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Photo: Lane Pearman from Flickr (CC BY 2.0)

Bei der Wahl in den USA wurde nicht nur eine schillernde und offenbar für viele auch faszinierende Person gewählt. Es war auch eine Abstimmung gegen die Globalisierung, die die Zeit seit dem Ende des Sowjet-Imperiums wesentlich geprägt hat. Sie ist in akuter Gefahr.

„It’s the economy, stupid“

Die Nachwahlbefragungen der New York Times sind sehr aufschlussreich. Der in progressiveren Kreisen oft geäußerte Vorwurf des Rassismus scheint bei den Betroffenen nicht zu verfangen: Bei allen nicht-weißen Wählergruppen hat Trump gegenüber dem republikanischen Kandidaten von 2012, Mitt Romney, hinzugewonnen, gerade auch unter Hispanics. Ein anderer Faktor scheint wesentlich stärker gewirkt zu haben. Er konnte offenbar weit in die traditionelle Unterstützergruppe der eher sozialdemokratischen Demokraten hinein Stimmen gewinnen. Unter den Wählern mit geringeren Bildungsabschlüssen schnitt er im Vergleich zur letzten Wahl deutlich besser ab. Massive Zugewinne gab es bei denen, die weniger als 30.000 $ im Jahr verdienen und immer noch erhebliche bei denen, die weniger als 50.000 $ verdienen.

Dass für viele Wähler das Thema Immigration eine große Rolle gespielt hat, muss nicht unbedingt ein Hinweis auf Rassismus sein, sondern hängt gewiss auch wesentlich mit dem hart umkämpften Arbeitsmarkt, gerade im Niedriglohnsektor zusammen. 78 % der Wähler, die ihre finanzielle Situation als verschlechtert empfinden, haben für Trump gestimmt. Die Wähler, die glauben, dass der Handel mit anderen Ländern amerikanische jobs vernichten, haben zu 65 % für Trump gestimmt. Der amerikanische Ökonom Donald Boudreaux hat auf seinem Blog darauf hingewiesen, dass ein ausschlaggebender Faktor für die Wahl Trumps die, gerade auch von Linken oft bediente, Erzählung ist, dass es für den Mittelstand seit den 70er Jahren kein Wachstum mehr gegeben habe. (Vielleicht ist der Dauer-Vorwurf des Rassismus auch dem unbewussten Schuldgefühl mancher Progressiver und Linker entsprungen, durch ihren Alarmismus dieses Ergebnis mitverursacht zu haben.)

„Wir glauben an das Gute, das Regierungen tun können.“

Ein ähnliches Phänomen konnten wir bereits bei der Abstimmung zum Brexit gewärtigen. In den dortigen Nachwahlbefragungen wurde unter anderem nachgefragt, wie die Wähler zu bestimmten Themen stehen. Obwohl das Leave-Lager von den traditionell marktwirtschaftlicher ausgerichteten Tories dominiert wurde, haben 69 % derjenigen, die die Globalisierung für eine gefährliche Entwicklung halten, für den Brexit gestimmt. Einen deutlichen Widerhall fand diese Tendenz in der Rede der neuen britischen Premierministerin Theresa May beim Parteitag der Konservativen. Diese Rede war ein fast schon flammender Appell für das Primat der Politik und das, was Angelsachsen als „big government“ bezeichnen. Ihre Botschaft gleicht der von Trump bis in die Formulierungen:

„Wenn wir Ungerechtigkeit korrigieren und die Regierung in den Dienst der einfachen Arbeiter stellen, können wir ein neues gemeinschaftliches Großbritannien aufbauen. … Unser Programm sieht die Regierung in der Pflicht, eine Wirtschaft aufzubauen, die für jeden arbeitet. Eine Wirtschaft, die einen öffentlichen Dienst unterstützt, auf den wir uns alle verlassen können, und die in Dinge investiert, die uns allen lieb und teuer sind. Wie etwa den NHS: eines der besten Gesundheitssysteme weltweit. … Lasst uns die Gelegenheit ergreifen, um zu beweisen, dass wir – die Konservative Partei – wahrhaft die Partei der Arbeiter, der Beamten und des NHS sind. Denn wir glauben an den öffentlichen Dienst. Wir glauben daran, in Institutionen zu investieren, die unser Land großmachen. Wir glauben an das Gute, das Regierungen tun können.“

Alte Modelle aus der Mottenkiste

Innerhalb kürzester Zeit sind in Großbritannien und den USA, also zwei Leuchttürmen liberaler Gesellschaften und freier Märkte, die liberalen Kräfte in sich zusammengefallen. Politiker wie David Cameron und George Osborne, wie Paul Ryan, Marco Rubio und leider auch Rand Paul, wurden entweder abserviert oder sind massiv in der Defensive. Stattdessen werden alte Modelle wieder aus der Mottenkiste geholt: Theresa May inszeniert sich als Wiedergängerin ihres Vorgängers Clement Attlee, der nach dem 2. Weltkrieg den NHS einführte und Teile der Industrie verstaatlichte – nicht wie Margaret Thatcher, die das alles wieder aufräumen musste. Und das allererste Versprechen, das Donald Trump nach seiner Wahl machte, lautete: „Wir werden unsere Innenstädte, Highways, Brücken, Tunnel, Flughäfen, Schulen und Krankenhäuser wiederaufbauen. Wir werden die Infrastruktur erneuern … Und wir werden dadurch für Millionen Menschen Arbeitsplätze schaffen.“ – Das ist Franklin D. Roosevelts „New Deal“ neuaufgelegt. Dafür spricht auch sein Zugeständnis, Obamacare nun doch nicht abzuschaffen.

Natürlich war Immigration beim Brexit und den US-Wahlen ein Thema. Natürlich sind viele von Trumps Sprüchen rassistisch und einige der von der neuen britischen Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen offen fremdenfeindlich wie etwa, dass Unternehmen angeben müssen sollen, wie viele ausländische Angestellte sie beschäftigen. Doch bloße Empörung über Rechtspopulismus führt höchstens zu einer noch stärkeren Verhärtung der Fronten. Die Offene Gesellschaft ist in Gefahr, weil sie das Ergebnis der Globalisierung ist. Rassismus ist oft nur eine Ausdrucksform der zugrundeliegenden Ängste vor den Herausforderungen einer freien Marktwirtschaft. Wer etwas gegen diese Formen des Rechtspopulismus tun will, sollte nicht die Interventionsspirale gegenseitiger Vorwürfe (political correctness vs. Rassismus, Homophobie etc.) bedienen, sondern – wie einst der große britische Freihandels-Kämpfer Richard Cobden – die Vorzüge der Globalisierung verdeutlichen.

Steht die Republikanische Partei vor einem fundamentalen Wandel?

Die 180-Grad-Wende der Tories werden wahrscheinlich auch die Republikaner erfahren. Denn die Wahl Trumps war – wie der Brexit – auch ein deutliches Signal gegen Globalisierung. Republikanische Politiker haben erfahren müssen, dass sich mit Protektionismus und ökonomischem Interventionismus, wie sie Trump offen ins Schaufenster gestellt hat, Wahlen gewinnen lassen. Von einigen wenigen Überzeugungstätern abgesehen, wird das die meisten entscheidend in ihren Politikentscheidungen beeinflussen. Trumps Wahl könnte sich als letzter Todesstoß für den marktfreundlichen Teil der Tea Party Bewegung herausstellen. Stephen Davies, einer der führenden Köpfe beim Institute of Economic Affairs in London liefert einen interessanten Ausblick:

„Die langfristigen und strukturellen Veränderungen, die mit Trumps Sieg einhergehen werden, sind schlimm. …Er wird die Republikanische Partei in eine Partei des Nationalismus, des wirtschaftlichen Dirigismus, der Anti-Globalisierung und der Identitäts-Politik verwandeln. Es wird bizarr sein, zu beobachten, wie viele republikanische Politiker plötzlich entdecken, dass die Prinzipien, die sie viele Jahre lang unterstützt haben, jetzt Schnee von gestern sind … Viele Republikaner werden plötzlich einen Gesinnungswandel durchleben. Andere werden ersetzt werden und manche werden gehen oder ausscheiden.“ Schließlich zitiert er die Reaktion von Pat Buchanan, seit Jahrzehnten die prominenteste Stimme des reaktionären Flügels der Republikaner, auf die Wahl Trumps: „Die Globalisierung ist am Ende. Die Zukunft gehört dem Ethno-Nationalismus und dem wirtschaftlichen Nationalismus.“

Linke Vorarbeit für rechte Politiker

Attac, Campact, Occupy, Thomas Piketty, Bernie Sanders, Jeremy Corbyn und Sarah Wagenknecht haben mit ihren dauernden Tiraden gegen die Globalisierung und der Panikmache beim Thema Ungleichheit einen (hier passt das Modewort ausnahmsweise einmal sehr gut:) postfaktischen Diskursstil gesät und wir ernten nun Politiker wie Trump. Die heutige Situation erinnert an die große Krise des Liberalismus und der Globalisierung ab dem Ersten Weltkrieg. Überall gerät er in die Defensive: mal von ganz offen rechten Kräften wie Kaczynski, Orban oder Le Pen, mal von solchen, die in staatsmännischem Gewande daherkommen wie Theresa May oder Donald Trump. Flankiert wird diese Bewegung von autoritären Kräften wie Erdogan, Duterte oder Putin. Die Handelskriege, die aus dem wachsenden Protektionismus zu erwachsen drohen, können die Weltwirtschaft in eine noch viel dramatischere Lage bringen als der Lehman Crash. Die Folge wird der weitere Aufstieg von Anti-Globalisierungs-Bewegungen sein, weil die Folgen dieses Protektionismus der Globalisierung zugeschrieben werden – dank der intensiven Pflege dieses Narrativs durch Linke in den letzten Jahrzehnten.

Es wird gewaltiger Kraftanstrengungen und vieler Jahre, wenn nicht Jahrzehnte bedürfen, um die gerade einsetzende Trendwende wieder umzukehren und die Globalisierung mit all ihren positiven Auswirkungen wieder aufs Gleis zu stellen. Aber so mühsam diese Perspektive erscheint, so gibt es doch Hoffnung. Den libertären Präsidentschaftskandidaten Gary Johnson, der seinen Stimmenanteil im Vergleich zur letzten Wahl auf mehr als 4 Millionen Stimmen vervierfacht hat, haben 6 % der Wähler zwischen 18 und 24, 4 % der Wähler zwischen 25 und 29 sowie 5 % der Wähler zwischen 30 und 39 gewählt. Das korrespondiert mit der Zustimmung, die das libertäre Urgestein Ron Paul bei der Wahl 2012 im Vorwahlkampf vor allem unter jungen Wählern genoss.

Hoffnungsschimmer am Horizont

Es gibt inzwischen auf der ganzen Welt eine breite, wenn auch noch kleine, so doch schon sehr schlagkräftige Bewegung, die sich der Globalisierung und der damit einhergehenden Offenen Gesellschaft verschrieben hat. Der Frontalangriff auf die Globalisierung trifft ihre Verteidiger mithin nicht völlig unvorbereitet, auch wenn es die nächste Zeit noch sehr ungemütlich werden kann. Es mögen sich noch ganz neue ungewöhnliche Allianzen auftun. Wenn etwa die Tories in Großbritannien und die Republikaner in den USA sich tatsächlich auf den Weg zur interventionistischen und protektionistischen Knechtschaft machen, mag manch ein schmerzhafter Abschied bevorstehen.

Doch für den, der bereit ist umzudenken, tun sich auch ganz neue Möglichkeiten auf. Gerade in der jungen Generation sind viele sehr kosmopolitisch aufgewachsen – und in Zeiten weltweiter Kommunikation ist dieser Kosmopolitismus auch nicht mehr nur ein „Privileg“ der besser gebildeten und Reichen. Vielleicht gelingt, was Stephen Davies hoffnungsvoll als mögliche Perspektive beschreibt, wenn er sich eine Partei vorstellt, die „im breiten Sinne liberal ist, sich vehement für Freihandel einsetzt, internationalistisch und kosmopolitisch ist, um Gleichheit besorgt und doch wesentlich weniger begeistert von staatlicher Gewalt und dem Versuch, Ungleichheit durch Interventionen zu beseitigen.“

Eine Mahnung aus dem Jahr 1949

Es gibt Organisationen wie die Students for Liberty, es gibt Politiker-Nachwuchs wie Daniel Hannan in Großbritannien oder Justin Amash und Thomas Massie in den USA und es gibt weltweit, quer durch die Lager und Parteien hindurch, Menschen, denen an Freihandel, Marktwirtschaft und einer Offenen Gesellschaft gelegen ist. All diese Leute müssen jetzt ihren Mut und ihre Geduld zusammennehmen und dem Rat Friedrich August von Hayeks folgen, der 1949, in einer ähnlich düsteren Zeit, schrieb:

„Wir müssen ein neues liberales Programm anbieten, das sich an die Vorstellungskraft wendet. Wir müssen den Aufbau einer freien Gesellschaft wieder zu einem intellektuellen Abenteuer machen, zu einem Akt des Mutes. Was uns fehlt, ist eine liberale Utopie, ein Programm, das weder eine bloße Verteidigung bestehender Verhältnisse ist noch ein verwässerter Sozialismus, sondern ein wirklich liberaler Radikalismus, der die Mächtigen nicht schont, der nicht allzu pragmatisch ist, und der sich nicht auf das beschränkt, was heute politisch durchsetzbar erscheint. Wir brauchen intellektuelle Führungspersönlichkeiten, die bereit sind, sich für ein Ideal einzusetzen, mögen die Aussichten auf ihre baldige Umsetzung auch noch so gering sein. Es müssen Menschen sein, die bereit sind, an ihren Prinzipien festzuhalten und für deren volle Verwirklichung zu kämpfen, mag der Weg auch noch so lang erscheinen.

Die Aussichten für die Freiheit sind in der Tat dunkel, wenn es uns nicht gelingt, die philosophischen Begründungen einer freien Gesellschaft wieder in den intellektuellen Diskurs einzubringen; wenn es uns nicht gelingt, die Einrichtung einer freien Gesellschaft zu einer Aufgabe zu machen, die die Genialität und Vorstellungskraft unserer fähigsten Köpfe herausfordert. Wenn es uns aber gelingt, jenen Glauben an die Kraft der Ideen wiederzuerlangen, der das Kennzeichen des Liberalismus zu seinen Glanzzeiten war, dann ist der Kampf nicht verloren.“

Erstmals erschienen bei „Peace Love Liberty – Das Studentenmagazin“.

 Photo: ARD/Tagesschau

Als am Wahlabend vergangene Woche zur besten Sendezeit um 20 Uhr Jörg Schönenborn in der öffentlich-rechtlichen Tagesschau die Umfragen zur amerikanischen Präsidentenwahl veröffentlichte, war eigentlich alles klar. Clinton habe 268 Stimmen bereits sicher und benötige lediglich die Wahlmännerstimmen eines Swing State, um die notwendigen 270 Wahlmännerstimmen zu erlangen und damit die Wahl zu gewinnen. Konkurrent Trump könne nur auf sichere 180 Wahlmännerstimmen vertrauen. Er relativierte zwar die Zahlen, es sei noch nichts sicher, dem Zuschauer wurde aber eine Graphik gezeigt, die den Eindruck eines klaren Vorsprungs darstellen sollte. Wie unsauber die durch Zwangsgebühren finanzierte ARD hier arbeitete, wird erst klar, wenn man die Umfragen in Amerika vom Vortag anschaut.


In diesem Zusammenhang teilen wir gerne folgende Anmerkung von Jörg Schönenborn, hier wiedergegeben in der Zusammenfassung eines Telefongesprächs mit Roland Tichy. Rückfragen bitte unter diesem link stellen.

„Jörg Schönenborn legt Wert auf die Feststellung, dass er die Karte lediglich als Ausgangspunkt genommen habe für die weitere Erklärung, dass die noch ausstehenden Ergebnisse einzelner Bundesstaaten wie Wisconsin den Vorsprung von Hillary Clinton sehr schnell verkehren könnten. Genau diese Interpretation habe sich als zentral und richtig herausgestellt, weil dadurch der Ausgang bestimmt worden sei. Alles andere sei eine extreme Zuspitzung bis zur Verdrehung von Fakten, da die Grafik als Ausgangspunkt einer weiteren Erklärung richtig interpretiert worden sei.“


Das Portal Realclearpolitics, das alle relevanten Umfragen in den USA veröffentlicht, hatte Clinton noch am Montag lediglich 203 und Trump 164 Wahlmänner sicher zugerechnet. Bei allen anderen Staaten, die insgesamt 171 Wahlmänner repräsentieren, betrug die Differenz zwischen Clinton und Trump weniger als 5 Prozent und fiel daher in den Bereich der Fehlerwahrscheinlichkeit. Es war unseriös und mindestens fahrlässig von Schönenborn und der ARD, diese statistische Fehlerwahrscheinlichkeit einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Vielleicht steckte in den pseudowissenschaftlichen Daten der Tagesschau mehr der Wunsch eines Wahlausgangs. Der Gebührenzahler will in der Tagesschau aber nicht den Wunsch von Jörg Schönenborn oder einer Redaktion hören und sehen, sondern Fakten. Besser wäre es gewesen, wenn die ARD auf das Programm und die jeweiligen Folgen der Kandidaten eingegangen wäre, anstatt Umfragen zu manipulieren. Denn das Programm des 45. Präsidenten der USA ist nicht ganz ohne und wird Auswirkungen auf Deutschland haben.

Trumps Agenda: Er will das Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko kündigen und neuverhandeln. Er will das Freihandelsabkommen TTIP mit der EU auf Eis legen und auch das Transpazifische Handelsabkommen TPP stoppen. Einiges davon hätte auch Hillary Clinton gemacht, auch sie folgte dem Druck von Links und Rechts, den Freihandel zurückzuschrauben, weil sie eine Gefahr für die Arbeitnehmer im eigenen Land befürchten.

Das führt uns zum Kern des Wirtschaftens. Wofür werden Waren und Dienstleistungen produziert und verkauft? Dienen sie in erster Linie dazu, Menschen eine Arbeit und damit Einkommen zu ermöglichen, damit sie anschließend diese Waren kaufen können? Dienen sie in erster Linie sogar dazu, dass die Regierung oder der Staat Einnahmen über Steuern generieren kann, damit anschließend Straßen und Kindergärten gebaut werden können? Nein, beides sind Folgen des Wirtschaftens. Die Produktion und der Verkauf von Waren dient in erster Linie dazu, dass der Einzelne als Konsument seine individuellen Wünsche erfüllen kann. Würde man die Arbeitsplätze oder die Einnahmen des Staates als wesentlichen Kern des Wirtschaftens betrachten, dann verließe man den Boden der Marktwirtschaft, auch unserer Sozialen Marktwirtschaft. Ludwig Erhard sagte über die Marktwirtschaft: “Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch.“ Die Marktwirtschaft ist deshalb sozial, weil sie Wünsche Einzelner bedient, die sonst nicht bedient würden. Erst dadurch entstehen Arbeitsplätze und mittelbar auch Einnahmen für den Staat. Keine Regierung, kein Interessenverband und auch keine Gewerkschaft kennen die Wünsche jedes Einzelnen, dieses Wissen haben sie nicht.

Zäumt man das Pferd von hinten auf, indem man erst an den Erhalt der Arbeitsplätze und die Einnahmen des Staates denkt, dann orientiert man sich nicht am Konsumenten und dessen Wünsche, sondern an den Wünschen von Lobbygruppen. Dies ist dann das Einfallstor für Protektionismus, Abschottung und eine gelenkte Wirtschaft, in der der Staat immer mehr zu sagen hat und dadurch die Bürokratie überhandnimmt. Letztlich geht es im internationalen Handel ebenso um diese entscheidende Frage. Auch dabei geht es darum, ob der Einzelne seine Wünsche, Ideen und Vorstellungen auch grenzüberschreitend erfüllen kann, ohne die jeweilige Regierung demutsvoll fragen oder Wegzoll bezahlen zu müssen. Das betrifft und schadet uns allen. Wie es die österreichische Nationalratsabgeordnete Claudia Gamon während einer Debatte im dortigen Parlament so treffend sagte: „Wer hier in diesem Saal ohne Freihandel ist, werfe das erste iPhone.“

Erstmals veröffentlicht auf Tichys Einblick.

Photo: Erik Drost from Flickr (CC BY 2.0)

Die wirtschaftspolitische Agenda des kommenden US-Präsidenten Donald Trump ist durchaus differenziert. Innerhalb der USA setzt er auf Steuersenkungen und Investitionen und außerhalb der USA auf Abschottung. Auf Steuersenkungen zu setzen ist durchaus vernünftig. US-Unternehmen zahlen auf der Ebene des Unternehmens 35 Prozent Körperschaftsteuer an den Bund und eine nach Bundesstaat differenzierte Ländersteuer. In New York sind dies rund 5 Prozentpunkte, so dass Unternehmen dort mit fast 40 Prozent belastet werden. Das ist ein internationaler Spitzenwert und höher als in Hochsteuerländern wie Frankreich oder Belgien. Deutschland kommt auf einen Wert von knapp 30 Prozent (Körperschaftsteuer, Soli, Gewerbesteuer). Zwar ist die Bemessungsgrundlage der Steuern auf Unternehmensgewinne von Land zu Land unterschiedlich und daher nur schwer zu vergleichen, dennoch ist die Höhe für die US-Wirtschaft und den Investitionsstandort Amerika ein psychologisches Problem.

Trump hat im Wahlkampf angekündigt, die Bundessteuer auf 15 Prozent und damit die Gesamtbelastung für Unternehmen auf 20 Prozent (New York) zu reduzieren. Er würde damit bei der Unternehmensteuer sein Land vom internationalen Schlusslicht ins fordere Mittelfeld katapultieren und gleiche Steuersätze wie Großbritannien, Finnland oder die Schweiz (Zürich) erreichen. Das war auch der Weg von Ronald Reagan Anfang der 1980er Jahre, auf den Donald Trump ausdrücklich Bezug nimmt.  Reagan wird heute von Kritikern vorgeworfen, dass seine Amtszeit und der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas mit einem massiven Schuldenaufbau einhergegangen sei. Tatsächlich haben sich die absoluten Staatsschulden in seiner Amtszeit verzweieinhalbfacht: von 1,3 Billionen auf 3,4 Billionen Dollar. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung betrug die Verschuldung zu Beginn der Amtszeit Reagans 1981 rund 40 Prozent und 1989 60 Prozent. Mit diesen Werten würde Amerika heute gut dastehen.

Aber die Situation ist heute weitaus schlechter. Trump startet seine steuerpolitischen Visionen mit einem Schuldenstand von über 19 Billionen Dollar, einer Verschuldung zum BIP von über 106 Prozent und einem laufenden Staatsdefizit von fast 800 Milliarden Dollar in 2016.

Trump sieht die Ursache für die hohe Verschuldung und den geringen Beschäftigungsstand auch in der Stärke Chinas. Sein Vorwurf an die Asiaten ist, dass sie indirekt ihre Exportindustrie subventionieren, indem sie die chinesische Währung Renminbi abwerten und damit chinesische Exporte billiger machen. An diesem Argument ist etwas dran. Zwar verteuern sich dadurch auch die importierten Vorprodukte für China, doch in Zeiten frei manipulierbarer Währungen überwiegt der kurzfristige Vorteil. Die Antwort Trumps darauf ist, Einfuhrzölle für chinesische Waren von 45 Prozent vorzuschlagen. Wenn das käme, wäre es der Super-Gau für die Weltwirtschaft, der ein gegenseitiges Hochschaukeln von Gegenmaßnahmen zur Folge hätte.

Wahrscheinlich werden daher Zölle in dieser Größenordnung nicht kommen. Eher wird Trump verstärkt in den Abwertungswettlauf mit China eintreten. Aus seiner Sicht könnte er damit mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Würde er die amerikanische Notenbank FED dazu bringen, auf künftige Zinserhöhungen zu verzichten und stattdessen die Zinsen auch nominal am langen Ende niedrig zu halten, dann könnte er eine Steuerreform über neue Schulden finanzieren, die auch nominal nichts kosten. Die FED müsste dann den Weg Japans gehen, wo die dortige Notenbank die Zinsstrukturkurve über alle Laufzeiten kontrolliert. Das hätte aus Trumps Sicht sehr viel Charme, denn der größte Gläubiger von US-Staatsanleihen ist mit 2,5 Billionen Dollar die eigene Notenbank. Aber direkt danach kommt schon China mit 1,22 Billionen Dollar. China ist hier in einem Dilemma. Es kann die Anleihen nicht umfangreich auf den Markt werfen, ohne dass es an den Anleihemärkten zum Kollaps käme. Andererseits können sie gegen die Zinsmanipulation der FED nichts unternehmen. Gelänge es der FED die Zinsstruktur der Staatsanleihen über die jeweilige Laufzeit durch ihre Intervention zu steuern, dann würde China seine Exporterfolge mit einem immer weniger werthaltigen Anleihenportfolio von US-Staatsanleihen bezahlen.

Daher wird die FED unter ihrer Präsidentin Janet Yellen am 14. Dezember sicherlich nicht ihren Leitzins anheben. Stattdessen könnte nach dem Amtsantritt Trumps am 20. Januar die FED verstärkt in den Ankauf von Staatsanleihen einsteigen, um China und den Rest der Welt an der Finanzierung der Steuersenkung Trumps zu beteiligen. Die Politik Trumps unterscheidet sich nicht wesentlich von seinem Vorgänger. Dieser hat den Staatsapparat ausgeweitet und durch Zentralbankgeld finanziert. Trump senkt die Steuern, um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Amerika zu verbessern und finanziert dies wohl ebenfalls durch die eigene Notenbank. Beides ist falsch und führt zu Verwerfungen und Gegenreaktionen. Daher ist eines klar, auch unter dem US-Präsidenten Donald Trump wird der Weg in den Geldsozialismus weitergehen – nur konsequenter.

Photo: Dr Les from Flickr (CC BY 2.0)

Das CETA-Abkommen kommt doch noch. Alle Freihandelsgegner haben zu früh gejubelt. Dennoch ist die EU am Scheideweg. Die Handelnden in Brüssel und insbesondere in Berlin sind selbst schuld am Schlamassel. Denn es war lange unklar, ob CETA ein gemischtes Abkommen ist oder nicht, ob es also der Zustimmung der Mitgliedsstaaten bedarf.

Die EU-Kommission vertrat Anfang Juni noch die Auffassung, dass Freihandelsabkommen ausschließlich in die Zuständigkeit der EU falle und die Zustimmung der nationalen und regionalen Parlamente nicht erforderlich sei. Die Kommission hatte dafür gute Gründe. Zur ausschließlichen Zuständigkeit der EU gehört eindeutig die gemeinsame Handelspolitik (Artikel 3, Absatz 1 e AEUV) und die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Übereinkünfte (Artikel 3, Absatz 2 AEUV). Klarer geht es nicht.

Doch die EU ist keine Rechtsgemeinschaft, weil die Mitgliedsstaaten sich nicht an gemeinsam geschaffenes Regeln halten und die Kommission ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge nicht wahrnimmt. Daher ist das Beinahe-Scheitern von CETA eigentlich nicht Campact oder all den CETA-Gegnern anzulasten, sondern den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Sie hatten buchstäblich die Hosen voll. Mit der Brexitentscheidung am 23. Juni in Großbritannien brach Panik aus in den Regierungszentralen in Berlin, Paris und anderswo. Sie vertraten plötzlich die Rechtsauffassung, dass eine Zustimmung des Europa-Parlaments und der 28 Parlamente der Mitgliedsstaaten nunmehr notwendig sei. Damit war die Lunte für das Scheitern gelegt. Erst jetzt konnte ein Regionalparlament, wie in der Wallonie, das nicht einmal ein Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert, den Rest erpressen.

Die fortgesetzten Vertragsbrüche im Kleinen wie im Großen sind wie Sargnägel für die EU. Die Nichtahndung der Verschuldungsgrenzen des Maastrichter-Vertrages in den 2000er Jahren bis heute haben dazu geführt, dass die Schuldenlast in den Mitgliedsstaaten immer weiter ansteigen konnte. Der Bail-Out Griechenlands war ein erneuter Rechtsbruch, der aber eine Folge der vorigen Rechtsbrüche der Maastrichter Schuldenkriterien war. Dass der Fiskalpakt heute keine Rolle mehr spielt, obwohl er eigentlich die Lehre aus dem griechischen Bail-Out sein sollte, beweist dies erneut. Dass Frankreich und Italien in der EU anders behandelt werden als Griechenland, Portugal oder Zypern, zeigt, dass europäisches Recht nicht für alle gleich gilt. Es werden Unterschiede zwischen Klein und Groß gemacht. Das schürt Missgunst und Ressentiments bei den kleinen Mitgliedsstaaten. Daher muss man sich nicht über die Wallonie wundern, sondern sich im Kanzleramt und im Élysée-Palast selbst an die Nase fassen. Und auch die einseitige Aussetzung des Dubliner Abkommens durch Angela Merkel im Sommer letzten Jahres war ein Brechen gemeinsamer Regeln. Gleichzeitig mischt sich die Kommission in Bereiche ein, die wiederum in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fällt. Es ist ein Kampf um Zuständigkeiten, der zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten geführt wird.

Die Ursache für die fortgesetzten Rechtsbrüche ist der unzureichende institutionelle Rahmen der EU. Sie ist nicht ausreichend demokratisch und sie ist nicht ausreichend rechtstaatlich. Das Prinzip der Gewaltenteilung existiert nicht. Die Kommission setzt Recht, kontrolliert und sanktioniert es. Das Parlament der EU kontrolliert die Kommission nicht, sondern will mit der Kommission gemeinsam lediglich mehr Zuständigkeiten von den Mitgliedsstaaten erhalten. Ihr Widerpart ist der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs. Er ist keine zweite Kammer, wie der Bundesrat oder der Senat in den USA. Der Rat kann daher auch keine eigenen Gesetzentwürfe vorlegen. Dieses Recht ist der Kommission vorbehalten, die es zur Ausweitung ihrer Kompetenzfülle missbraucht. Wann endlich beginnt in der EU eine systematische Diskussion über diese Konstruktionsfehler? Viele meinen, es sei schon zu spät. Doch Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Berit Watkin from Flickr (CC BY 2.0)

Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Nach dem Brexit-Votum und der harten Haltung von Theresa May auf dem Tory-Parteitag sinnt mancher in Brüssel darauf, an den Briten ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Nichts wäre falscher. Nötig ist ein maximal kooperativer Geist, der den Briten Brücken für eine spätere Rückkehr baut.

Der politische Handlungsdruck ist hoch. Ohne rasche Klarheit über die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU drohen wirtschaftliche Vorteile auf beiden Seiten einem politisch bedingten Attentismus zum Opfer zu fallen. Die Neuordnung des Verhältnisses ist ein komplexes und in den Details zeitraubendes Unterfangen. Umso wichtiger ist eine rasche Entscheidung in den Grundsatzfragen.

Es wäre viel gewonnen, wenn diese Entscheidung zugunsten einer maximal kooperativen Haltung der EU gegenüber dem Vereinigten Königreich ausfiele. Ein solches Signal würde noch weit vor dem Abschluss der Verhandlungen bereits einen Großteil der Unsicherheit aus der Welt schaffen. Nicht nur die Sorgen um konjunkturelle Effekte sprechen für eine solche Strategie. Diese käme auch der EU-Stabilität zugute, die sich langfristig nur aus ihren genuinen Club-Vorteilen speisen kann, nicht aber aus den Drohgebärden einer Großmachtpolitik. Nicht zuletzt sollten auch deshalb möglichst viele ökonomische Brücken über den Kanal erhalten bleiben, damit auf ihnen die nächste Generation der Briten vielleicht den Weg zurück in die EU finden kann.

EU-Stabilität durch Subsidiarität, nicht durch Abschreckung

Am Vereinigten Königreich wegen des EU-Austritts ein abschreckendes Exempel zu statuieren wäre ein Armutszeugnis für die Europäische Union. Ein Club ist attraktiv, wenn er den Mitgliedern Möglichkeiten eröffnet, die ihrer Natur nach nur gemeinschaftlich erreichbar sind, nicht aber dadurch, dass bei einem Austritt harte Sanktionen drohen. Je konsequenter sich die EU auf echte unionsweite Kollektivgüter konzentriert, desto klarer treten die Vorteile einer Mitgliedschaft hervor. Dem dient unmittelbar das Subsidiaritätsprinzip als Grundpfeiler der EU-Architektur (Artikel 5 Absatz 3 EU-Vertrag). Es stabilisiert die Gemeinschaft, weil so dem andernfalls zutreffenden Eindruck vorgebeugt wird, in Brüssel würden Dinge entschieden, die sich ebenso gut oder besser auf nationaler Ebene behandeln ließen. Es ist daher an der Zeit, nicht länger diejenigen, die auf die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips dringen, als „europafeindlich“ zu schmähen. Dieses Prinzip ist keine Bremse der „EU-Skeptiker“, sondern ein seit langem bewährtes Verfahren zur Stabilisierung vertikal strukturierter Gemeinwesen.

Schiefe Bilder, schiefes Denken: Merkantilismus ist ein schlechter Ratgeber

Die Absicht der britischen Regierung, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger zu beschränken, ohne den Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Kapital aufzugeben, wird gemeinhin als „Rosinenpickerei“ kritisiert. Dieses Bild ist populär, aber schief. Kommunikativ erweist es dem Integrationsgedanken einen Bärendienst: Wer freien Güter- und Kapitalverkehr als „Rosinen“ und die Arbeitnehmerfreizügigkeit als die dafür zu schluckende Kröte verkauft, darf sich nicht wundern, wenn sich Ressentiments gegenüber Wirtschaftsmigranten verstärken. Ökonomisch besteht ohnehin kein zwingender Nexus zwischen freiem Arbeitsmarktzugang und dem übrigen Binnenmarkt.

Auch die Vorstellung, Freihandel sei eine Rosine, lässt tief blicken in eine Haltung, die immer noch von merkantilistischen Irrtümern durchsetzt ist. Freihandel ist kein Zugeständnis, sondern liegt im allseitigen Gemeinwohlinteresse. Daran ändert sich auch nichts, nur weil die EU als Handelspartner für Großbritannien relativ bedeutsamer ist als umgekehrt. Ebenso wenig taugt indes das Argument, die EU-27 solle wegen des Exportüberschusses gegenüber dem Vereinigten Königreich schonend mit den Briten umgehen. Auch darin äußert sich merkantilistisches Denken, das ebenso zwangsläufig wie überflüssigerweise zwischenstaatliche Konflikte schürt. An Exportüberschüssen lässt sich die Vorteilhaftigkeit des Handels nicht messen, weil Handelsströme in beiden Richtungen für alle Beteiligten nützlich sind. Freier Kapitalverkehr ermöglicht zudem, dass sie auch zeitlich auseinanderfallen können, was einen weiteren Vorteil – wiederum für alle Beteiligten – bewirkt.

Über die Innensicht des Binnenmarktes hinausdenken

So wichtig der Abbau von Handelshemmnissen innerhalb des EU-Binnenmarktes auch ist, die Vorteile des freien Güteraustauschs hören nicht an der EU-Außengrenze auf. Die Binnensicht sollte nicht blind machen für das, was die übrige Welt zu bieten hat. Leider ist es mit dieser emanzipierten Weltoffenheit in der EU nicht allzu weit her. Während Freihandel im Binnenverhältnis mittlerweile weitgehend unstrittig ist, gilt Freihandel mit der übrigen Welt vielen immer noch als suspekt. Das öffnet protektionistischen Partikularinteressen Tür und Tor.

Sichtbar wird dies in der EU-Agrarpolitik und den Akzeptanzproblemen bei neuen Freihandelsabkommen. Auch würde sonst nicht nur zu Recht die Industriepolitik einzelner Mitgliedsländer zugunsten „nationaler Champions“ unterbunden, sondern auch „europäischen Champions“ nicht das Wort geredet. Wettbewerbsdruck durch Marktöffnung statt Flankenschutz durch Industriepolitik wäre die generell richtige Devise – auch auf EU-Ebene. Insgesamt steht man sich somit in den Außenbeziehungen allzu oft mit merkantilistischem Denken selbst im Weg, und genau das droht den Beteiligten jetzt im Brexit-Prozess auf die Füße zu fallen.

Freien Marktzugang als Privileg zu betrachten, um es in dominanter Weise als Druckmittel auszuspielen, wäre primitives Großmachtgehabe und schadete allen. Freier Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Kapital bedingt natürlich auch im Sinne von Nicht-Diskriminierung die Akzeptanz der Regeln, die dort für alle Akteure unabhängig von ihrer Nationalität gelten. Über diese Regeln mitentscheiden zu können ist ein genuiner Club-Vorteil, den die EU-Mitgliedschaft bietet. Allein deshalb nimmt Großbritannien mit dem Austritt bereits einen hohen Preis in Kauf, der sich von selbst einstellt. Mit jedem Anschein von zusätzlichen Sanktionen würde sich die EU selbst klein machen, indem sie den Wert ihrer Club-Güter ohne Not geringschätzt.

Gemeinsame Handelspolitik stärken, nicht schwächen

Der kurz nach dem Brexit-Votum erfolgte Schwenk der EU-Kommission, den Ceta-Freihandelsvertrag mit Kanada als gemischtes Abkommen einzustufen, schmälert den Wert der Club-Mitgliedschaft zusätzlich. Da nun eine Beteiligung sämtlicher nationaler und sogar einiger regionaler Parlamente erforderlich wird, dürften nicht nur die Erfolgsaussichten für Ceta merklich sinken, sondern die EU fortan auch als Verhandlungspartner für andere Weltregionen unattraktiver sein. Damit verliert sie in einer wohlbegründeten Gemeinschaftskompetenz an Gewicht, das andernfalls für die internationale Marktöffnung hätte eingesetzt werden können. Die wohl zur Besänftigung EU-kritischer Strömungen gedachte Ceta-Entscheidung verwässert ebenfalls das Subsidiaritätsprinzip, nun aber in umgekehrter Richtung, weil sie die gemeinsame Außenhandelspolitik als Kernaufgabe einer Wirtschaftsunion durchlöchert und so allgemeine Handelsregeln wieder dem Einfluss national-protektionistischer Interessen aussetzt.

Freihandel: Grenzüberwinder mit eingebauter Kooperationsprämie

Wer die EU für schwach hält, solange sie „nur“ den wirtschaftlichen Austausch fördert, verkennt die überragende Rolle, die wirtschaftliche Beziehungen für die friedliche Entwicklung spielen. Es war kein Zufall, die innere Befriedung des freien, westlichen Teils des europäischen Kontinents nach 1945 über die wirtschaftliche Schiene zu suchen (in den Vorläufern der EU wie auch in der Efta). Die Gründe, die dafür damals richtig waren, sind es auch heute noch. Durch ökonomische Interaktion – also Tauschprozesse in allen Varianten – erfahren Menschen in ihrem jeweiligen Kontraktpartner einen Förderer des eigenen Wohlergehens. Tausch ist immer freiwillig, weil er nur zustande kommt, wenn beide Seiten einen Vorteil darin sehen. Kaum eine andere menschliche Interaktionsform hat die Belohnungsprämie für kooperatives Verhalten so sichtbar eingebaut wie die Tauschhandlung; nicht umsonst spricht man von Tauschpartnern und nicht von Tauschgegnern. Aus demselben Grund bedanken sich nach einem Geschäftsabschluss stets beide Parteien gegenseitig.

Damit liefert der Freihandel eine zutiefst befriedende Basis für das Zusammenleben der Menschen über Ländergrenzen hinweg. Letztlich entstehen so friedliche Gesellschaften als Netzwerke massenhafter individueller Beziehungen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht verordnen, sondern kann sich nur evolutionär einstellen. Freier wirtschaftlicher Austausch ist die beste Grundlage dafür, weil die gemeinsamen Vorteile die Menschen zueinander führen und auf Dauer verbinden. Auf der Basis der sich dann herausbildenden Konsense können – als Abkürzung zur weiteren Verringerung von Transaktionskosten – formale Institutionen entstehen. Diese Institutionen müssen aber dem Konsens folgen, nicht umgekehrt.

Konfliktreiche Nachwirkungen des Protektionismus

Wird freier wirtschaftlicher Austausch indes für längere Zeit blockiert, so richten sich die Preis- und Produktionsstrukturen an diesen Gegebenheiten aus. Hierzu zählen nicht zuletzt die Arbeitsmärkte und Lohnstrukturen. Trotz des Wohlfahrtsverlusts im Allgemeinen gedeihen im Schatten von Zoll- und Migrationsbarrieren auch Renten von Protektionismusgewinnern. Für diese wirkt ein schlagartiger Übergang zu freien Formen des Wirtschaftens disruptiv, weil ihre protegierten Markt- und Einkommenspositionen nahezu über Nacht erodieren. Diese Form von Ad-hoc-Liberalisierung kann daher neben neuen grenzüberschreitenden Kooperationsformen auf Jahre hinaus auch massive innerstaatliche Konflikte schüren. Ursächlich dafür ist indes nicht der freie Markt, sondern es sind die vorausgegangenen Hemmnisse.

Wie eine Staumauer haben sie den ansonsten graduell ablaufenden Anpassungsprozess über lange Zeit aufgehalten. Wenn diese Mauer nun bricht, bleibt für die Betroffenen typischerweise zu wenig Zeit, um sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Massive Verteilungskämpfe zwischen Gewinnern und Verlierern bleiben dann nicht aus – sie sind so etwas wie das letzte soziale Gift, das der Protektionismus aus seiner modernden Gruft noch eine Zeitlang verströmt. Beim Übergang zu einem freien gemeinsamen Markt kann daher auch die Geschwindigkeit eine Rolle für die breite Akzeptanz in der Bevölkerung spielen.

Multiple Geschwindigkeiten als Chance für den Integrationsprozess

Mit der EU haben sich die Mitgliedsländer eine Instanz geschaffen, mit der sie ihre gemeinsamen wohlverstandenen Gemeinschaftsinteressen wahren können. In den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes kommen wichtige Gemeinwohlinteressen zum Ausdruck. Dies gilt auch für die Personenfreizügigkeit. Es ist für jeden Bürger eines Mitgliedslandes abstrakt vorteilhaft, die ökonomische Wirkungsstätte innerhalb der EU frei wählen zu können – und nur solche abstrakten Vorteile können überhaupt ein Gemeinwohlinteresse begründen. Die konkrete Ausübung dieser Wahlfreiheit ändert zwangsläufig Knappheitsrelationen, andernfalls lägen gar keine Vorteile durch größere Wahlmöglichkeiten vor. Dies bedeutet aber zugleich, dass es trotz des anonymen Nettovorteils zu Gewinnern und Verlierern kommen kann. Trägt der Grundkonsens in einem Mitgliedsland nicht so weit, dass diese Effekte akzeptiert oder durch Kompensationszahlungen gemildert werden, so entstehen die erwähnten post-protektionistischen Spannungen im politischen Raum.

Im Falle Großbritanniens haben daher wohl vor allem jene für den EU-Austritt gestimmt, die sich – zutreffend oder nicht – als Verlierer der Arbeitnehmerfreizügigkeit betrachten, sei es durch höhere Wohnungspreise oder niedrigere Löhne. Dieses Votum spricht dagegen, die freie Arbeitsmigration auf Biegen und Brechen herbeiverhandeln zu wollen – es würde nur dazu führen, hinter sonst mögliche Kooperationsergebnisse zurückzufallen. Wenn man hingegen konstruktiv alles miteinander vereinbart, was diesseits und jenseits des Kanals konsensfähig ist, wird eine Menge dabei herauskommen. Folgt man behelfsmäßig dem Prinzip der Reziprozität, dann werden sich mit der Zeit auch im Vereinigten Königreich diejenigen durchsetzen, die den Wiedereinstieg in die Arbeitnehmerfreizügigkeit anstreben. Denn diese liegt im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse auch der britischen Bürger. Wenn dies eine Mehrheit der Wähler in einem Mitgliedsland vorübergehend anders sieht, dann braucht dieser Teil des Integrationsprozesses offensichtlich mehr Zeit.

Das wäre nicht der Untergang der EU, auch nicht, wenn einige Mitgliedsländer als Reaktion auf ein maximal kooperatives Brexit-Abkommen ihrerseits die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränken würden. Politisch wird manches gemacht, was Ökonomen für falsch halten. Dagegen hilft nur Einsicht durch überzeugende Argumente, aber kein Druck und schon gar kein Alles-oder-nichts-Ultimatum. Multiple Geschwindigkeiten sind ein probates Mittel, um Integrationsprozesse in Gang zu bringen. Die Langsameren können von den Schnelleren allmählich lernen, wie sich abstrakte Gemeinwohlinteressen konkret in eine bessere ökonomische Entwicklung übersetzen. Solche Einsichten entstehen nicht über Nacht. Aber sobald sie sich einstellen, wird der Integrationsdrang unwiderstehlich. Und genau das macht einen erfolgreichen Club aus: Unwiderstehlichkeit durch Einsicht in den gegenseitigen Vorteil.

Geringfügig geänderte Fassung eines Gastkommentars, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 19. September 2016 in der Rubrik „Der Volkswirt“ erschienen ist, online erstmals erschienen beim Kieler Institut für Weltwirtschaft.