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Photo: EU2017EE Estonian Presidency from Flickr (CC BY 2.0)

Angela Merkel hat das Thema Digitalisierung neu für sich entdeckt. Schon auf dem Weltwirtschaftsgipfel Anfang des Jahres in Davos sprach sie von einer „Sozialen Marktwirtschaft 4.0“, denn, so die Kanzlerin: „disruptive technische Veränderungen verändern auch unsere Gesellschaft disruptiv.“ Diesen Gedanken hat sie jetzt in ihrem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Antwort auf die EU-Vision von Emmanuel Macron nochmals unterstrichen und auf die deutsch-französische Initiative für disruptive Innovationen hingewiesen, „also solche Innovationen, die bisherige Technologien ersetzen oder verdrängen und ganz neue Geschäftsmodelle schaffen“, wie sie betont.

Freilich unterliegt die Kanzlerin einem Irrglauben. Dem Irrglauben, die französische oder deutsche Regierung, oder gar die EU-Kommission wüssten, welche künftigen Innovationen bisherige Technologien ersetzen oder verdrängen werden. Wenn man Innovation staatlich erfinden könnte, wäre die Sowjetunion nie auseinandergebrochen und die DDR wohl auch nie untergegangen. Gerade diese Systeme sind ja davon ausgegangen, dass ihr staatlich gelenktes Vorgehen besser funktioniert, als der Ideenreichtum der Vielen. Doch hier ist die Kanzlerin nicht ganz alleine. Viele Landesregierungen glauben, sie könnten Innovationen fördern und entwickeln. Die Folge sind meist teure Mitnahmeeffekte für Maßnahmen, die so oder ähnlich eh stattgefunden hätten, und im schlimmsten Fall Fördermittel-Vernichtung in Innovations-Sackgassen.

Doch viel interessanter ist eigentlich die Grundthese Merkels. Stimmt es überhaupt, dass „disruptive technische Veränderungen auch unsere Gesellschaft disruptiv verändern“? Ich meine: Nein! Neue Technologien kommen nicht über Nacht. Sie ersetzen Bestehendes nicht von heute auf morgen. Es gibt hier kein Schwarz oder Weiß. Die Blockchain wird vielfach als eine disruptive Innovation bezeichnet. Doch ist sie wirklich disruptiv? Also unterbricht sie Bisheriges und stellt es damit auf den Kopf. Nein, die Anwendung der Blockchain ist mindestens 10 Jahre alt und ist mit der Entwicklung der Kryptowährung Bitcoin populär geworden. Inzwischen gibt es zahlreiche Kryptowährungen und Anwendungsversuche, die aber das Wirtschaftsgeschehen bislang nicht disruptiv verändert haben. So ist es mit vielen Innovationen. Sie entwickeln sich nicht disruptiv, sondern evolutionär. Die Anwendungen werden erst von Wenigen genutzt.  Bewähren sie sich, dann springen weitere auf und in einem Prozess von Versuch und Irrtum entwickelt sich über einen längeren Zeitpunkt eine neue Technologie, die die alte verschwinden lässt.

Anders als es die Kanzlerin meint, gibt es jedoch tatsächlich disruptive Prozesse in einer Gesellschaft. Sie kommen allerdings nicht aus der Wirtschaft oder von den Universitäten, sondern aus der Politik. Nur sie ist disruptiv. Der Angriff der USA auf den Irak war disruptiv. Er hat den Nahen Osten in ein bis heute anhaltendes Chaos gestürzt. Die Folgen für die gesamte Welt sind fatal. Auch die Brexit-Entscheidung ist für die Bürger Großbritanniens und der EU disruptiv. Der Austritt wird zwangsläufig persönliche oder zumindest ökonomische Folgen auf beiden Seiten haben, deren Ausgang heute nicht klar ist. Auch die Entscheidung Angela Merkels, im Herbst 2015 die Migranten und Flüchtlinge an der ungarischen Außengrenze der EU nach Deutschland durchreisen zu lassen, war ein disruptives Ereignis, das Folgen für alle Menschen in Deutschland hat, ob sie es wollen oder nicht. Die jüngste Entscheidung Donald Trumps, Strafzölle auf Aluminium- und Stahlprodukte zu erheben, ist ein disruptives Ereignis. Es verändert plötzlich den Handel zwischen Menschen in den USA und der EU. Und auch die Antwort der EU darauf ist disruptiv. Wer Harley Davidson-Motorräder oder amerikanischen Whisky in der EU vertreibt, kann ein Lied davon singen. Er wird von heute auf morgen in seiner Existenz bedroht.

Lassen wir uns nicht Angst machen vor evolutorischen Veränderungen durch technischen Fortschritt. Dieser erleichtert meist unser aller Leben. Beschäftigen wir uns lieber mit der Unberechenbarkeit der Politik. Deren Macht zu bändigen, wäre aller Mühe wert, weil deren Entscheidungen, die teilweise über Nacht getroffen werden, unsere Freiheit plötzlich und unmittelbar einschränken oder sogar zerstören. Daher hilft es, die Worte des britischen Liberalen Lord Acton aus dem 19. Jahrhundert zu vergegenwärtigen: „Geschichte ist kein von unschuldigen Händen gewebtes Netz. Unter allen Ursachen, die Menschen abwerten und demoralisieren, gehört Macht zu den beständigsten und lebendigsten.“

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Van Gogh „Weber am Webstuhl“ (1884), gemeinfrei

In der deutschen Politik wird gerne gejammert: über Ungleichheit und Fremde und Neid. Rechts wie links wird der Eindruck erweckt, früher wäre alles besser gewesen. Das ist grundfalsch. Es ist an der Zeit für eine neue Fortschrittsbewegung.

Früher war alles besser?

Warum denken so viele Menschen in Deutschland, dass „früher alles besser war“? Der Wohlstand wächst seit Dekaden, unterbrochen nur von Episoden internationaler Krisen. Noch nie waren Güterausstattung, Lebenserwartung und Mobilität in Deutschland so gut wie heute. Es muss also darin liegen, könnte man meinen, dass all die positiven Informationen schlicht nicht durchdringen. Doch des Pudels Kern ist: so richtig sie sind, selbst wenn die Argumente durchdringen, erzeugen sind doch allenthalben Abwehrverhalten. Stichworte: Lügenpresse, Elitendenken, Fake News. Was sind die Ursachen der allgegenwärtigen Vergangenheitsverherrlichung?

Dauerndes Gejammer über Ungleichheit und das Fremde

Im Grunde bestimmen insbesondere zwei Themen das Lamento über die aktuelle Situation in Deutschland. Von linker Seite wird das Gefühl propagiert, weite Teil der Gesellschaft würden „abgehängt“, während sich die Champagner-Elite auf Kosten der ehrlichen Leute eine Yacht nach der anderen kaufe. Die rechte Seite des politischen Spektrums, traditionell häufig ein wenig wirtschaftsfreundlicher, hat ein anderes Feindbild: Das Fremde. Hier sind es nicht die Reichen, sondern Flüchtlinge und ausländische Konzerne, die dem ehrlichen Deutschen Arbeit, Wohlstand und vor allem die Leitkultur stehlen.

Klar ist: weder wird Deutschland zu einem kultur- und rechtslosen Raum, weil es eine ohne Frage große organisatorische Leistung vollbringt und natürlich auch gewisse Risiken eingeht, indem es über eine Million hilfesuchende Menschen aufnimmt. Klar ist auch, dass von Wirtschaftswachstum und marktwirtschaftlichen Regeln alle Teile der Gesellschaft profitieren. Gerade auch die Ärmsten. Trotz der unterschiedlichen Feindbilder, sind Motivation und vor allem Lösungsansätze beider Seiten des Spektrums eng verwandt.

Fantasieprobleme führen zu echter sozialer Spaltung und Empörungspolitik

Die Motivation ist der Neid. Dabei ist es vollkommen unerheblich, ob Björn Höcke und Katja Kipping diese Missgunst auch selber empfinden, oder ob sie sie nur schüren, um im politischen Wettbewerb besser gehört zu werden. Am Ende steht die soziale Spaltung als Ergebnis einer Solidarisierung mit der gefühlt moralisch haushoch überlegenen Gruppe, die den vom Staat bevorzugten Eliten oder Migranten geradezu hilflos ausgeliefert sei. Doch nicht durch das Gefühl der moralischen Erhabenheit macht diese Strömungen so attraktiv, es sind die einfachen Lösungen. Es sind Lösungen wie „Reiche besteuern!“ oder „Kriminelle Ausländer abschieben!“.

Doch einfache Lösungen sind häufig zu kurz gedacht. Sie befriedigen einen Impuls der aufgestachelten Massen und verkennen dabei die langfristigen und fast immer negativen externen Effekte. Der französische Ökonom Frédéric Bastiat (1801-1850) sah genau darin das Problem einfacher Lösungen:

Dies ist der ganze Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Ökonomen: Der eine klebt an der sichtbaren Wirkung, der andere berücksichtigt sowohl die Wirkung, die man sieht, als auch diejenige, die man vorhersehen muss. Aber dieser Unterschied ist enorm, denn es ist fast immer so, dass die unmittelbare Folge günstig ist und die letztendlichen Folgen unheilvoll und umgekehrt.

Am Ende führen die Fantasie-Probleme nicht nur zu echter sozialer Spaltung, sondern im schlimmsten Fall zur Umsetzung verheerender Politik: Aus Neid wird Abschottung, aus Missgunst Fortschrittsfeindlichkeit.

Der Fortschritt sollte wieder zur gesellschaftlichen Strömung werden

Was kann die adäquate Antwort der Verfechter einer offenen Gesellschaft auf die Neid-Politik von rechts und links sein? Gesellschaftliche Strömungen entstehen dadurch, dass sie immer und immer wieder aufgegriffen werden. Mit vereinzelten Hinweisen auf Fakten wie den steigenden Wohlstand wird nur Abwehrverhalten erzeugt. Stattdessen wäre es an der Zeit, den Glaube an den Fortschritt wieder zu einer gesellschaftlichen Strömung zu erheben. Ahnlich wie in der Zeit der industriellen Revolution, die große Teile der Bevölkerung aus Subsistenzwirtschaft und Armut befreite. Gründe dafür gibt es genug:

In den letzten 200 Jahren hat die Weltbevölkerung eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchsen Bevölkerung und Lebensstandard kaum. Eine hohe Kindersterblichkeit, Hunger und eine geringe Lebenserwartung waren der Alltag der Menschen. Seit 1800 hat sich der Lebensstandard der Weltbevölkerung verfünfundvierzigfacht, bei gleichzeitig stetig wachsender Weltbevölkerung.

 

Charles I. Jones: “The Facts about Economic Growth” (2015) NBER Working Paper Series

Dieses Fortschritts-Wunder fußt auf genau dem, was ein wirrer Thüringer Ex-Geschichtslehrer und eine Stalinistin mit nationalen Vorlieben am liebsten beseitigen wollen: auf einer marktwirtschaftlich organisierten, offenen und pluralen Gesellschaft. Halten wir an diesen Institutionen fest, gibt es keinen Grund, warum das Fortschritts-Wunder nicht anhalten sollte. Dem Club of Rome zum Trotz: Ein Ende der absoluten Armut ist absehbar und wir müssen uns vor immer weniger Krankheiten fürchten.

Am Ende geht es aber auch darum, Alternativen anzubieten zum spalterischen Gejammer von rechts und links. Die Besinnung auf den Fortschritt, auf die eigene und die gesellschaftliche Entwicklung, ist dann hoffentlich sogar ein wirksames Mittel gegen den lodernden Populismus in der deutschen Politik.  Statt wehmütig in eine verklärte Vergangenheit zurückzublicken, sollten wir also die Zukunft in den Fokus nehmen, mit all ihren Herausforderungen. Keine neue Erkenntnis, sagte doch schon Seneca: „Es ist schon ein großer Fortschritt, den Willen zum Fortschritt zu haben.“