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Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim. Von Prof. Vaubel erschien kürzlich das Buch „Das Ende der EUromantik – Neustart jetzt“.

Geld weckt Begehrlichkeiten. Jüngstes Beispiel ist die „Roadmap“ der Kommission zur Umgestaltung des sogenannten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“. (In Wirklichkeit ist der ESM ein Destabilisierungsmechanismus, denn die Aussicht auf seine subventionierten Kredite schwächt den Anreiz, Überschuldungskrisen zu vermeiden.) 500 Mrd. Euro sind ein stattliches Kapital. Damit kann man sich viele Wünsche erfüllen. Aber der ESM darf seine verbilligten Kredite nur vergeben, „um die Stabilität des Eurogebiets insgesamt zu wahren“ – und auch das nur unter „strengen Auflagen“ (Art. 136 Z. 3 AEUV). Eine neue Finanzkrise ist für die Eurozone insgesamt nicht in Sicht. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Macron, Juncker und die Schäuble-CDU immer neue Vorschläge ausdenken, wie das Kapital des ESM auf andere Weise eingesetzt werden könnte. Mit der Annahme, dass die Mittel des ESM für diese anderen Zwecke zur Verfügung stehen, wird übrigens stillschweigend eingestanden, dass er für seinen ursprünglichen Zweck nicht als Dauerinstitution gebraucht worden wäre.

Der ESM ist nicht nur reich, sondern auch gefährdet. Er könnte leicht wieder abgeschafft werden. Er beruht nicht auf EU-Recht, sondern auf einem eigenständigen völkerrechtlichen Vertrag, der von jedem einzelnen Unterzeichnerstaat mit Hinweis auf die grundlegende Änderung der Umstände gekündigt werden kann. Die FDP zum Beispiel hat in ihrem Wahlprogramm die Forderung aufgestellt, dass „die Ausleihekapazität des ESM kontinuierlich wieder zurückgefahren wird und dieser langfristig ausläuft“. Für die Europapolitiker geht es daher nicht nur darum, die Mittel des ESM stärker auszuschöpfen, sondern zunächst einmal zu verhindern, dass er wieder abgeschafft wird.

Um das Überleben des ESM zu sichern, verfolgen seine Anhänger zwei verschiedene Strategien. Die erste besteht darin, den ESM in EU-Recht zu überführen. Wenn das durchkäme, wäre es nicht mehr möglich, den ESM zu verlassen, ohne aus der EU auszutreten. Das ist die Strategie von Juncker und Macron. Dagegen ist die Schäuble-CDU. Schäuble verfolgt die zweite Strategie. Auch er möchte den ESM – sein Werk – vor der Abschaffung bewahren. Aber wenn der ESM in EU-Recht überführt würde, bestünde die Gefahr, dass Deutschland überstimmt werden könnte. Die Kommission schlägt das zwar in diesem Fall nicht vor, aber normalerweise wird im EU-Recht mit (qualifizierter) Mehrheit entschieden. Außerdem soll der Ministerrat der 28 ein Vetorecht erhalten. Nach dem ESM-Vertrag besitzt der deutsche Finanzminister im Gouverneursrat ein Vetorecht. Anstatt den ESM in EU-Recht zu überführen, will die Schäuble-CDU sein Überleben sichern, indem sie  ihm wichtige zusätzliche Kompetenzen überträgt, die ihn für alle Zeiten unentbehrlich machen. Konkret geht es um zwei Zuständigkeiten:

  1. Der ESM soll anstelle der sogenannten Troika aus Kommission, EZB und IWF darüber wachen, dass die Empfänger der ESM-Kredite ihre wirtschaftspolitischen Auflagen einhalten.
  2. Der ESM soll anstelle der Kommission dafür zuständig sein, die Haushaltspolitik aller Euro-Staaten zu überwachen.

Diese Vorschläge laufen den Interessen der Kommission zuwider. Sie will nicht Kompetenzen abgeben, sondern neue hinzugewinnen. Deshalb möchte sie ja den ESM in EU-Recht überführen. Auf diese Weise könnte sie sich – wie sie ausdrücklich erwähnt – vielfältige neue Mitwirkungsrechte verschaffen. Aber das ist keine Begründung, die bei den Mitgliedstaaten verfängt. Um die anderen Mitgliedstaaten gegen Schäuble-Deutschland zu mobilisieren, muss die EU-Kommission für den ESM Verwendungszwecke vorschlagen, an denen Frankreich und seinen Bundesgenossen gelegen ist. Das hat sie am 6. Dezember getan. Konkret geht es um zwei Verwendungen:

  1. Der ESM soll seine billigen Kredite auch an den Bankenabwicklungsfonds der Eurozone vergeben dürfen. Da freuen sich die Länder, die die marodesten Banken haben: Italien, Spanien und natürlich Griechenland und Zypern.
  2. Der ESM soll – wenn auch nicht sofort – bei asymmetrischen makroökonomischen Schocks verbilligte Kredite zur Finanzierung von Investitionen vergeben. Für die Finanzierung von Investitionen gibt es aber bereits europäische Institutionen: die Europäische Investitionsbank und den sogenannten Juncker-Fonds. Außerdem betreffen asymmetrische makroökonomische Schocks per definitionem nicht die Stabilität des Euroraums insgesamt.

Die Kommission sieht weitere Verwendungszwecke vor: „The proposal refers to the possibility for the European Monetary Fund to develop new financial instruments. Over time, such instruments could supplement or support other financial instruments and programmes“. Dabei ist vor allem an zwei weitere Vorschläge aus dem Nikolaus-Paket der Kommission zu denken:

  1. Mitgliedstaaten, die wichtige Wirtschaftsreformen durchführen, sollen spezielle Finanzhilfen erhalten. Das ist für Macron und die Mittelmeerländer attraktiv. Auch Angela Merkel ist dafür. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte meint dagegen: „Wir in den Niederlanden haben ohne jede ausländische Hilfe zahlreiche Reformen ergriffen – und jetzt sollen wir denen, die Reformen unterlassen haben, dafür Geld geben?“
  2. Länder, die der Währungsunion beitreten wollen, sollen stärker gefördert werden. Dabei handelt es sich zurzeit um Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Die Kommission wirbt also auch in Osteuropa um Unterstützung.

Wie schneiden im Vergleich Schäubles Vorschläge ab? Wenn in Zukunft nicht mehr die Troika, sondern der ESM dafür zuständig wäre, die Einhaltung der wirtschaftspolitischen Auflagen zu überwachen, hätten die Schuldnerländer noch leichteres Spiel. Denn das ESM-Personal ist nicht daran interessiert, Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abzubrechen. Die ESM-Beamten wollen möglichst viele Kredite vergeben, denn über ihre Zinsmarge erzielen sie die Einkünfte, die sie zur Finanzierung ihrer Gehälter und sonstigen Ausgaben benötigen. Außerdem ist die Kreditvergabe ein Weg, Macht auszuüben und Prestige zu gewinnen. Dieses Anreizproblem ist aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds sattsam bekannt. Zwar hat der IWF zum Beispiel im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abgebrochen, aber auf dreißig dieser Programme folgte innerhalb eines Jahres das nächste Programm (Urbaczka, Vaubel, Cato Journal 2013). Schäubles Vorschlag müsste daher bei den Schuldnerstaaten gut ankommen. Er ist nicht im Interesse Deutschlands.

Seinen zweiten Vorschlag hat Schäuble folgendermaßen begründet: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“ (Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Das hören die deutschen Wähler gerne, aber es ist falsch. Der Gouverneursrat des ESM besteht aus den Finanzministern der Euro-Staaten – also den Politikern, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben kein Interesse daran gerügt zu werden oder gar Geldbußen zu zahlen. Ein Finanzminister hackt dem anderen kein Auge aus.  Man würde die Böcke zu Gärtnern machen. Insofern hat auch dieser Vorschlag in den notorischen Defizitländern gute Chancen. Er wird auch von der FDP unterstützt, obwohl doch Kompetenzübertragungen, die auf Dauer angelegt sind, die gewünschte langfristige Abschaffung erheblich erschweren würden. Im deutschen Interesse sind diese Pläne nicht, und die Kommission bekämpft sie.

Aber es gibt auch Punkte, bei denen Kommission und Schäuble übereinstimmen. Um das Überleben des ESM zu sichern, wollen sie den ESM nicht nur – jeder auf seine Weise -umfunktionieren, sondern auch optisch aufwerten. Dazu gehört, dass der ESM einen neuen Namen erhält: „Europäischer Währungsfonds“. Außerdem soll der Vorsitzende des Gouverneursrats zugleich Chef der Eurogruppe sein. Als neuer Vorsitzender der Eurogruppe ist gerade der Portugiese Mario Centeno gewählt worden. Er ist Finanzminister seines Landes und Mitglied der sozialistischen Fraktion. Nach den Vorstellungen der Kommission soll die Eurogruppe einen Vize-Präsidenten der Kommission zu ihrem Vorsitzenden wählen. Dieser soll – einem Vorschlag des französischen Präsidenten folgend – den Titel „Europäischer Finanzminister“ erhalten.

Wer könnte sich dem entgegenstellen?

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Gibt es nicht schon genügend Bücher zum und über den Euro und Europa? 2014 habe ich selbst eines geschrieben. Das Thema ist freilich immer noch und wieder sehr aktuell. In dieser Woche hat Jean-Claude Juncker Vorschläge für die Weiterentwicklung der Währungsunion gemacht. Emmanuel Macron hat bereits im September an der Sorbonne-Universität in Paris Reformen vorgeschlagen. ESM-Chef Klaus Regling war zuvor mit von der Partie, er schlug im Sommer einen Schlechtwetterfonds für Krisenstaaten vor, gerade so als ob die Überschuldung eine Naturkatastrophe wäre. Es war eine Vorahnung, dass Prometheus vor dieser Welle zentralistischer Vorschläge bereits im November 2015 Reformvorschläge für die EU gemacht hat. Gemeinsam mit Thomas Mayer, Stefan Kooths und Justus Haucap habe ich im Rahmen unserer Prometheus-Kampagne „Europa der Bürger“ ein Manifest für ein konföderales Europa vorgestellt. Es ist quasi ein Gegenentwurf zum Zentralismus Junckerscher Prägung.

Deshalb ist das neue Buch von Roland Vaubel eine Kaufempfehlung für all diejenigen, die kompakt einen Überblick bekommen wollen, woran es in der Europäischen Union hakt. Vaubel ist einer der besten Kenner der europäischen Politik. Als Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Mannheim gehört er dem Wissenschaftlichen Beirat im Bundeswirtschaftsministerium an und hat im Rahmen der European Constitutional Group bereits 1991 wegweisende Reformvorschläge für die damalige Europäische Gemeinschaft gemacht. Der klassisch liberale Ökonom verfolgt also die Brüsseler Politik schon sehr lange. „Das Ende der EUromatik – Neustart jetzt“ ist daher auch eine sehr kenntnisreiche Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte der gemeinsamen Währung. Er beschreibt die Euro-Einführung als einen deutschen Plan, der die gemeinsame Währung als Preis für eine gemeinsame Verteidigungs- und Außenpolitik vorsah. Dieser ursprüngliche Plan wurde im Zuge der Wiedervereinigung auf Druck Frankreichs wieder fallengelassen. Übrig blieb die gemeinsame Währung, die Mitterand zur Bedingung für die Zustimmung Frankreichs zur Wiedervereinigung machte.

Hart ins Gericht geht Vaubel mit den Präsidenten der EZB, insbesondere mit Mario Draghi. Während die EZB in den Europäischen Verträgen politikfern definiert und lediglich der Wahrung der Geldwertstabilität verpflichtet ist, verschoben Draghi und sein Vorgänger Jean-Claude Trichet die EZB immer stärker zu einer politischen Institution ohne jegliche Kontrolle. Vaubel belegt das mit zahlreichen Beispielen und vergleicht diese mit der politikfernen Rolle der früheren Bundesbank. Im Juni 2015 beteiligte sich Draghi am Fünf-Präsidenten-Bericht und forderte darin mehr Kompetenzen für die EU. Man stelle sich einmal vor, der Bundesbankpräsident hätte in den 1980er Jahren gemeinsam mit dem Bundestagspräsidenten und dem Bundeskanzler Vorschläge für einen stärkeren Zentralismus in Deutschland gemacht. Oder der damalige Bundesbankpräsident hätte vorgeschlagen, den 1.000 DM-Schein abzuschaffen, um die Steuerhinterziehung und Bandenkriminalität zu bekämpfen. Oder die Bundesbank hätte sich an der Haushaltskontrolle der überschuldeten Bundesländer Bremen oder Saarland beteiligt, und die Umsetzung von Sparmaßnahmen überwacht. Es wäre unvorstellbar gewesen. All das geschieht aber heutzutage im Namen und in Verantwortung der Europäischen Zentralbank, obwohl Artikel 130 AEUV eindeutig regelt, dass „die Regierungen der Mitgliedsstaaten verpflichtet sind (…) nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der Europäischen Zentralbank oder nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.“ Dies gilt nicht nur von Regierungen hin zur Zentralbank, sondern auch umgekehrt. Es „darf weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Entschlussorganen oder Einrichtungen der Union, der Regierungen der Mitgliedsstaaten einholen oder entgegenzunehmen.“

Besonders geht Vaubel richtigerweise auf die kollektiven Rechtsbrüche in der EU ein. Wo nur Mitgliedsstaaten gegen Vertragsverletzungen vorgehen können, aber diese sich in den Vertragsverletzungen einig sind, wird Recht beliebig. Die Mutter dieser kollektiven Rechtsbrüche war der Verstoß gegen die Nichtbeistandsklausel im Mai 2010. Nur Mitgliedsstaaten konnten dagegen klagen, aber keiner tat es. Seitdem kommt immer wieder ans Tageslicht, wie die nationalen Notenbanken durch eigene Liquiditätshilfen und überzogene Anleihenkäufe die Politik der EZB zusätzlich flankieren.

Die wachsende Zentralisierung sieht Vaubel in den Konstruktionsfehlern des institutionellen Aufbaus der EU. Nur die Kommission kann Gesetze vorschlagen. Das „Initiativmonopol für die Gesetzgebung“ erlaubt es der Kommission jede dezentrale Gesetzgebung der EU im Keim zu ersticken. Zum später gescheiterten Verfassungsvertrag der EU schlug 2004 die European Constitutional Group vor, das Initiativrecht von der Kommission im ersten Schritt auf den Rat und langfristig auf das Parlament der Europäischen Union zu verlagern. Auch institutionelle Änderungen bei der Besetzung der Richter des Gerichtshofs der Europäischen Union schlugen die Ökonomen um Roland Vaubel seinerzeit vor, um so die Interessen der Mitgliedsstaaten zu wahren.

Am Schluss des Buches finden sich Vorschläge, wie die Unabhängigkeit der EZB wieder hergestellt werden kann. Hier geht es Vaubel darum, dass die EZB erklärt, dass ihre Vertreter sich künftig aus politischen Gremien der EU fernhalten, und der EZB-Rat künftig darauf verzichtet, den Regierungen wirtschaftspolitische Bedingungen für geldpolitische Entscheidungen zu stellen.

Auch Vertragsänderungen gehören zu seinen Vorschlägen. Der Austritt und der Ausschluss aus dem Euro, ohne die EU verlassen zu müssen, gehören dazu. Interessant ist, dass er dabei auf eine bestehende Analogie in den EU-Verträgen verweist. Im Bereich der „strukturierten“ militärischen Zusammenarbeit (Artikel 46 Abs. 5 EUV) gibt es dieses Austrittsrecht bereits. Dort heißt es: „Wünscht ein teilnehmender Mitgliedsstaat von der ständigen strukturierten Zusammenarbeit Abstand zu nehmen, so teilt er seine Entscheidung dem Rat mit, der zur Kenntnis nimmt, dass die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats beendet ist.“

Vaubel prognostiziert am Ende seines Buches eine Zunahme der Parteien, die in Frankreich, Italien und Finnland einen Austritt aus der Währungsunion fordern. Die Zunahme hängt seiner Auffassung nach mit dem zu hohen Preisniveau und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit in diesen Ländern zusammen. Er befürchtet aber, dass Deutschland dem Drängen Frankreichs und Italiens nachgibt, für die Eurozone ein gemeinsames Schatzamt und eine gemeinsame Einlagensicherung zu schaffen. Letztlich würden europäische Institutionen in die Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten hineinregieren und das Budgetrecht der nationalen Parlamente weiter aushöhlen. Die aktuellen Reformpläne der Kommission von Mittwoch lassen diese Befürchtungen vielleicht bald Realität werden. Er plädiert in seinem überzeugenden Buch dagegen für einen Neustart. Dem kann man sich nicht deutlich genug anschließen!

Roland Vaubel: Das Ende der EUromantik – Neustart jetzt, Wiesbaden 2018.

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Mario Draghi, der EZB-Chef, hat sich ein Inflationsziel von 2 Prozent gesteckt. Das ist für jemanden, dessen Auftrag es ist, für Geldwertstabilität zu sorgen, eigentlich ein Armutszeugnis. Denn in 30 Jahren verliert das Geld dann fast die Hälfte seiner Kaufkraft. Draghi macht die Menschen zwangsweise arm. Sie müssen dagegen anarbeiten. Entweder sie werden in ihrem Job befördert, verhandeln individuell mit ihrem Chef um eine Gehaltserhöhung oder lassen dies die Tarifparteien für sich machen. Letztere blasen aktuell die Backen auf. Die IG Metall geht mit Gehaltsforderungen von 6 Prozent in die Tarifverhandlungen und will, dass Arbeitnehmer in eine 28 Stundenwoche flexibel wechseln können, um zum Beispiel einen Angehörigen pflegen zu können. Damit die Gehaltseinbußen nicht zu hoch sind, soll es einen Zuschuss des Arbeitgebers obendrauf geben. Selbstverständlich sollen die Arbeitnehmer später dann wieder zur 35-Stundenwoche zurückkehren können. Ob dies die IG Metall durchsetzen kann, wird sich zeigen. Die Forderung macht aber klar, dass die Gewerkschaften oberhalb des Produktivitätsforschritts einen Abschluss erzielen wollen.

Sehr wahrscheinlich wird ihnen das gelingen. In den meisten Regionen Deutschlands herrscht akuter Fachkräftemangel oder sogar Vollbeschäftigung. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten war noch nie so hoch. Handwerker vertrösten einen auf das nächste Jahr, weil sie mit der Arbeit nicht nachkommen, und vor allem der Markt für Mitarbeiter leergefegt ist. Aber auch Lastwagen- oder Gabelstablerfahrer sind fast nicht zu bekommen. Die Konjunktur in Deutschland läuft auf Hochtour. In diesem Jahr rechnen die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung mit 2 Prozent Wachstum, im nächsten Jahr mit 2,2 Prozent. Im 3. Quartal dieses Jahres alleine wuchs die Wirtschaft um 0,8 Prozent.

Vor diesem Hintergrund kann man erwarten, dass die Lohn-Preis-Spirale anziehen wird. Arbeitnehmer werden sich bei Lohnverhandlungen stärker durchsetzen können, weil die Arbeitgeber gar keine andere Wahl haben, als mit den Löhnen nach oben zu gehen, um ihre Aufträge abzuarbeiten. Doch sie werden dies an ihre Kunden weitergeben. Insbesondere im Handwerk ist das zu spüren.

Dies wird zwangsläufig auf die Inflationsrate Auswirkungen haben. Zwar geht die EZB in ihrer Prognose noch davon aus, dass die Inflation im Euroraum in diesem Jahr um 1,5 Prozent und im nächsten Jahr um 1,6 Prozent steigt, doch Mario Draghi wird wahrscheinlich viel schneller den „Erfolg“ seiner Geldpolitik vermelden können. Er wird dies mit gemischten Gefühlen realisieren. Denn seine derzeitige Begründung für sein QE-Programm zum Ankauf von Schulden der Eurozone ist ja gerade, dass die Zielinflationsrate von 2 Prozent nicht erreicht wird. Letztlich dient das Programm, das bis September 2018 2,55 Billionen Euro aus dem Nichts produziert, und die Notenbankbilanz der EZB innerhalb von 10 Jahren um 450 Prozent aufgebläht hat, dazu, die Schuldenstaaten, Unternehmen und Banken günstig zu finanzieren und damit über Wasser zu halten.

Das gelingt derzeit noch. Doch das Beispiel Italien zeigt, dass dies ein Ritt auf der Rasierklinge ist. Gerade wieder wurde dort ein neuer Schuldenhöchststand von 2,28 Billionen Euro gemeldet. Gleichzeitig hat Italien noch nie so wenig für diese Schulden bezahlt. Die 10-jährige Staatsanleihe rentiert mit 2,11 Prozent (September 2017). Das ist weniger als die vergleichbare Staatsanleihe der USA. Sie rentiert aktuell mit 2,37 Prozent. Doch nicht nur die Staaten Südeuropas sind hochverschuldet. Auch die Banken sind es. Ein großer Teil schreibt rote Zahlen. Sie sind vollgesaugt mit faulen Krediten, die nicht mehr ausreichend bedient werden. Mancher spricht schon von Zombiebanken. Gerade dieser Umstand hat dazu geführt, dass der Inflationsdruck bisher gering war. Bislang haben der Verfall des Ölpreises, die Digitalisierung und der wachsende Welthandel die offizielle Inflationsrate niedrig gehalten. Dazu kam, dass die Konjunktur in Südeuropa nicht in Gang kam. Dies lang in erster Linie an den Zombiebanken. Sie hielten sich mit Kreditvergaben zurück, weil sie die hohen Wertberichtigungen ihrer Kreditportfolien fürchten.

Doch wenn jetzt die Inflation in Deutschland besonders ansteigt und die übrigen Staaten der Eurozone mitgezogen werden, was sich derzeit abzeichnet, dann kommt die Inflation in Fahrt und die Begründung Draghis für eine Fortsetzung seines QE-Programmes entfällt. Er steckt daher in einem Dilemma. Leitet er im Euroraum die Zinswende ein, dann gehen die Zombiebanken und die Zombieunternehmen pleite. Macht er dies nicht, dann nimmt die Überhitzung der Konjunktur in Deutschland und anderen Eurostaaten überhand und befeuert die Inflation zusätzlich. Inflation ist dann wie der Ketchup in der Flasche. Wird sie geöffnet, dann dauert es, bis die rote Soße aus der Öffnung kommt. Doch wenn die träge Masse erstmal in Bewegung ist, dann ist sie meist nicht mehr aufzuhalten.

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Selbstbewusst läutete gestern EZB-Chef Mario Draghi die letzte Phase seiner Präsidentschaft ein, die im November 2019 endet: „Es läuft gut, seit 17 Quartalen herrscht Wachstum“. Im Euroraum seien in den letzten 4 Jahren 7 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Die Investitionen legen zu und das verfügbare Einkommen steige. Lediglich die Inflationsrate verharre in diesem Jahr bei 1,5 Prozent und steige im nächsten Jahr nur auf 1,6 Prozent. Die EZB sei daher von ihrem Inflationsziel von 2 Prozent noch weit entfernt.

Jetzt kündigt Mario Draghi an, das monatliche Schuldenaufkaufprogramm der EZB ab Januar von 60 auf 30 Milliarden Euro zu reduzieren. Fast könnte man meinen, die Normalität sei wieder erreicht. Doch nichts ist irriger. In einer Skala von 1 bis 10, von Normalität bis Ausnahmezustand, befindet sich der geldpolitische Kurs der EZB nicht mehr bei 9,5, sondern jetzt bei 9,4.

Bis Ende September werden die Notenbanken im Euroraum Schulden von Staaten, Banken und Unternehmen in der Größenordnung von 2.550 Milliarden Euro gekauft haben. Laufen diese Anleihen aus, dann werden in der gleichen Höhe neue gekauft, um die aus dem Nichts geschaffene Zentralbankgeldmenge nicht wieder unter die Schallmauer von 4.500 Milliarden Euro fallen zu lassen. Innerhalb von 10 Jahren stieg die von der Zentralbank selbst geschaffene Geldmenge um 450 Prozent. 2011 sagte mir ein Zentralbanker der EZB bei einer Diskussionsveranstaltung in Erfurt, es sei technisch gar kein Problem, die gestiegene Zentralbankgeldmenge wieder einzusammeln. Damals lag die EZB-Bilanzsumme noch bei 2.000 Milliarden Euro. Meine Antwort war damals, dass dies technisch sicherlich möglich sei. Die EZB müsse dafür nur Wertpapiere und Anleihen verkaufen und dieses zurückfließende Geld nicht wieder reinvestieren, doch politisch käme die EZB aus ihrer selbstgeschaufelten Grube nicht mehr heraus. Sie muss wie im Hamsterrad immer weitermachen.

6 Jahre später kann man sich das Ergebnis anschauen. Die EZB-Bilanz und damit die Zentralbankgeldmenge steigt weiter, nur nicht mehr so stark. Zusätzlich können sich die Banken weiter bis mindestens 2019 gegen Sicherheiten unbegrenzt Geld bei der EZB leihen. Zu hinterlegende Sicherheiten gibt es durch die Neuverschuldung der Euro-Staaten genug. Doch die Qualität der Sicherheiten wird immer schlechter. Denn wenn die Verschuldung im Euro-Raum auf über 90 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen ist, Italien noch nie so hoch verschuldet war wie derzeit, dann hat die Qualität der Anleihen zwangsläufig gelitten. Viele Marktbeobachter meinen, im Oktober sei dann aber endlich Schluss mit dem Anleihenankauf, weil die EZB ihrer rechtliche Obergrenze von 33 Prozent aller am Markt ausstehenden Anleihen nahekommt. Doch auch dafür wird die EZB eine Lösung finden.

Gleichzeitig kostet das alles etwas. Es kostet die Anlegerseite ihr Vermögen in Lebensversicherung, Bausparverträgen und Festgeldern. Die DZ Bank hat vor einigen Monaten ausgerechnet, welchen Zinsverlust Anleger gegenüber normalen Zeiten inzwischen eingebüßt haben. Zwischen 2010 und 2016 waren dies in Deutschland 340 Milliarden Euro.

In diesem Umfeld kündigte Draghi gestern in der Pressekonferenz an, dass die Zinsen weit über den Zeitpunkt Ende September 2018 hinaus niedrig bleiben werden, da er auch 2019 lediglich mit einer Inflationsrate von 1,5 Prozent rechne. Die Enteignung des Sparvermögens geht also unvermindert weiter.

Die Politik der EZB ist in vielen Fragen jedoch nicht konsistent. Zwar hat die EZB das Problem der faulen Kredite in den Bankbilanzen endlich erkannt und neue Regeln aufgestellt, die die Banken zwingen sollen, neue faule Kredite schneller abzuwickeln. Doch gerade das ist teuer und geht zulasten des Eigenkapitals der Banken. Wollen sie mehr Kredite vergeben, was in den Augen der EZB notwendig ist, damit Investitionen und Wachstum entstehen, dann müssen sie ihr Eigenkapital eigentlich schonen. Bei fast 1.000 Milliarden alter fauler Kredite in Europa und über 365 Milliarden Euro (2016) alleine in Italien hängt dieses Problem eh wie ein Damoklesschwert über der fragilen Konjunktur im Euro-Club. Auch deshalb will die EZB das Problem auf die Staatengemeinschaft zurückverlagern. Sie unterstützt die Vollendung der Bankenunion. Auch ein „Backstop“ des Bankenabwicklungsfonds auf die Mittel des ESM gehört dazu. Wenn alle Banken irgendwann mal einen Topf mit 55 Milliarden Euro gefüllt haben sollten, dann wird dieser längst nicht ausreichen, um eine mittlere oder größere Bank tatsächlich abzuwickeln. Daher kommen die Geldingenieure auf die Idee, den Rückgriff auf die vollen Kassen des ESM zu nehmen.

Dazu gehört auch die Idee, den Bankrun durch eine europäische Einlagensicherung zu verhindern. Glaubt der italienische Sparer, dass im Zweifel die deutsche Einlagensicherung für sein Sparvermögen eintritt, hebt er vielleicht nicht sein ganzes Geld ab und legt es unter das Kopfkissen. Das ist die Hoffnung, doch schon an diesem Versuch sieht man, von Normalität ist die EZB und der Euro Lichtjahre entfernt.

Letztlich soll der Geldsozialismus durch eine Zwangsversicherung für alle Sparer im Euro-Club gerettet werden. Doch was ist, wenn das alles die Eurozone nicht beruhigt? Dann werden unbeteiligte Sparer und Steuerzahler in Deutschland und anderswo immer stärker in die kollektive Haftung hineingezogen.

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Sieben italienische Wissenschaftler, darunter auch der ehemalige Finanz- und Wirtschaftsminister Fabrizio Saccomanni, haben in dieser Woche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf einen gemeinsamen Vorschlag von französischen und deutschen Ökonomen an gleicher Stelle reagiert, und vor deren Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Euro-Zone gewarnt. Letztere plädierten in ihrem Artikel dafür, dass Deutschland mehr Risikoteilung zulassen solle und Frankreich mehr Marktdisziplin. Konkret plädierten die französisch-deutschen Schreiber für eine gemeinsame Einlagensicherung für Sparvermögen in der EU und gleichzeitig für eine Risikogewichtung der Banken beim Kauf von Staatsanleihen. Derzeit fehle es an einem gemeinsamen Kapitalmarkt, und die Risiken in der Eurozone würden auf die jeweiligen Staaten und die EZB verteilt.

Die Einlagensicherung sieht vor, dass Spareinlagen mit 100.000 Euro bei der jeweiligen Bank versichert sind, egal ob in Flensburg, Siena oder Athen. Die Frage ist: Wer trägt das Risiko einer Bankenschieflage im jeweiligen Land? Ist es die Sicherungseinrichtung in Spanien, Italien oder Griechenland? Oder ist in einem gemeinsamen Währungsraum eine gemeinsame Einlagensicherung dafür verantwortlich, also auch die Einlagensicherungseinrichtungen von Sparkassen und Volksbanken in Deutschland? Um dieses Frage geht es. Die EU-Kommission hat dafür in dieser Woche einen Kompromiss vorgeschlagen, der zu Beginn eine Art Rückversicherung vorsieht. Erstmal sollen die nationalen Einlagensicherungssysteme greifen. Haben diese kein Geld mehr, können sie sich von anderen Einlagensicherungssystemen Geld leihen. Erst langfristig sollen die Einlagensicherungssysteme zu einem einheitlichen System verschmolzen werden.

Bei der Nullgewichtung von Staatsanleihen doktert die Politik schon lange herum. Letztlich geht es darum, ob aufsichtsrechtlich eine griechische Staatsanleihe ebenso sicher ist wie eine deutsche. Das ist in der Realität natürlich nicht so, doch das ficht die Bankenaufsicht nicht an. Während Kredite an den Mittelstand mit 20 Prozent Eigenkapital von der Bank unterlegt werden müssen, kann eine Bank Staatsanleihen von Griechenland, Portugal oder Zypern ohne Eigenkapital in ihre Bücher nehmen.

Viele europäische Regierungen, aber auch die italienischen Autoren des FAZ-Artikels, wehren sich gegen eine Risikogewichtung. Sie vertreten die Ansicht, dass dann die folgenden Zinsunterschiede sofort wieder eine neue Krise heraufbeschwören würden. Die Gefahr ist durchaus nicht von der Hand zu weisen. Denn die öffentliche Verschuldung in Europa ist in den letzten Jahren massiv auf über 90 Prozent der Wirtschaftskraft angestiegen.

Würden die Zinsunterschiede zwischen Italien und Deutschland wieder ansteigen, dann wäre die italienische Verschuldung nicht mehr so einfach, vielleicht gar nicht mehr zu finanzieren. Italiens Staatsschulden erklimmen Monat für Monat einen neuen Höchststand. Er liegt derzeit bei 2.300 Milliarden Euro, im Verhältnis zur Wirtschaftskraft bei 134,5 Prozent (Juli 2017). Während die Verschuldung steigt, sinken die dafür zu zahlenden Zinsen enorm. In den 1980-Jahren betrugen die Renditen 10-jährigern Italienischer Staatsanleihen über 16 Prozent. Mit der Einführung des Euro sank die Rendite auf 6 Prozent und fiel dann auf 4 Prozent. Mit der Eurokrise stieg das Risiko wieder auf bis zu 7 Prozent. Erst mit der Intervention der EZB trat eine Beruhigung ein. Heute rentiert die italienische Anleihe mit 2 Prozent. Diesen Zustand will Italien möglichst lange konservieren.

Die italienischen Autoren, aber auch die deutsch-französischen Ökonomen in abgeschwächter Form, wollen das tragende Prinzip der Marktwirtschaft von Risiko und Haftung auseinanderfallen lassen. Wer die Einlagensicherung vereinheitlicht, sei es heute, morgen oder übermorgen, sorgt dafür, dass finnische, deutsche und niederländische Sparer für Schieflagen spanischer, griechischer oder italienischer Banken haften müssen, obwohl sie als Bürger weder auf die dortige Regierungspolitik noch auf die Geschäftspolitik der dortigen Banken irgendeinen Einfluss haben.

Vielleicht wäre es an dieser Stelle viel besser, das Absicherungsniveau in der Europäischen Richtlinie abzusenken. Denn haben Sparer mehrere Konten bei mehreren Banken, dann hängen sie über diesen Weg sehr leicht mit mehreren hunderttausend Euro mit drin. Muss dieses Risiko über eine staatlich festgelegte Versicherung in der ganzen Europäischen Union abgesichert werden? Wer das will, kann das gerne national oder in der jeweiligen Bank selbst tun. Die Sparkassen und Volksbanken in Deutschland kennen die sogenannte Institutssicherung. Sie retten sich gegenseitig und schützen damit die Spareinlagen ihrer Einleger faktisch unbegrenzt. Ihre Dachorganisationen überwachen die Institute, damit es zu keiner Schieflage kommt. Die Beiträge für die Institutssicherung richten sich nach dem Risiko der Bank. Wer weniger solide wirtschaftet, zahlt mehr und umgekehrt.

Risiko und Haftung fallen erst recht bei der Nullgewichtung der Staatsanleihen auseinander.  Ein Wechsel zu einem risikogewichteten Modell ist nicht einfach, aber mit Übergangsfristen möglich und notwendig. Ansonsten finanziert die EZB die Freibiermentalität der Euro-Staaten immer weiter. Doch irgendwann ist auch die Zeit des free lunch vorbei und die Realität kehr wieder ein. Wie groß der Kater danach ist, hängt davon ab, wie lange der Rausch angehalten hat. Europa muss mehr Marktwirtschaft wagen – nicht weniger.