, keine Kollektive. Denn jeder Einzelne hat bestimmte Werte, Bedürfnisse, Kenntnisse, Fähigkeiten. Das Wissen einer Gesellschaft ist daher in Millionen Köpfen verteilt und, wie Hayek betonte, in den Traditionen, Sitten und Moralvorstellungen gespeichert. Kein Mensch kann sich in seiner kurzen Lebensspanne mehr Wissen aneignen als ein über Jahrhunderte währender Selektionsprozess. Einen anderen Eindruck zu erwecken, ist anmaßend. Doch die oben beschriebenen Eliten tun oft genau das. Wissensanmaßend sind zum Beispiel Politiker, die glauben, die Technologien der Zukunft zu kennen, Volkswirte, die auf zwei Nachkommastellen genau berechnen, wie viele Arbeitsplätze durch eine Subvention angeblich geschaffen wurden oder wie viel Euro und wie viel Cent der Brexit kostet, und Journalisten, die vom postfaktischen Zeitalter sprechen, ganz so, also hätte es jemals ein faktisches Zeitalter gegeben. Wissensanmaßend sind aber auch Bürger, die hinter jeder Hecke eine groß angelegte Verschwörung vermuten. Unwissen mag ärgerlich sein. Gefährlich aber ist, es sich nicht einzugestehen.

Es sind oft einfache Dinge, an die es zu Erinnern gilt: Politiker sollten nicht so tun, als ob sie ihr eigenes Geld, und nicht das der Steuerzahler, verteilen. Journalisten sollten zwischen Meinung und Nachricht, Wissenschaftler zwischen normativer und positiver Analyse unterscheiden können und diesen Unterschied auch kenntlich machen. Wir alle sollten die Regeln des anständigen Umgangs nicht vergessen, auch wenn wir uns bei Facebook einloggen. Im gleichen Maße, in dem sich Meinungseliten und Wutbürger zurücknehmen, gehen auch Ärger bzw. Überheblichkeit ihnen gegenüber zurück. Gegenseitiges Vertrauen kann wieder wachsen. Denn demütiges Auftreten bedeutet immer auch, dem anderen ein eigenes, souveränes Urteil zuzutrauen.

Subsidiarität

Um nicht nur dem Ärger, sondern auch dem Ohnmachtsgefühl der Menschen zu begegnen, hilft das Subsidiaritätsprinzip. Die Möglichkeiten, den globalen Freihandel lokal steuern zu können, mögen begrenzt sein. Dafür gibt es viele andere Politikfelder, über die die Menschen vor Ort am besten entscheiden können. Die Schweizer zeigen, wie das geht. Hier stimmen die Bürger direkt über viele Sachfragen ab. Wenn die Bürger aber nur alle Schaltjahre an die Urnen dürfen, entlädt sich die aufgebaute Frustration, oft recht unabhängig vom Anlass der Wahl.

In kleineren, dezentralen politischen Einheiten bekommen die Bürger so Kontrolle zurück. Sie können vor Ort die Konsequenzen von lokalen Entscheidungen und Regeln spüren und die handelnden Politiker für diese Konsequenzen haftbar machen. Fehler werden schneller erkannt und können entsprechend schneller korrigiert werden. Ein Wettbewerb um die besten Regeln wird möglich. Damit Entscheidungskompetenz nach unten abgegeben wird, braucht es oben die Einsicht, nicht alles regeln zu können – Demut also – und Vertrauen in die Bürgersouveränität, möglichst vor Ort über gute Regeln des Zusammenlebens entscheiden zu können.

Rechtsstaatlichkeit

Diese Regeln muss im ordoliberalen Ansatz der Staat durchsetzen und sich vor allem selbst an sie halten. Im Großen wie im Kleinen: Völkerrechtswidrige Kriege, gebrochene Verträge (Schengen), Klauseln (No-Bail-Out), Verbote (EZB-Staatsfinanzierung) und Abkommen (Dublin) tragen ebenso zur Erosion des Rechtsstaats bei wie No-Go-Areas, Abschiebeversagen, fehlender Respekt vor Polizisten und Delikte, bei denen erst gar keine Anzeige mehr aufgenommen wird. Das fatale Signal kommt bei den Bürgern an. Bei denen, die schon länger hier leben und bei denen, die es erst seit kurzem tun. Erodierendes Recht trug so zu erschütternden Taten vom Kölner Hauptbahnhof, der Freiburger Dreisam und dem Berliner Breitscheidplatz bei.

Um Regeln durchzusetzen und um, wie Wilhelm Röpke es ausdrückte, das Allgemeine und Dauernde zu bewahren, braucht es starke, unabhängige Institutionen. In einem funktionierenden Rechtsstaat mit einer starken Verfassung können einzelne Interessensgruppen wenig Einfluss nehmen und einzelne Politiker wenig bleibenden Schaden anrichten. Der Rechtsstaat hat seit dem 8. November 2016 deshalb auch bei den US-Demokraten neue Anhänger gefunden. Die Institutionen in den USA werden in den nächsten Jahren Gelegenheit haben, ihre Stärke zu beweisen. Die Institutionen der EU und insbesondere der Eurozone haben diesen Beweis bislang nicht erbracht. Mit jedem Regelbruch verlieren sie weiter an Vertrauen. Es mangelt in der Eurozone an glaubwürdigen Sanktionsmechanismen und letztlich an Exit-Optionen auch für Staaten, die sich an die Regeln dauerhaft nicht halten können oder wollen.

Fassen wir zusammen

Ohnmächtig, verärgert und verunsichert haben viele Menschen Donald Trump gewählt oder für den Brexit gestimmt. Darüber kann man sich echauffieren. Oder man kann mit ordoliberalen Prinzipien antworten. Der Freihandel bietet wirtschaftliche Perspektiven gerade für die Ärmsten. Gegen die Ohnmacht hilft die Rückverlagerung von Kompetenzen auf untere Ebenen. Die Antwort auf den Vertrauensverlust der Meinungseliten ist mehr Demut und eine konsequent rechtstaatliche Politik.

Die Chance ist da, für eine glaubwürdig vertretene ordoliberale Politik als Gegenentwurf zur linksliberalen Meinungselite und als Gegen-Gegenentwurf zum rechtsnationalen Protest Mehrheiten zu gewinnen. Das zeigt sich selbst im sozialistisch geprägten Frankreich und am Kandidaten Fillon. Dieser hatte es mit einer wirtschaftsliberalen und wertkonservativen Agenda zum aussichtsreichen Kandidaten gebracht. Sein Beispiel zeigt aber auch, wie schnell die Glaubwürdigkeit wieder weg ist, wenn man die eigenen Prinzipien nicht auch vorlebt. In Großbritannien und den USA sieht der Economist[3] die Regierungschefs vor dem Dilemma, nicht gleichzeitig populistische und marktwirtschaftliche Konservative sein zu können, wenn sie nicht entweder die Wähler oder die Märkte enttäuschen wollen. Die hier beschriebenen Prinzipien weisen einen Ausweg, den zumindest Theresa May vielleicht auch nutzen wird. Währenddessen vertiefen sich innerhalb der EU die Gräben weiter. Um diesen Prozess zu stoppen, sollten wir uns allen voran in Deutschland, dem Land Ludwig Erhards, wieder auf ordnungspolitische Prinzipien und damit auf die Erfolgsfaktoren der Sozialen Marktwirtschaft besinnen.


[1] Vgl. Inglehart, R. und P. Norris (2016): Trump, Brexit, and the Rise of Populism: Economic Have-Nots and Cultural Backlash.

[2] Vgl. Tim Groseclose (2011): „Left turn: How Liberal Media Bias Distorts the American Mind.“

[3] http://www.economist.com/blogs/buttonwood/2017/01/fatal-contradictions?fsrc=scn/fb/te/bl/ed/

Erstmals erschienen auf The European.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG, Gründer der Initiative “Free Private Cities“.

Vor vielen hundert Jahren waren die Menschen in Deutschland eingeengt durch Landesherren, Lokalfürsten und Bischöfe, die hohe Steuern forderten und das tägliche Leben bis ins kleinste regulierten. Der Kaiser war fern und hatte wenig Macht. Wer Freiheit, Selbstbestimmung und wirtschaftliche Verbesserung suchte, für den gab es nur einen Weg. Er musste in eine Freie Reichsstadt gelangen. Denn der Spruch „Stadtluft macht frei“ galt zu jener Zeit wörtlich. Der Leibeigenschaft konnte entgehen, wer entflohen und nach einer Frist von einem Jahr und einem Tag nicht wieder gefasst wurde. Am besten verließ man die Stadt während dieses Zeitraums nicht; „nach Jahr und Tag“ galt man als freier Mann.

Wieso konnten Freie Reichsstädte überhaupt existieren? Wieso ließen die Fürsten das zu? Tatsächlich waren „Freie und Reichsstädte“ das Ergebnis eines langen Kampfes ihrer Bewohner um mehr Selbstbestimmung. Dieses Abtrotzen von Rechten vom jeweiligen Stadtherrn, von vielen Rückschlägen gezeichnet, mündete schließlich in eine Art Stadtverfassung bis hin zur weitgehenden Unabhängigkeit (Freie Städte) bzw. Direktunterstellung unter kaiserliche Hoheit (Reichsstädte).

In der Stadt Köln etwa fand erstmals 1074 ein größerer Aufstand gegen den herrschenden Erzbischof statt, aufgrund von dessen Ungerechtigkeiten gegenüber Kölner Kaufleuten. Dieser wurde brutal niedergeschlagen. Aber der Drang zu mehr Eigenständigkeit war nicht aufzuhalten. 1103 ist ein eigenes Gericht erwähnt, das Schöffenkolleg, das vom erzbischöflichen Stadtherrn unabhängig war. Ab 1130 bezeichneten sich die Schöffen nach römischem Vorbild als Senatoren. 1216 konnte erstmals ein Stadtrat gegen den Widerstand des Erzbischofs eingerichtet werden. Schließlich verbündeten sich die Kölner 1288 mit einem der umliegenden Territorialfürsten gegen ihren Erzbischof, und besiegten diesen in der Schlacht von Worringen. Seitdem verwalteten sich die Kölner selbst.

Ähnliche Entwicklungen fanden anderswo statt. Die Freien Reichsstädte blühten auf und zogen scharenweise neue Siedler an. Und dann geschah etwas Überraschendes. Die bisherigen Stadtherren versuchten auf einmal nicht mehr, die städtische Unabhängigkeit zu verhindern, sondern versprachen im Gegenteil Ansässigen und Neusiedlern verbriefte Stadtrechte auf ihrem Territorium. Sie wussten um die wirtschaftliche Prosperität freier Städte und rechneten sich dadurch einen eigenen Vorteil aus. Die Städte wiederum bildeten im Laufe der Zeit mächtige Bündnisse wie den Süddeutschen Städtebund oder die Hanse, welche in ganz Nordeuropa Mitgliedstädte hatte und auch Großmächten trotzen konnte.

Vor diesem Hintergrund soll ein Vorschlag gemacht werden, wie wir in Anknüpfung an historische Vorbilder und unter Zuhilfenahme moderner Entwicklungen unser Zusammenleben in Zukunft gestalten könnten. Die Rede ist von Freien Privatstädten.

Analysieren wir zunächst den „Markt des Zusammenlebens“: Staaten existieren, weil offenbar eine Nachfrage nach ihnen besteht. Eine staatliche Ordnung schafft einen Rahmen, innerhalb dessen der Mensch sozial interagieren und friedlich Leistungen und Güter tauschen kann. Das Bestehen von Sicherheit und festen Regeln macht es möglich, dass Menschen in grosser Zahl mit- und nebeneinander leben können. Ein derartiges Zusammenleben ist so attraktiv, dass dafür auch erhebliche Freiheitseinschränkungen akzeptiert werden. Vermutlich würden selbst die meisten Nordkoreaner das Verbleiben in ihrem Land dem freien, aber einsamen Robinson-Dasein vorziehen.

Wenn man nun die Leistungen des Staates bieten und gleichzeitig dessen Nachteile – immer mehr Besteuerung, Bevormundung und Gängelung bei gleichzeitig permanenter Änderung der Spielregeln – vermeiden könnte, hätte man ein besseres Produkt geschaffen. Mein persönliches Fazit nach über 30 Jahren politischer Aktivität lautet, dass echte Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung auf demokratischem Wege nicht zu erreichen ist. Diese Werte werden schlicht nicht ausreichend nachgefragt.

Aber warum nicht ein entsprechendes Nischenprodukt anbieten? Hat es Erfolg, werden mehr Menschen Vergleichbares wollen. Und warum sollten „Staatsdienstleistungen“ nicht rein privatwirtschaftlich von Unternehmen angeboten werden können? All das, was wir vom Markt her kennen, ließe sich auf unser Zusammenleben übertragen: die enorme Vielfalt des Produktangebotes, das Recht etwas nicht zu kaufen, was uns nicht gefällt, schliesslich der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Modellen, der dafür sorgt, dass diese immer billiger und immer besser werden. Der „Staatsdienstleister“ bietet auf einem abgegrenzten Territorium ein bestimmtes Modell an und nur derjenige, dem dies zusagt, siedelt sich dort an. Solche Konzepte müssen attraktiv sein, sonst kommt niemand bzw. wandert wieder ab in andere Systeme.

Freie Privatstädte sind aus bekannten Elementen zusammengesetzt, stellen für sich genommen jedoch eine neuartige Alternative zu bisherigen Regierungssystemen dar. Sie sind herkömmlichen Staaten in mehreren Bereichen überlegen und haben daher auch eine Aussicht auf Umsetzung. Sie sind wie folgt charakterisiert:

1. Freie Privatstädte sind souveräne oder zumindest teilautonome Gebiete, welche als gewinnorientierte Unternehmen geführt werden. Für einen Jahresbeitrag gewährleistet die Betreibergesellschaft als Staatsdienstleister Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum in einem abgegrenzten Gebiet. Die Teilnahme ist freiwillig.

2. Alle Bewohner haben mit der Betreibergesellschaft einen schriftlichen „Bürgervertrag“ geschlossen, der die gegenseitigen Rechte und Pflichten abschließend regelt. Dieser umfasst die vom Betreiber zu erbringenden Leistungen und die dafür zu bezahlende Summe, daneben die in der Freien Privatstadt geltenden Regeln. Dieser Bürgervertrag kann nicht einseitig geändert werden. Im Übrigen können die Bürger tun, was sie möchten, solange sie anderen nicht schaden.

3. Im Falle von Konflikten über Einhaltung oder Auslegung des Bürgervertrages ist jeder Bürger berechtigt, unabhängige Schiedsgerichte anzurufen, die nicht der Organisation des Betreibers angehören.

Diese Konstruktion hat den Vorteil, das sie bereits erprobt und bewährt ist. Sie entspricht dem, was wir aus den privaten Geschäften des täglichen Lebens kennen. Sei es der Brötchenkauf beim Bäcker, der Abschluss einer Versicherung oder die Beauftragung eines Steuerberaters. Stets liegt ein gegenseitiger, einvernehmlich geschlossener Vertrag zu Grunde. Dieser regelt, welches Produkt oder welche Dienstleistung zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis zu liefern ist. Das gilt selbst dann, wenn der Vertrag – wie beim Bäcker – nur durch schlüssiges Verhalten zustande gekommen ist. Der Käufer weiß, dass sein Vertragspartner ein wirtschaftliches Interesse hat; dieser muss ihm weder Gemeinwohl noch Menschheitsrettung als Motive vorgaukeln. Bei Streitigkeiten kann man sich an unabhängige Gerichte oder Schiedsstellen wenden. Kein Verkäufer würde damit durchkommen, dass er nachträglich einseitig den Vertragsinhalt ändert oder eine Streitschlichtung ausschließlich durch eigene Einrichtungen erlaubt.

Auch in einer Freien Privatstadt bezahlt der Bürger nur für das, was er bestellt hat. Er hat einen Rechtsanspruch darauf, dass der Vertrag eingehalten wird, sowie einen Schadensersatzanspruch bei Schlechterfüllung. Streitigkeiten zwischen Bürgern und dem Betreiber werden vor neutralen Schiedsgerichten verhandelt. Ignoriert der Betreiber die Schiedssprüche oder missbraucht er seine Macht auf andere Weise, wandern seine Kunden ab, und er geht in die Insolvenz. Als privater Staatsdienstleister trägt er ein eigenes wirtschaftliches Risiko. Er kann die Kunden auch nicht zwingen, sein Produkt abzunehmen, sondern muss allein durch die Attraktivität seines Angebots Nachfrager finden.

Um eine Freie Privatstadt umzusetzen, ist eine Autonomie im Sinne territorialer Souveränität notwendig. Dies bedeutet nicht zwingend vollständige Unabhängigkeit, aber erfordert zumindest das Recht, die eigenen Angelegenheiten selbständig regeln zu dürfen. Zur Etablierung einer Freien Privatstadt bedarf es daher einer vertraglichen Vereinbarung mit einem bestehenden Staat. In diesem Vertrag räumt der Mutterstaat der Betreibergesellschaft das Recht ein, auf einem abgegrenzten Territorium die Freie Privatstadt zu den vereinbarten Bedingungen zu errichten.

Bestehende Staaten können für ein solches Konzept gewonnen werden, wenn sie sich Vorteile davon versprechen. Insofern unterscheiden sie sich nicht von den Fürsten aus der Zeit der Freien Reichsstädte. Um die Stadtstaaten Hong Kong, Singapur oder Monaco hat sich ein Kordon von dicht besiedelten und wohlhabenden Gegenden gebildet. Dessen Einwohner versteuern in den Mutterstaat. Wenn nun in einem vormals strukturschwachen oder unbesiedelten Gebiet derartige Gebilde entstehen, dann ist dies auch für den Mutterstaat ein gutes Geschäft. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Hongkong nach 1997 nicht von China einverleibt wurde.

Spinnt man den Gedanken weiter, könnten Freie Privatstädte auch ein Ausweg für unterdrückte Minderheiten und Flüchtlinge in Krisenregionen werden.

Wem gehört nun eine Freie Privatstadt? Sie gehört zunächst einmal allen, die dort Eigentum haben. Und wem gehört die Betreibergesellschaft? Hier ist von der Einzelfirma über die Aktiengesellschaft bis hin zur Genossenschaft alles denkbar. Vorstellbar ist, dass jeder Bewohner mit Ansiedlung einen Anteil an der Betreibergesellschaft erwirbt. Er hätte damit teil am wirtschaftlichem Erfolg und auch Mitspracherecht auf den Gesellschafterversammlungen, die über die Besetzung der Verwaltung entscheiden. Ebenso vorstellbar ist, dass der Staatsdienstleister nur einer Privatperson oder ausschließlich den Bewohnern gehört. Und auch alle Arten von Zwischenformen sind denkbar.

Die Eigentumsverhältnisse an der Betreibergesellschaft und die Regelung der Mitsprache sind gar nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass der Betreiber oder auch ein von der Mehrheit gewähltes Gremium nicht immer mehr Befugnisse an sich ziehen und den Bewohnern in ihre Lebensgestaltung hineinreden kann. Daher sind der Vertrag mit jedem einzelnen und die entsprechende Rechtsposition so wichtig. Es geht um größtmögliche Selbstbestimmung, nicht um größtmögliche Mitbestimmung. Wenn jeder frei entscheiden kann, was er tun und wie er leben möchte, gibt es auch für Mitbestimmungsorgane wie Parlamente keinen wirklichen Bedarf. Diese laufen zudem immer Gefahr, von Interessengruppen oder der Regierung für ihre Zwecke gekapert zu werden.

Im Grunde stellt der Betreiber als Dienstleister nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft ergebnisoffen entwickeln kann. Die einzige Veränderungssperre zugunsten von Freiheit und Selbstbestimmung ist der Bürgervertrag. So können sich zwar die Bewohner auf eine Interessenvertretung einigen und etwa einen Gemeinderat etablieren. Aber auch wenn 99% der Bewohner dort mitmachen und sich freiwillig den Mehrheitsentscheidungen unterwerfen, hat dieses Gremium kein Recht, den übrigen 1%, die damit nichts zu tun haben wollen, seine Ideen aufzuzwingen. Das ist der Punkt, an dem bisherige Systeme regelmäßig gescheitert sind: die dauerhafte Gewährleistung der individuellen Freiheit.

Weder Demokratie, noch Verfassung, noch Gewaltenteilung, noch ausgeklügelte Checks and Balances haben sich als geeignet erwiesen, die Rechte des Einzelnen dauerhaft zu schützen. Stets reißen im Laufe der Zeit Gruppen oder Einzelpersonen die Macht an sich und missbrauchen diese nach eigenem Gutdünken.

Das liegt allerdings auch daran, dass alle bisherigen Ordnungen auf einem Über-/ Unterordnungssystem beruhen. Eine Seite ordnet an, die andere muss parieren. Eine Seite ändert ständig die Spielregeln, die andere kann nichts dagegen tun. Das betrifft leider auch die Regeln, die zum Schutz des Einzelnen gedacht sind. Die jeweiligen Machthaber tragen zudem kein eigenes wirtschaftliches Risiko für Fehlentscheidungen, sind rechtlich immun gegen Haftung und haben gegenüber den Regierten keine einklagbaren Verpflichtungen. Eine derartige Macht ohne Haftung korrumpiert am Ende jeden.

In der Freien Privatstadt hingegen ist jeder Souverän Seiner Selbst, der aufgrund freiwilliger Vereinbarung einen echten Vertrag mit einem mehr oder weniger gewöhnlichen Dienstleister abgeschlossen hat. Beide Parteien sind formal gleichberechtigt und somit rechtlich auf Augenhöhe. An die Stelle des Verhältnisses Obrigkeit-Untertan tritt das Verhältnis Kunde-Dienstleister. In herkömmlichen Systemen ist der Bürger zur Steuerzahlung verpflichtet, ohne ein korrespondierendes Leistungsrecht zu haben. In einer Freien Privatstadt stehen Leistung und Gegenleistung in einer direkten Beziehung. Beide Vertragspartner haben einen Anspruch auf Vertragserfüllung, d.h. der Betreiber kann vom Bürger die Zahlung des festgesetzten Beitrags verlangen, aber eben keine zusätzlichen Beträge. Der Bürger wiederum kann vom Betreiber einklagen, dass dieser seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt, indem er etwa Sicherheit und ein funktionierendes Zivilrechtssystem gewährleistet. Wer der Betreibergesellschaft gerade vorsteht und wem diese gehört, ist für das Funktionieren des Modells ohne Belang.

Im Ergebnis weisen Freie Privatstädte gegenüber den Staaten wie wir sie kennen, erhebliche Wettbewerbsvorteile auf:

Lesen Sie weiter auf der Website vom Deutschen Arbeitgeber Verband …

 Photo: B.angerstein from Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)

Merkel-Müdigkeit macht sich breit, könnte man beim Blick auf die jüngsten Umfragen vermuten. Adenauer musste das erfahren und Kohl erst recht. Vielleicht wäre das ein guter Moment, um im neu zu wählenden Bundestag einmal über die Begrenzung von Amtszeiten zu diskutieren …

Bloß keine Veränderung

In politischen Fragen ist Deutschland ein behäbiges Land, in dem Stabilität einen sehr hohen Wert hat. Der zaghafte Revolutionsversuch 1848 erstarb binnen kurzer Zeit, die zweite Revolution von 1918 wurde rasch von bedächtigen Politikern eingehegt und selbst der radikale Umsturz 1933 vollzog sich mit einer fast schon gespenstischen Penibilität. Man muss es ja nicht gleich übertreiben wie die Freunde in Italien, die seit dem zweiten Weltkrieg 28 Ministerpräsidenten verschlissen haben. Aber 8 Bundeskanzler (bei 11 Bundespräsidenten) in 68 Jahren sind schon ein Zeichen enormer Beharrlichkeit – nicht nur der Amtsinhaber, sondern auch der Wähler … Zieht man auch noch die beiden Kanzler ab, die keine volle Legislaturperiode hindurch regiert haben (Erhard und Kiesinger), dann liegt die durchschnittliche (!) Verweildauer im Amt bei über 10 Jahren.

Verglichen mit anderen Ländern, in denen der entsprechende Regierungschef eine ähnlich einflussreiche Stellung wie der deutsche Bundeskanzler hat, ist unser Land immer noch enorm stabil. Österreich hatte 12 Bundeskanzler seit 1945 (Rekordhalter: Bruno Kreisky mit 13 Jahren im Amt), die Niederlande hatten 16 Ministerpräsidenten (Rekordhalter: Ruud Lubbers 12 Jahre) und Großbritannien hatte 15 Premierminister (Rekordhalterin: Margaret Thatcher 11 Jahre). Im verfassungsrechtlichen Diskurs ist das Argument gegen eine Amtszeitbeschränkung dieser Regierungschefs in der Regel, dass sie schließlich von einem Parlament gewählt, kontrolliert und im Zweifel auch wieder abgewählt werden können. Nur in Präsidialsystemen wie Frankreich, den USA und den lateinamerikanischen Staaten, wo der Präsident vom Volk gewählt wird, sei eine Beschränkung nötig.

Macht korrumpiert – und schließt sich in muffigen Räumen ein …

So weit die Theorie. In der Praxis kann das oft anders aussehen. Insbesondere in Ländern wie Deutschland, wo die Parteien stark hierarchisch durchorganisiert sind und vor allem als Machtbasis dienen („Kanzlerwahlverein“). De facto ist hier die parlamentarische Kontrolle sogar oft weniger leicht möglich als in Präsidialsystemen, weil Exekutive und Parteien viel enger verschränkt sind. Hierzulande sitzen Bundeskanzler sehr fest im Sattel: Als Kohl die fünfte Amtszeit anstrebte, regte sich kaum Widerstand in seiner Partei. Und seit kurzem ist auch Seehofer wieder ein Fan von Frau Merkel. Die theoretische Machtbeschränkung ist in der Praxis kaum relevant und es droht eine Art Ämtersklerose.

Das erste und wichtigste Argument für die Beschränkung von Amtszeiten ist die Erkenntnis, dass Macht korrumpiert. Daneben gibt es aber auch andere eher pragmatische Gründe, die dafür sprechen, keine dauernde Wiederwahl zuzulassen – oder zumindest Karenzzeiten einzubauen bis sich jemand wieder zur Wahl stellen kann. Dazu gehört etwa die Erkenntnis, dass das Schielen auf eine Wiederwahl zu wenig nachhaltigen Entscheidungen führt. Häufige Wechsel in Ämtern können zudem mehr frischen Wind in die Landschaft politischer Ideen bringen. Neue Ansätze scheitern dann nicht mehr so leicht an festgefahrenen Machtstrukturen. Es wird vermieden, dass sich eine Politikerkaste bildet, die für niemanden außerhalb des esoterischen Zirkels zugänglich ist.

Berufspolitiker: Feudalherrscher und Philosophenkönige

Das Berufspolitikertum ist letztlich ein Erbe des alten feudalen Systems wie auch der Idee Platons von den Philosophenkönigen. Wenn Politik eine Lebensaufgabe ist, dann ist ein System unausweichlich, in dem man sich hochdienen muss, indem man bestehende Strukturen bestätigt und wiederholt. Die Nachstrebenden sind letztlich abhängig von der Gnade und Gunst derjenigen, die über ihnen stehen. Daran ändern auch vermeintliche Wahlen nichts, wie man zuletzt an der Ausrufung des Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden der SPD durch dessen Vorgänger sehr schön sehen konnte. Diese Kaste umgibt sich zugleich mit der Aura des Philosophenkönigtums. Weil sie Politik zu ihrem Beruf gemacht hat, reklamiert sie auch für sich selbst die entsprechende Kompetenz, die sie gegenüber dem Wähler hervorhebt.

Zweifellos: Jemand wie Wolfgang Schäuble, der 45 Jahre lang Mitglied im Bundestag war, neun davon als Fraktionsvorsitzender, und außerdem 19 Jahre lang als Minister gedient hat, verfügt über ein äußerst hohes Maß an Erfahrung. Aber eben auch nur in der Welt der Politik. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass die Vorteile dieser möglichen Erfahrung ab einem gewissen Punkt auch durch die Nachteile überwogen werden, die durch mangelnde Innovationsfreude, die Bequemlichkeit einer Blase und die beständige Fixierung auf Machterhalt und -erweiterung entstehen.

Ein Vorschlag zur Güte

Wenn sich im Herbst der neue Bundestag konstituiert, wäre ein guter Zeitpunkt, um die Beschränkung von Amtszeiten auf die Tagesordnung zu setzen. Nicht nur bei direkt gewählten Präsidenten ist diese Prinzip häufig anzutreffen. In Mexiko und den Philippinen etwa dürfen Senatoren nur auf eine bzw. zwei Legislaturperioden von 6 Jahren gewählt werden und müssen danach zumindest eine Periode pausieren, bei Abgeordneten liegt die Beschränkung bei einer bzw. drei aufeinanderfolgenden Perioden von drei Jahren. Vor zwei Jahren wurde in den USA ein unter anderem von Marco Rubio und Rand Paul unterstützter Gesetzesvorschlag diskutiert, mit dem Senatoren nur zwei Mal für 6 Jahre und Abgeordnete nur drei Mal für zwei Jahre hintereinander gewählt werden dürften.

Ein Vorschlag für den 19. Deutschen Bundestag: Bundeskanzler und Minister sollten höchstens zwei Legislaturperioden lang ein Regierungsamt innehaben und dann für eine Legislaturperiode, mindestens aber zwei Jahre pausieren. Abgeordnete sollten höchstens für drei aufeinanderfolgende Legislaturperioden im Bundestag sitzen dürfen (das wäre immer noch über der aktuellen durchschnittlichen Verweildauer von 10,45 Jahren), um dann einmal auszusetzen ehe sie sich wieder zur Wahl stellen können. Die geschicktesten unter den Politikern werden dann vielleicht als verbeamtete Staatssekretäre oder an vorderen Stellen der Parteiapparate zu überwintern versuchen. Doch es wird dann zumindest nicht mehr so leicht, in das alte Amt zurückzukehren. Und die klügeren unter den Politikern werden die Gelegenheit nutzen, um anderswo Erfahrungen zu sammeln und sich wieder mit dem Leben außerhalb der Blase zu beschäftigen. Das könnte dann auch bei ihrer Rückkehr ein überzeugendes Argument sein …

Photo: Dennis AB from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Matthias Bauer, Senior Economist beim European Centre for International Political Economy (ECIPE), Brüssel. Dr. Bauer ist auch verantwortlich für die sehr ausführliche Analyse „Manufacturing Discontent – The Rise to Power of Anti-TTIP-Groups„.

Ein Wesensmerkmal von totalitären Regierungen ist es, dass sie das Denken von Menschen in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchen. Erfolgreich sind sie am ehesten, wenn nicht nur möglichst viele Menschen anfangen, an die Positionen und Ziele dieser Regierungen zu glauben, sondern sich tiefgreifend und auf Dauer mit ihnen identifizieren. Donald Trump ist sicher kein mustergültiger Autokrat. Der Wahlkampf und die ersten Regierungstage des jüngst vereidigten US-Präsidenten zeigen indessen unübersehbare Züge eines Kommunikationsverhaltens, das man am ehesten bei autokratischen Machthabern und Klientelpolitkern vermuten würde, die in aller Regel nicht das Gemeinwohl im Blickfeld haben.

Man muss kein Experte für politische Kommunikation sein, um in der Arte und Weise, wie Trump mit Fakten und der Vereinfachung von komplexen Sachverhalten umgeht, Ähnlichkeiten zur (deutschen) Anti-TTIP-Bewegung zu erkennen. Mit anmaßender Zweifellosigkeit, katastrophischen Gedanken, Gruppendenken (WIR!), der bewussten Unterschlagung von Fakten und dem Heraufbeschwören von Misstrauen und Neid gegenüber ausgemachten Feinden der Gesellschaft kämpfen beide effektiv für dieselben Ziele: Wirtschaftliche Abschottung und die Rückbesinnung auf das Nationale.

Würde die Freiheitsstatue fühlen können, es würde ihr die Tränen in die Augen treiben. Würde sie sprechen können, hätte sie sich angesichts der Missachtung ordnungspolitischer Prinzipien durch die Politik vergangener Jahrzehnte – denn daraus ziehen diese und andere nationalistische Bewegungen ihren Erfolg – mahnend zu Wort gemeldet.

Über jeden Zweifel erhaben: Gehasst wird stets ungenau

In ihrem Buch „Gegen den Hass“ fragt die Autorin Carolin Emcke, ob sie hassende Menschen beneiden sollte. Schließlich sei Hass ein Phänomen, das absoluter Gewissheit bedürfe, ein Gefühl, das ohne genaues Hinsehen auskomme. In diesem Lichte betrachtet erscheinen die griffigen Kampagnen-Slogans der Anti-TTIP-Bewegung als Ausdruck eines tiefsitzenden Hasses, der sich gegen die Gesellschaft, so wie sie ist, als Ganzes richtet und der über jeden Zweifel erhaben scheint. Ob die Kampagnenmanager von attac, BUND, Campact, Greenpeace und auch den ihnen verbundenen Parteien diejenigen sind, bei denen der Hass am tiefsten sitzt, lässt sich nicht ohne weiteres attestieren. Nicht zuletzt seit Machiavelli weiß man allerdings, dass man mit der Heraufbeschwörung von Hass gute Geschäfte machen und politische Wahlen beeinflussen kann. Vor allem die an den TTIP-Protesten maßgeblich beteiligten Nichtregierungsorganisationen haben finanziell von der Verbreitung und Heraufbeschwörung griffiger Hass-Metaphern wie „Kapitalismus geht über Leichen“, „TTIP ist böse“, „TTIP ist unfairhandelbar“ und „Stopp TTIP“ profitiert.

Damit richteten sich die pfiffigen Kampagnenmanager vor allem an diejenigen Menschen, die gegenüber Politik, Staat, Gesellschaft – und Amerika – gemeinhin skeptisch bis ablehnend eingestellt und zugleich zugänglich für einfache Wahrheiten sind. Wie in einer Kurzreportage des ARD-Magazins Plusminus vom 14. Dezember 2016 in erschreckender Weise deutlich wird, zielten die von den Kampagnen-NGOs entwickelten Banner und Schlagzeilen ganz bewusst nicht darauf ab, Bürger ausgewogen und evidenzbasiert zu informieren. Richtig aufklären, das wollten sie nie. Und dies eint sie mit der politischen Rechten. Ihre Zwecke, in der Regel Organisationsinteressen (Spenden) oder die Aussicht auf politisches Mandate, scheinen dabei alle Mittel zu heiligen.

Und was macht Donald Trump? Auch in der Rhetorik Donald Trumps und seiner Anhänger wird das Wunderbare, nämlich die sozialen und materiellen Errungenschaften eines international möglichst freien Handels, zum Wundersamen und Ablehnungswürdigen herabgesetzt. Trump fordert nicht nur genau das, was sich linke Parteien und die Kampagnen-NGOs in den Protesten gegen TTIP so groß auf die Fahnen geschrieben haben; mit der Aufkündigung von Handelsabkommen und der Einführung von Zöllen und Strafsteuern für Importeure will er es für die USA nun auch politisch umsetzen. Sozial und national soll es sein. Oder auch umgekehrt.

Die Tatsache, dass sich Trump auf eine politisch dann doch eher diskriminierende Einwanderungspolitik eingeschossen hat, müsste den Spin-Doktoren der Anti-TTIP-Kampagnen-NGOs, noch vielmehr allerdings den leichtgläubigen Unterstützern der Anti-TTIP-Bewegung, zu denken geben. In Trumps „America First“-Vision wird, genauso wie in den Protest-Aktionen gegen TTIP, vieles vermischt. Mit Hasspredigen gegen TTIP und die USA und dem bewussten Diffamieren und Dämonisieren der politischen Gegner (neudeutsch: bullying) haben sie dem Trumpismus auf beiden Seiten des Atlantiks einen fruchtbaren Boden bereitet.

Verbreitung katastrophischer Gedanken und bewusstes Unterschlagen von Fakten

Attac schreibt: „Freihandelsfalle TTIP“. Greenpeace schreibt, es handele sich bei Investitions-Schiedsgerichten per se um eine „Paralleljustiz für Konzerne“. Und die Katholische Arbeiterbewegung sagt in Anlehnung an Papst Franziskus, und ganz im Sinne befreiungstheologischer Rhetorik, „Nein zu einer Wirtschaft die tötet – Nein zum transatlantischen Freihandelsabkommen!“ Kaum jemand in Deutschland hat mittlerweile nicht mitbekommen, dass TTIP einen Angriff auf unsere Demokratie darstellt und US-Konzerne zukünftig unsere Gesetze nicht nur schreiben, sondern diese auch gegen den Willen der Bürger durchsetzen werden. Dies sind die Narrative, die den Bundesbürgern von den Kampagnenorganisationen und deren federführenden Protagonisten seit 2013 mit Kalkül in den Mund gelegt wurden.

Dabei erlebten die Kampagnenmacher nicht nur in den sozialen Online-Medien Facebook und Twitter, wo sich ihre Positionen viral verbreiteten, etliche Sternstunden; sie schafften es auch, deutsche Vereinssäle und Gemeinderäume zu füllen. Etwa 60 Prozent aller zwischen Februar 2015 und Februar 2016 stattfindenden TTIP-Veranstaltungen in Deutschland wurden von erklärten Anti-TTIP-Bündnisorganisationen veranstaltet. Knapp 50 Prozent aller selbsternannten Experten wurden von den Bündnisorganisationen entsendet. Die mit Abstand am häufigsten auftretenden TTIP-Gegner haben indessen so gut wie keinen Bezug zu Unternehmen, geschweige denn Importeuren und Exporteuren. Sie wurden beruflich ausnahmslos in politischen Parteien, staatlichen Institutionen, Gewerkschaften oder sog. Nichtregierungsorganisationen sozialisiert. Gleichwohl sind sie ganz besonders gewiefte Geschäftemacher: Sie leben gut vom Protest gegen das System. Dabei vereinfachen sie, unterschlagen Fakten und gängeln diejenigen, die nicht ihren Meinungen folgen mit dem Ziel ein Meinungsmonopol zu schaffen.

Die Tatsache, dass Donald Trump Menschen aus der Wirtschaft in hohe politische Ämter gehoben hat, gibt Anlass zur Hoffnung, dass mit ihnen ein gemäßigterer Ton in die politischen Debatten der USA eingekehrt. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass auch Donald Trump im Rahmen seiner Wahlkampfreden und -tiraden die amerikanische Gesellschaft bewusst tief gespalten hat. Auch er hat mit griffigen Metaphern komplexe wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge berechnend vereinfacht. Auch er hat berechnend polarisiert, diffamiert und die Sorgen, Nöte und Vorbehalte vieler Bürger in festsitzende Ressentiments im Sinne neidisch-feindseligen Denkens gekehrt.

Die Antworten einer gemäßigten, gemeinwohlorientierten Politik sind die Antworten des Ordoliberalismus 

Auch wenn Donald Trump und die Strippenzieher hinter den Anti-TTIP-Protesten zur Wirklichkeitsillusion neigen, trafen sie innerhalb breiter Teile der Bevölkerungen doch einen Nerv. Den Grundstein für den Erfolg beider Bewegungen – zu denen man auch die Pro-Brexit-Kampagnenbewegung ins Verhältnis setzen kann – haben in der Vergangenheit jedoch andere gelegt, nämlich diejenigen Politiker, die sich naiv von ordnungspolitischen Prinzipien abgewendet und somit das Vertrauen vieler Bürger in Staat und Politik leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben.

Die Kampagnen gegen TTIP (oder für den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union) waren nur deshalb so erfolgreich, weil durch die Europapolitik der vergangenen Jahre gewaltige Umverteilungsmechanismen in Gang gesetzt und zugleich Regelbindung und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor systematisch missachtet werden. Auch in den USA scheint der schon lange schwelende Konflikt zwischen staatlich verordneter Solidarität und Eigenverantwortung – aus europäischer Perspektive zugegebenermaßen einigermaßen schwer nachzuvollziehen – eine treibende Kraft gewesen zu sein.

Für Europa lassen sich die Umverteilungs- und Rechtsstaatsprobleme exemplarisch an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, der Nichtbeachtung der immer wieder aufgeweichten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sowie gegenwärtigen politischen Bestrebungen, eine europäische Arbeitslosenversicherung oder eine europäische Einlagensicherung zu schaffen, festmachen. Auch wenn jedes dieser Problemfelder gesondert betrachtet werden muss: Individualpsychologisch geht damit die Wahrnehmung einher, man verliere die Kontrolle über das eigene Leben, sein Eigentum und würde von den „Elitären“ geschröpft, reglementiert und systematisch über den Tisch gezogen.

Um es mit den Worten Goethes zu sagen: Solange es die Politik versäumt, Gesetze zu verabschieden, in denen Eigenverantwortung, Subsidiarität und die Durchsetzung von Regeln Vorrang gegenüber ausufernden und faktisch unkontrollierbaren Umverteilungsmechanismen haben, werden die ideologischen Skizzisten, die immer nur entwerfen ohne etwas fertig zu machen, und die Punktierer, die das Große und Ganze aus den Augen verlieren, auch zukünftig in breiten Teilen der Bevölkerung (unvernünftige) Leidenschaften heraufbeschwören können. Den politischen Neblern, die das Ahnungsvolle bevorzugen, muss prinzipiengeleitet entgegengetreten werden, um die Säulen, auf denen unsere freiheitliche und pluralistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufbaut, vor Erosion zu bewahren. Die dauerhafte Orientierung an ordoliberalen Prinzipien würde der Gefährlichkeit politisch linker und rechter Ideen dauerhaft die Gefahr nehmen.

Photo: Roman Herzog Institut

Im Anschluss an diesen Artikel finden Sie noch etwas ausführlichere Zitate aus Reden Roman Herzogs, die mit den hier behandelten Themen zusammenhängen.

In der Geschichte der Bundesrepublik ragen zwei Persönlichkeiten hervor, die sich mit besonderer Integrität und Standhaftigkeit für die Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger eingesetzt haben: der eine war Ludwig Erhard und der andere der in dieser Woche verstorbene Roman Herzog.

Immun gegen die Verlockungen der Macht

1993: Helmut Kohl schielt nach der vierten Amtszeit, das Land ist wiedervereinigt, läuft aber auf Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit zu. Die Bundespräsidentenwahl steht im kommenden Jahr an und für die SPD will endlich Johannes Rau an seinen Traumjob kommen. Die CDU hingegen befindet sich im Kreuzfeuer der Kritik: Sie hat mit Steffen Heitmann zwar einen Kandidaten aus den neuen Bundesländern. Aber Heitmann ist ein profilierter Konservativer, der sich auch im Umfeld der damals gerade aufkommenden „Neuen Rechten“ bewegt. Er muss schließlich seine Kandidatur zurückziehen und Kohl entscheidet sich für den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts als Kompromisskandidaten. Ähnlich wie einst Erhard von Adenauer nur mit Zähneknirschen akzeptiert wurde, wird auch Herzog nur mit wenig Begeisterung seitens des Kanzlers ins Amt gebracht.

Doch solche Männer und Frauen, die von den Mächtigen nicht gewünscht und gewiss nicht geliebt wurden, waren oft die wichtigsten Persönlichkeiten ihrer Ära. Denn in diesen seltenen Fällen, wo Menschen an Macht kamen, die sie nicht angestrebt hatten, zeigten sie oft eine erhebliche Immunität gegenüber deren Verlockungen. Sie waren und blieben Überzeugungstäter. Und so war die Wahl Herzogs zum Bundespräsidenten denn auch eine der wichtigsten Entscheidungen nach der Wiedervereinigung. Die meisten politischen Richtungsentscheidungen, die Deutschland und Europa in den letzten zwei Jahrzehnten positiv vorangebracht haben (oder voranbringen könnten), wurden von Herzog vorbereitet und inspiriert.

Der selbstverantwortliche Bürger

Auch nach seiner Amtszeit hat er noch nachhaltig Einfluss ausgeübt. Die Grundforderungen seiner Ruck-Rede arbeitete er 2003 im Rahmen der sogenannten Herzog-Kommission für seine Partei zu programmatischen Grundsätzen aus. Diese Forderungen bildeten die Grundlage für die Beschlüsse des Leipziger Parteitags, in dem die CDU ein Reformprogramm beschloss, das eine unerhörte Rosskur für den Wohlfahrtsstaat bedeutet hätte und noch weit über die späteren Agenda-Reformen Schröders hinausging. Herzogs unermüdliche mahnende Hinweise auf den Reformstau waren ein wichtiger Meilenstein hin zu den wegweisenden Entscheidungen der Regierung Schröder.

Drei Themen haben seine Amtszeit als Bundespräsident wesentlich bestimmt – drei Themen, die geradezu visionär jene Herausforderungen adressiert haben, vor die wir uns heute mehr denn je gestellt sehen: eine zeitgemäße Bildung, die Zukunft der Europäischen Union und insbesondere die grundlegenden Reformen, die sowohl in den Institutionen unseres Landes als auch in den Köpfen seiner Bürger dringend notwendig sind. Herzog hat niemals politisiert, war aber alles andere als unpolitisch. Er war meinungsstark, aber gerade deshalb am Dialog interessiert. Er provozierte nicht, weil er daran Spaß gehabt hätte, sondern, weil er es als seine Verantwortung begriff, auf Probleme hinzuweisen. Er war kein Grüß-August und hielt keine Sonntagsreden, weil er sich den Bürgern nicht überlegen wähnte, sondern überzeugt war, dass sie sich selber eine Meinung bilden und Entscheidungen treffen können.

Wider den Zentralismus

Kaum etwas hat einen so nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft und das Selbstverständnis der Staatsbürger wie das Bildungssystem. Ein Einheitssystem unter politischer Steuerung kann die freie Bürgergesellschaft langfristig unterminieren. Und so plädierte Herzog in zahlreichen Reden und Aufsätzen immer wieder für ein wettbewerblich organisiertes System, in dem Schulen und Hochschulen weitgehende Autonomie besitzen. Warum, so der Präsident, hat „ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum … als ein Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik?“ Leider hat die Politik in Ländern und Bund diese klugen Ratschläge ignoriert und mit Neuausrichtungen im Zwei-Jahres-Rhythmus nicht Wettbewerb, sondern zentral gesteuertes Chaos produziert.

Herzogs Vision von Europa war eines, das „mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung“ arbeitet: „Europäische Einigung macht … eine Revitalisierung der kleinen Einheit dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen Zentren oder gar die supranationalen Einheiten.“ Und: „ihre Lernfähigkeit ist größer.“ Wie für viele seiner Generationsgenossen war auch für ihn Europa ein Herzensanliegen. Das verstellte ihm aber keineswegs den Blick für die Probleme, die schon vor zwanzig Jahren sehr offen zutage lagen. Vor allem aber versprach er sich nichts von „mehr Europa“. Er suchte nach dem besten Europa – und das lag seiner Überzeugung nach darin, dass es ein immer höheres Maß an „mehr Bürger“ ermöglicht.

Die Würde des Menschen liegt in seiner Selbstverantwortung

Das Wort vom „Ruck“ ist gerade auch in den letzten Tagen oft zitiert worden. Diese Aufforderung war aber mitnichten nur ein technischer Hinweis. Dahinter steht ein Menschenbild: Die Überzeugung, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist und Bequemlichkeit eine schlechte Verhaltensmaxime. „Wir haben den Staat … jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen.“ Aus diesem Käfig wollte er seine Mitbürger herausführen – hin zur Selbständigkeit. Nicht nur die materiellen Verhältnisse sollten wieder besser werden. Bei der 150-Jahr-Feier der Revolution von 1848 sagte er: „Vor uns liegt ein neues Zeitalter: In dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß. Das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt.“

Als Roman Herzog vor einem Jahr den Ehrenpreis der Hayek-Stiftung in Freiburg erhielt, sagte Joachim Gauck in seiner Laudatio: „Sie haben immer Klartext geredet: die Idee der Freiheit, sie sei keine Garantie der Freiheit. Aber es ist eine eminent menschenfreundliche Idee, weil sie mit den gewaltigen Potenzialen rechnet, die in jedem Menschen – offenkundig oder verborgen – stecken, eine Idee, die ihm die Fähigkeit und Würde zuspricht, zum Herrn und Meister seines eigenen Schicksals zu werden.“ Dass die Würde des Menschen zuvorderst in seiner Befähigung liegt, für sein eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen, war die zentrale Botschaft von Roman Herzog. Sie sollte dieses Land, seine politischen Verantwortlichen und vor allem seine Bürger auch in Zukunft begleiten, ermuntern und ermutigen.


Auszüge aus Reden von Bundespräsident Roman Herzog

Weihnachtsansprache 1995, 25. Dezember 1995

„Dem Frieden und der Mitmenschlichkeit wäre auch sehr gedient, wenn wir mit unserer Sprache sorgfältiger und menschlicher umgingen, als wir es gelegentlich tun. Wie leicht fällt es uns beispielsweise, andere kurzerhand als Lügner und Betrüger, als Verbrecher oder Mörder zu bezeichnen, nur weil wir die Lust zum Verletzen oder zumindest zum Übertreiben verspüren?“

Ansprache auf der Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e.V., 5. März 1997

„Wenn Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit verlorengehen – sei es durch den Staat, seine Bürokratie oder seine Gesetze, sei es, weil die Bürger aus Bequemlichkeit oder Unlust ihre Freiheit nicht mehr nutzen und gar nicht mehr nutzen wollen und immer mehr Menschen die ‚Sehnsucht nach Betreuung‘ überkommt: Dann sind nicht nur die Existenzbedingungen selbständiger Unternehmer in Deutschland gefährdet. Dann sind unsere marktwirtschaftliche Ordnung und unsere freiheitliche Gesellschaft insgesamt bedroht.

Diese Art der Unfreiheit kommt in den modernen Demokratien nicht mehr mit dem Polizeiknüppel. Der ist zum Glück gebändigt. Unfreiheit kann auch auf leisen Sohlen daherkommen, wie ein schleichendes Gift, das wir ohne das rechte Gefahrenbewußtsein freiwillig konsumieren, dessen Verschreibung manche sogar ausdrücklich fordern. Weil es so bequem ist, ist es besonders gefährlich.

Wir sind nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen europäischen Staaten mit zwei einander scheinbar widersprechenden Entwicklungen konfrontiert:

Noch nie haben so viele Menschen auf so engem Raum mit so großen individuellen Freiheitsräumen und in so beachtlichem Wohlstand zusammengelebt wie in den offenen, marktwirtschaftlich verfaßten Demokratien unserer Zeit.

Noch nie waren wir aber auch – und zwar freiwillig! – derart komplexen Regularien und Vorsorgemaßnahmen für immer neue, weitere Lebensbereiche unterworfen. Sie alle haben wir im demokratischen Verfahren selbst geschaffen, und zwar mit dem vermeintlichen Ziel, unsere Freiheitsräume gegen jedwedes Risiko abzusichern. In Wirklichkeit haben wir aber den Staat – mit unserem Mandat – jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen. Darin büßen die Menschen in scheinbarem Wohlbefinden zunehmend ihre Freiheit ein und zugleich ihre Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Kräfte zu mobilisieren.

Trotz aller guten Absichten ist damit oft das Gegenteil von dem erreicht worden, was wir angestrebt haben: Die Verantwortung des Staates ist weithin an die Stelle der Verantwortung des einzelnen Bürgers für sich und seinen Nächsten getreten. Diese Mentalität ist übrigens – entgegen allen anderslautenden Gerüchten – kein Spezifikum der Empfänger von sozialen Zuwendungen. Man findet sie im Subventionsbereich ebenso wie bei der zähen Verteidigung wettbewerbsbeschränkender Refugien, die es vielerorts ja auch noch gibt.

Ein Modell, das an die Stelle persönlicher Verantwortung des Einzelnen die umfassende Zuständigkeit staatlicher Einrichtungen für sämtliche denkbaren Wechselfälle des Lebens und für nahezu alle Bürger setzt, überfordert aber den Staat und nicht nur seine Finanzen. Es gefährdet damit gerade die Interessen derer, die sich wirklich nicht selber helfen können und für die es ursprünglich einmal geschaffen worden war. Außerdem kümmern wir selbst uns immer weniger um unseren Nachbarn, weil wir denken: ‚Das erledigt schon der Staat.‘“

Berliner Rede 1997, 26. April 1997

„Das ist ungeheuer gefährlich, denn nur zu leicht verführt Angst zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertigzuwerden. Unser deutsches Wort ‚Angst‘ ist bereits als Symbol unserer Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. ‚Mut‘ oder ‚Selbstvertrauen‘ scheinen dagegen aus der Mode gekommen zu sein.

Unser eigentliches Problem ist also ein mentales: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüssten, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Während die Auswirkungen des technischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen der Demographie für die sozialen Netze auch andere Industrieländer, etwa Japan, heimsuchen, gibt es für den Modernisierungsstau in Deutschland keine mildernden Umstände. Er ist hausgemacht, und wir haben ihn uns selbst zuzurechnen.

Stattdessen gefallen wir uns in Angstszenarien. Kaum eine neue Entdeckung, bei der nicht zuerst nach den Risiken und Gefahren, keineswegs aber nach den Chancen gefragt wird. Kaum eine Anstrengung zur Reform, die nicht sofort als ‚Anschlag auf den Sozialstaat‘ unter Verdacht gerät. Ob Kernkraft, Gentechnik oder Digitalisierung: Wir leiden darunter, dass die Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden – teils ideologisiert, teils einfach ‚idiotisiert‘. Solche Debatten führen nicht mehr zu Entscheidungen, sondern sie münden in Rituale, die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufen, nach einer Art Sieben-Stufen-Programm:

Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.

Die Medien melden eine Welle ‚kollektiver Empörung‘.

Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.

Die nächste Phase produziert ein Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.

Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.

Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur ‚Besonnenheit‘.

Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.

Diese Rituale könnten belustigend wirken, wenn sie nicht die Fähigkeit, zu Entscheidungen zu kommen, gefährlich lähmen würden. Wir streiten uns um die unwichtigen Dinge, um den wichtigen nicht ins Auge sehen zu müssen. Erinnert man sich heute noch an den Streit über die Volkszählung, der vor ein paar Jahren die ganze Nation in Wallung brachte? Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich zu beliebigen Themen, Hauptsache, es wird kräftig schwarzgemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist; ohnehin wird die Qualität der Argumente dabei oft durch verbale Härte, durch Kampfbegriffe und ‚Schlagabtausche‘ ersetzt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind, in einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt werden müsste. Ich mahne zu mehr Zurückhaltung: Worte können verletzen und Gemeinschaft zerstören. Das können wir uns nicht auf Dauer leisten, schon gar nicht in einer Zeit, in der wir mehr denn je auf Gemeinschaft angewiesen sind. […]

Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Selbständigkeit anzustreben, in der der Einzelne mehr Verantwortung für sich und andere trägt, und in der er das nicht als Last, sondern als Chance begreift? Eine Gesellschaft, in der nicht alles vorgegeben ist, die Spielräume öffnet, in der auch dem, der Fehler macht, eine zweite Chance eingeräumt wird. Eine Gesellschaft, in der Freiheit der zentrale Wert ist und in der Freiheit sich nicht nur durch die Chance auf materielle Zuwächse begründet. […]

Wir müssen unsere Jugend auf die Freiheit vorbereiten, sie fähig machen, mit ihr umzugehen. Ich ermutige zur Selbstverantwortung, damit unsere jungen Menschen Freiheit als Gewinn und nicht als Last empfinden. Freiheit ist das Schwungrad für Dynamik und Veränderung. Wenn es uns gelingt, das zu vermitteln, haben wir den Schlüssel der Zukunft in der Hand. Ich bin überzeugt, dass die Idee der Freiheit die Kraftquelle ist, nach der wir suchen und die uns helfen wird, den Modernisierungsstau zu überwinden und unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu dynamisieren. […]

Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“

Ansprache zum 40. Symposium der Ludwig-Erhard-Stiftung „Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Erbe und Verpflichtung“, 11. Juni 1997

„Deshalb werden Systeme, die mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung arbeiten, in aller Regel besser bestehen. Ihre Fähigkeit, Probleme zu erkennen, Lösungen dafür zu suchen und zu finden und sie dann auch in die Realität umzusetzen, ist größer oder – einfacher ausgedrückt – ihre Lernfähigkeit ist größer. Der Erfolg ist zwar auch ihnen nicht sicher; denn das ist im menschlichen Leben überhaupt nichts. Aber er ist wahrscheinlicher als in jedem anderen System.

Hierin liegt die große Chance der offenen Gesellschaft. Man kann das – vorsichtig quantifizierend – auch so ausdrücken: Je mehr Personen, Einrichtungen und Unternehmen sich am Aufspüren neuer Probleme und Bedürfnisse beteiligen und je mehr sich an ihrer Lösung bzw. Befriedigung versuchen, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, daß beides wirklich erreicht wird.“

Rede auf dem Berliner Bildungsforum im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, 5. November 1997

„Wenn wir mehr Spitzenleistungen wollen, müssen wir Unterschiede in den Leistungen sichtbarer machen. Das beginnt schon bei den Schulen: Geben wir ihnen wieder mehr Verantwortung zurück! Was spricht etwa dagegen, sie bei der Auswahl des Kollegiums zu beteiligen? Ich habe auch nie verstanden, warum Lehrer und Professoren unbedingt Beamte sein müssen, warum die Verwaltung in das Korsett einer kameralistischen Haushaltsführung gepreßt werden muß, warum ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum hat als der Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik.

Und warum haben wir uns bislang gescheut, unsere Schulen in einen Vergleich treten zu lassen, der den Wettbewerb fördert? In den USA ist Präsident Clinton gerade dabei, einen ‚national achievement test‘ für Schüler einzuführen, damit Eltern im ganzen Land wissen, welche Schulen gut und welche weniger gut sind. Wäre das nicht auch ein Modell für uns? Könnten dann nicht die guten Schulen das Vorbild und den Ansporn für andere geben, die eigenen Angebote zu verbessern? […]

Bei dieser Gelegenheit sollten wir nicht zuletzt auch das förderalistische Einstimmigkeitsprinzip unserer Bildungspolitik zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen machen. Der Sinn des Föderalismus ist doch gerade, unterschiedliche Lösungen möglich zu machen. Was ist wichtiger – die ‚Einheitlichkeit der Bildungsverhältnisse‘ (was immer das sein mag) oder der Wettbewerb um den besten Weg aus der Sackgasse, in dem sich unser Bildungswesen befindet? Wäre es nicht besser, die bundesweiten Festlegungen so weit irgendmöglich zu beseitigen und stattdessen sowohl die Länder wie auch die einzelnen Bildungseinrichtungen experimentieren zu lassen? Reicht nicht eine Verständigung auf sorgfältig festzulegende Mindeststandards? Natürlich muß auch weiterhin ein Wechsel von Kiel nach Passau möglich sein. Aber vergessen wir nicht: In Zukunft wird auch ein Wechsel von Freiburg nach Straßburg oder von Bologna nach München auf der Tagesordnung stehen, und darauf sind wir wenig vorbereitet.“

Rede anlässlich der Veranstaltung „150 Jahre Revolution von 1848/49“ in der Paulskirche zu Frankfurt am Main, 18. Mai 1998

„Wo scheinbar alle Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand die Verantwortung. Ein undurchsichtiges Geflecht von Kompetenzen und Finanzierungen entsteht, die Erpreßbarkeit des Gesamtstaats durch in Lobbies organisierte Gruppen nimmt zu. Ergebnis: Man handelt zwar, aber man handelt wie auf einem Basar. Deswegen sage ich: Wir brauchen nicht nur eine Steuerreform mit weniger Ausnahmen und niedrigeren Tarifen; wir müssen auch im Verhältnis von Bund und Ländern zu einer Entflechtung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen kommen. Finanzentscheidungen und Sachverantwortung müssen wieder zusammengeführt werden, oder, mit einfachen Worten: Wer bestellt, der soll – jedenfalls im Prinzip – auch bezahlen. […]

Föderalismus ist nicht nur die vertikale Teilung der Gewalten. Richtig praktiziert, wird er ständig eine Vielzahl von möglichen Modellen und Lösungen hervorbringen, die in einen friedlichen Wettstreit der Ideen einmünden. Der Föderalismus setzt im politischen Bereich die Kreativität einer offenen Gesellschaft frei und er schafft zugleich dort Übereinstimmung, wo diese im Interesse des Gemeinwesens nötig ist. Das Prinzip stimmt also. Was fehlt, ist eine neue Verständigung darüber, was wirklich bundesweit geregelt sein muß und was der freien Entscheidung der Länder, ihrer Phantasie und ihrem Erprobungswillen gehören soll. Manche Einheitlichkeit wird darüber verlorengehen, aber auch manche Phantasielosigkeit. Wenn die Länder mehr Spielraum zum mutigen Experiment bekommen, werden auch neue Ideen Spielraum bekommen. […]

Vor uns liegt ein neues Zeitalter:

– in dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß,

– das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt,

– ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Institutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger verankert sein müssen.“

Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover, 3. Oktober 1998

„Vor allem warne ich davor, zur Einheit gleich noch die Einheitsdeutschen zu fordern. Solche Standardgeschöpfe hat es in deutschen Landen – Gott sei Dank! – nie gegeben. Im Gegenteil: Seit eh und je pflegen die Stämme und Regionen ihre Besonderheiten. Diese selbstbewußte Vielfalt hat unserem Lande nie geschadet, sie hat es politisch und kulturell bereichert! Und ich füge hinzu: Unsere offene und weltoffene Gesellschaft muß solche Unterschiede auch in Zukunft aushalten können.“

Weihnachtsansprache 1998, 25. Dezember 1998

„Entscheidend für die Zukunft ist, wie wir menschlich miteinander umgehen. Ich habe gesehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger sich für andere einsetzen, ich habe mir unzählige Aktionen, Initiativen und Projekte ansehen können. Viele haben mir darüber geschrieben. Ich habe sehen können, daß wir nicht nur eine Ellenbogengesellschaft sind, wie so oft behauptet wird. Viele sorgen dafür, daß wir auch eine Gesellschaft der gebenden Hände sind.

Aus kaum einem anderen Land kommen so viele Spenden für die Fernen und Fernsten. Kaum ein anderes Land nimmt so viel Fremde und Flüchtlinge auf wie Deutschland. Auch das stimmt mich für die Zukunft optimistisch.

Es gibt einen alten Spruch: Die ganze Dunkelheit der Welt reicht nicht aus, das Licht einer einzigen Kerze zu löschen.“

Eröffnungsansprache zum Weltwirtschaftsforum Davos „Außenpolitik im 21. Jahrhundert“, 28. Januar 1999

„Besonders am Herzen liegt mir die Intensivierung des Dialogs zwischen den Kulturen, um dem oft beschworenen Szenario eines ‚clash of civilizations‘ vorzubeugen. Wie in der Zeit der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West der Rüstungskontrolle kommt heute dem Dialog zwischen den Kulturen eine vertrauensbildende und damit friedenssichernde Rolle zu. Die Globalisierung, aber auch die immer neuen technischen Durchbrüche und die Verstärkerrolle der Medien haben zur Folge, daß die verschiedenen Kulturen schneller und intensiver aufeinander einwirken als jemals zuvor in der Geschichte der Welt. Darin liegen Chancen: Die Freiheit des Informationsaustausches macht es den Kulturen möglich, sich gegenseitig zu bereichern. Das hält sie lebendig und bewahrt sie vor musealer Erstarrung. Mehr Transparenz würde im übrigen auch mehr Wahrheit ermöglichen.

Ich will aber nicht verschweigen, daß das Ziel nicht eine globale Massenkultur sein kann. Diese provoziert auch Widersprüche, allerdings weniger zwischen den großen Weltkulturen, als innerhalb der Kulturen zwischen den Kräften der Moderne und den Kräften der Tradition. Unsere ‚entgrenzte‘ Welt führt nicht immer zu nützlicher Integration, sondern sie kann auch zu schmerzlichen Verlusten an Identität und Geborgenheit führen. Wir Menschen brauchen aber die gelassene Verwurzelung in Geschichte und Kultur. Aus Ressentiments und trotziger Selbstbehauptung können dagegen Intoleranz und Abweisung entstehen.“

Rede auf dem Deutschen Bildungskongress in Bonn, 13. April 1999

„Geben wir vor allem unseren Bildungsinstitutionen die Möglichkeit, ihre jeweils eigenen Wege und Lösungsmodelle zu finden und auszuprobieren. Diesem Prinzip des ‚Trial and Errors‘ müssen wir uns schon deshalb stellen, weil Schulen und Hochschulen unsere Kinder in Zukunft auf ein Leben vorbereiten müssen, das wir selbst noch gar nicht kennen, auf eine Welt, die noch erkundet und zum Teil noch erfunden werden muß, und auf eine Welt, in der Ungewißheit zum bestimmenden Merkmal geworden ist. […]

Unser Bildungssystem braucht mehr Wettbewerb und Effizienz, mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit der Bildungsinstitutionen. […]

Wettbewerb entsteht nicht durch theoretische Einsicht oder per Dekret. Er stellt sich ein, wenn den beteiligten Menschen und Institutionen Eigenständigkeit und Selbstverantwortung gegeben wird. Und wo Leistung belohnt wird, setzen sich die besten Ideen automatisch durch.“

Ansprache zur Eröffnung des Symposiums „Demokratische Legitimation in Europa in den Nationalstaaten in den Regionen“ an der Universität Freiburg, 28. April 1999

„Europäische Einigung macht deshalb eine Revitalisierung der kleinen Einheiten dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen nationalen Zentren oder gar die supranationalen Institutionen. […] Auf subnationaler und regionaler Ebene ist in vielen Ländern, übrigens nicht nur bei Angehörigen der Europäischen Gemeinschaft, die Demokratie besser eingespielt als auf nationaler Ebene.“