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Photo: Lars Plougmann from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Deutschland 2005, Belgien 2010-2011, USA 2013, Spanien 2016: Auch in etablierten Demokratien kommt es vor, dass Regierungen zeitweise einen erheblichen Teil ihrer Kompetenzen verlieren oder sich ganz auf repräsentative Tätigkeiten beschränken müssen. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: In Spanien verhindert politischer Streit seit Dezember 2015 die Regierungsbildung. Periodisch droht vor den Haushaltsverhandlungen in den USA der „government shutdown“, die Stilllegung aller nicht-essentiellen Regierungsbehörden – 2013 mussten tatsächlich einige Behörden ihre Arbeit einstellen. Nach den belgischen Wahlen 2010 musste die Vorgängerregierung 589 Tage lang kommissarisch im Amt bleiben, da im fragmentierten Parlament keine Mehrheit gefunden werden konnte. Auch in Deutschland stellte nach dem Misstrauensvotum im Juli 2005 die rot-grüne Koalition unter Schröder die Regierungsgeschäfte praktisch ein, bis ein halbes Jahr später die Regierung Merkel gebildet wurde.

Kommentatoren warnen in solchen Situationen regelmäßig davor, dass „politische Instabilität“ enorme wirtschaftliche Kosten nach sich ziehen wird, etwa in Form eines geringeren BIP-Wachstums, schwächeren Investitionen oder höherer Arbeitslosigkeit. Im Nachhinein stellen sich viele Sorgen jedoch als übertrieben heraus. Weder über kurze Zeitabstände – wie in Deutschland nach Schröders Vertrauensfrage 2005 – noch über lange Zeiträume – wie in Belgien ab 2010 – litt die Wirtschaft unter der Regierungsstarre. In manchen Fällen geschieht gar das Gegenteil: Spanien wächst seit Mitte 2015 so stark wie schon lange nicht mehr.

Diese Erfahrungen provozieren die Frage: Wächst die Wirtschaft trotz oder wegen der Regierungslosigkeit? Empirische Studien, die den kausalen Effekt von Regierungslosigkeit auf die wirtschaftliche Entwicklung identifizieren könnten, sind uns nicht bekannt. Entgegen der Befürchtungen vieler Kommentatoren bestehen allerdings gute Gründe dafür, dass zeitlich begrenzte Regierungslosigkeit den Bürgern wirtschaftlich nicht schadet und ihnen sogar nützlich sein kann.

Belgien: Ohne Regierung durch die Krise

Nach den allgemeinen Wahlen im Juni 2010 gelang es den politischen Parteien Belgiens 589 Tage lang nicht, eine neue Regierung zu bilden. Die Vorgängerregierung blieb über diesen Zeitraum kommissarisch im Amt, sah sich jedoch weitgehend auf repräsentative Tätigkeiten reduziert. Ihre Hauptaufgabe war es, das Land nach außen zu repräsentieren. Innenpolitisch wurde Belgien praktisch nicht regiert. An Warnungen vor dem großen Wirtschaftseinbruch mangelte es nicht und das Top-Rating belgischer Schuldpapiere geriet in Gefahr.

Eingetreten ist das Gegenteil: Trotz Eurokrise hat sich Belgien gut entwickelt. Das BIP wuchs 2010 um 2,7 und 2011 um 1,8 Prozent, schneller als durchschnittlich in der Euro-Zone. Vereinzelt wurde dies darauf zurückgeführt, dass Belgien ohne handlungsfähige Regierung weniger Austeritätsmaßnahmen umsetzen konnte. Weder umfangreiche Steuererhöhungen noch substantielle Kürzungen der Staatsaufgaben, die sich in der kurzen Frist beide negativ auf das BIP ausgewirkt hätten, konnten auf nationaler Ebene vorgenommen werden. Insbesondere nicht erfolgte Steuererhöhungen mögen in der kurzen und mittleren Frist von Vorteil für die belgische Bevölkerung gewesen sein.

 

 

Regierungslosigkeit bedeutet nicht politische Instabilität

Es gibt Hinweise darauf, dass der Ausfall der Funktionsfähigkeit des Staates – ausgelöst durch Putsche, Revolutionen oder Verfassungskrisen – für das Wirtschaftswachstum langfristig schädlich ist. Der drohende oder tatsächliche Kollaps von Staat, Verwaltung und Gewaltmonopol führt dazu, dass Unternehmen und Konsumenten sich nicht mehr darauf verlassen können, dass die Kernaufgaben des Staates als Inhaber der Gewaltmonopols erfüllt werden – die Landesverteidigung, der Schutz von Personen und Eigentum und die Durchsetzung von Verträgen. Dass solche Leistungen verlässlich erbracht werden, ist für komplexe, arbeitsteilige Wirtschaften essentiell.

Auch wenn Situationen, in denen keine Regierung gebildet werden kann, als Zeiten politischer Instabilität charakterisiert werden, impliziert Regierungslosigkeit nicht den Ausfall der Funktionsfähigkeit des Staates. Das bloße Fehlen einer Regierung bedeutet eben nicht, dass die Kernaufgaben des Staates unerfüllt bleiben. Tatsächlich kann der Staat auch ohne Regierung über lange Zeiträume erstaunlich gut funktionieren.

Die Planungssicherheit der belgischen Bürger hat unter der anderthalbjährigen Regierungsstarre offensichtlich nicht gelitten. Sie haben weiter gewirtschaftet wie zuvor und konnten sich auf einen funktionierenden Staatsapparat verlassen.

Weniger Regulierung ohne Regierung

Während die Nichterfüllung essentieller Staatsaufgaben zu höherer Unsicherheit und geringerer wirtschaftlicher Aktivität beiträgt, gilt dies für den Wegfall anderer staatlicher Aktivitäten nicht zwingend. Über die Bereitstellung öffentlicher Güter hinaus, betätigen sich Regierungen heute intensiv in der Schaffung neuer Regulierungen. Viele dieser Maßnahmen bremsen das Wirtschaftswachstum und können die Kompetenzen des Staates auf Bereiche ausweiten, in denen er gegenüber privaten Akteuren keinen komparativen Vorteil hat. Zwar werden auch ohne Regierung bereits bestehende Regulierungen weiter angewandt, doch kommen neue nicht oder nur in geringerem Umfang hinzu.

Nicht nur bereits umgesetzte Regulierungsmaßnahmen, sondern auch die Unsicherheit über zukünftige Maßnahmen können sich schädlich auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Unternehmer und Konsumenten, die angesichts einer aktionistischen Regierung das Timing und das Ausmaß zukünftiger Regulierung nicht abschätzen können, reduzieren ihre wirtschaftliche Aktivität. In Zeiten der Regierungslosigkeit oder lediglich kommissarisch tätiger Regierungen wird das Planungsumfeld der Bürger dagegen sicherer.

Immuner durch Dezentralisierung und Privatisierung

In manchen Situationen kann Regierungslosigkeit auf nationaler Ebene dennoch ein Problem darstellen, insbesondere, wenn sie länger andauert. Das ist dann der Fall, wenn Krisen und veränderte Rahmenbedingungen eine schnelle Reaktion der Politik erforderlich machen oder die Folgekosten der Entscheidungen von Vorgängerregierungen untragbar werden.

Gegen gravierende negative Auswirkungen durch die Handlungsunfähigkeit der nationalen Regierung können sich Gesellschaften jedoch wappnen. Werden Entscheidungskompetenzen dezentralisiert, so ist die Regierungsstarre auf einzelnen Ebenen weniger folgenreich. In eher föderalen Ländern ist das Fehlen einer zentralen Regierung besonders unproblematisch.

Auch die Schaffung weiterer privater Alternativen zu staatlichen Angeboten kann helfen, die negativen Folgen der Regierungslosigkeit abzufedern. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn staatliche Angebote nur deshalb wegfallen, weil sie zuvor gesetzlich monopolisiert wurden – und nicht etwa, weil entsprechende privatwirtschaftlich organisierte Angebote in Abwesenheit staatlicher Leistungen nicht bereitgestellt würden.

Selbst Ländern wie Spanien und Belgien, in denen die regionale Autorität der Provinzen weniger stark ausgeprägt ist als die der Bundesländer in Deutschland, scheint sich eine temporäre Regierungslosigkeit auf nationaler Ebene nicht zu Staatskrisen auszuweiten. Weder schränken Unternehmen und Konsumenten ihre wirtschaftlichen Aktivitäten ein, noch fallen essentielle staatliche Angebote weg. Eine weitreichendere Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen könnte dazu beitragen, dass die Regierungslosigkeit auf nationaler Ebene nicht nur in ruhigen Zeiten ihren Schrecken verliert, sondern auch in Krisenzeiten.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Marco Verch from Flickr (CC BY 2.0).

Man muss kein Vegetarier sein, um zu wissen, dass Soja-Mich oder Tofu-Butter nicht von einer Kuh oder Ziege stammen. Dennoch hat der Europäische Gerichtshof jetzt in einem Urteil diese Produktbezeichnungen verboten. Die Bezeichnung „Milch“ sei grundsätzlich allein Milch tierischen Ursprungs vorbehalten. „Butter“ dürfe nur ein Erzeugnis aus Milch genannt werden. Andere Produkte, wie zum Beispiel Leberkäse, die auch keine Milch enthalten, seien von der EU-Kommission ausdrücklich als Ausnahmen zugelassen und in einer Verordnung geregelt. Gott sei Dank, der Leberkäse ist gerettet!

Die Frage ist: Muss das sein? Muss die EU dies regeln? Ist damit dem Konsumenten gedient oder ist dies lediglich eine erneute bürokratische Stilblüte aus Brüssel? Dient das ganze tatsächlich der „gemeinsamen Marktintegration landwirtschaftlicher Produkte“ in einem gemeinsamen europäischen Markt? Wohl kaum.

Ein aufgeklärter Verbraucher macht sich schlau und informiert sich. Eine kritische Öffentlichkeit informiert über Fehlentwicklungen. Hersteller haben, wenn sie langfristig Erfolg haben wollen, selbst ein Interesse ihre Kunden zu informieren. Warum sollte ein Soja-Milch-Hersteller seine Kunden nicht darüber informieren wollen, dass Soja-Milch keine Milch von Kühen oder anderen Tieren enthält? Sie haben doch selbst ein Interesse daran, denn die Vegetarier sind ja ihre Zielgruppe.

Landwirtschaftsminister Christian Schmidt bläst inzwischen ins gleiche Horn wie die EU. Er will die vegetarische Currywurst verbieten. „Ich möchte nicht, dass wir bei diesen Pseudo-Fleischgerichten so tun, als ob es Fleisch wäre,“ so der Minister von der CSU. Natürlich kann man sich die Frage stellen, warum ein Vegetarier, der kein Fleisch oder Milch zu sich nehmen will, die typischen Bezeichnungen wie Wurst, Schnitzel oder Milch, Käse und Butter übernehmen soll. Aber es ist doch keine Frage, die der Landwirtschaftsminister oder die EU regeln müssen. Hier wird ein Popanz aufgebaut, wo man sich schon fragen muss, ob der gemeinsame europäische Markt nicht andere Probleme hat. Ist es nicht gerade dieser Vorschriftenwust, der dazu führt, dass kleine und mittelständische Unternehmen nicht mehr durchblicken? Sie werden sogar dadurch gehindert, am europäischen Markt teilzunehmen, weil sie immer Gefahr laufen, irgendeine Vorschrift übersehen zu haben. Sie können sich keine Stäbe im Unternehmen leisten, die erst mal die jeweiligen Vorschriften im anderen Land prüfen, damit sie dort Kunden beliefern dürfen.

Deutschland ist leider in Europa ein Paradebeispiel für diesen falschen Verbraucherschutz. Was haben vermeintliche Verbraucherschützer und Politiker beispielsweise für das Reinheitsgebot beim Bier gestritten? Vor 30 Jahren hat der EuGH das damalige Verbot, Bier, das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde, hierzulande nicht verkauft werden durfte, aufgehoben. Der Untergang des Abendlandes wurde heraufbeschworen. Heute werben deutsche Brauereien mit dem Reinheitsgebot als Qualitätsmerkmal neben den vielen Anbietern, die nicht nach den strengen deutschen Regeln ihre Produkte in Deutschland verkaufen. Sind Konsumenten dadurch Nachteile entstanden? Nein, ganz im Gegenteil. Seitdem hat die Produktvielfalt beim Bier enorm zugenommen.

Das Ganze wird uns immer als Verbraucherschutz verkauft. Es ist aber das Gegenteil dessen. Es dient dazu, Märkte abzuschotten, etablierte Hersteller zu privilegieren und damit zu bevorteilen. Es soll die Regierung in ein vorteilhaftes Licht rücken. Mit dem Schutz der Konsumenten hat das aber alles nichts zu tun. Verbraucherschutz entmündigt den Verbraucher nicht, sondern vertraut ihm. Nur aufgeklärte Verbraucher finden sich in unserer komplizierten Welt zurecht. Ein Staat, der diese Verbraucher immer an die Hand nehmen will, der jeder vermeintlichen Gefahr vorab per Gesetz vorbeugen will, behandelt die Bürger wie Schafe. Sie sind eingezäunt und beaufsichtigt, bekommen regelmäßig zu essen und zu trinken und dürfen ab und zu herumblöken. Wer das nicht will, muss klar sagen: Freiheit für die Veggie-Wurst!

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 17. Juni 2017.

Photo: Bart Everson from Flickr (CC BY 2.0)

Mit dem jüngsten Gesetzentwurf zu Hasskommentaren öffnet die Bundesregierung eine Schleuse. Wir brauchen nicht noch mehr staatliche Aufsicht im Netz, sondern eine starke Zivilgesellschaft, die Hass und Verleumdung ächtet.

Nicht noch mehr Machtinstrumente!

Seitdem der neue amerikanische Präsident das Mittel der „executive order“ anwendet, um seine politischen Vorstellungen unkompliziert zu verwirklichen, dämmert es auch seinen Gegnern, die wenige Monate vorher noch begrüßt hatten, dass Obama das Mittel verwendete, um die Kontrolle durch die Abgeordneten zu umgehen: Ein Machtinstrument, einmal geschaffen, bleibt im Arsenal des Staates und kann von unterschiedlichsten Leuten genutzt werden. Genauso wie mit Steuern, die in den seltensten Fällen abgeschafft und auch kaum einmal gesenkt werden, verhält es sich mit Gesetzen, Behörden und Ämtern. Gesetze werden ergänzt, erweitert und geklont. Und Behörden entwickeln häufig Eigendynamiken, indem sie für sich selbst immer neue Aufgabenbereiche finden.

In der Regel steigert sich auch die Frequenz der Nutzung dieser politischen Instrumente. Die Bürger gewöhnen sich eben daran, dass bestimmte Produkte gesondert besteuert werden oder dass Eingriffe in ihre individuellen Entscheidungen gemacht werden. Viele sind zu bequem, um sich aktiv zu wehren – und am Anfang sehen viele Maßnahmen ja auch noch verhältnismäßig harmlos aus. Nur wenige denken schon perspektivisch an die Möglichkeiten, diese Eingriffe auszuweiten. Viele der Maßnahmen wirken auch auf den ersten Blick sinnvoll oder zumindest hilfreich, um ein von vielen geteiltes Anliegen zu erreichen: vom Soli bis zu den Schockbildern auf Zigarettenschachteln. Mit der zunehmenden Digitalisierung gerät auch dieser Bereich natürlich immer mehr in den Fokus der Politik.

Die Vergiftung der Kommunikation ist zurecht auf der Agenda

Justizminister Maas hat sich schon länger an die Spitze der Bewegung gesetzt, die das Chaos und die Spontaneität des Internets in geordnete Bahnen lenken will. Wo immer es darum geht, sich öffentlichkeitswirksam gegen amerikanische Großkonzerne in Szene zu setzen oder dafür zu sorgen, dass die Neuen Medien nicht zur Verbreitung von Hassbotschaften verwendet werden – Heiko Maas ist nicht weit. Und tatsächlich: Wenn man sich als zivilisierter und halbwegs gutmütiger Mensch einmal mit den Aussagen beschäftigt, die jeden Tag in Massen ins Netz gestellt werden, kann einem angst und bange werden. Wer würde sich nicht auch ein öffentliches Forum wünschen, das von einer fairen und respektvollen Kommunikation geprägt ist? Dass Handlungsbedarf besteht, würde kaum einer bestreiten. Die Enthemmung und mitunter Vergiftung der Kommunikation ist zurecht auf der Agenda.

Der jetzige Gesetzesvorschlag ist allerdings in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv. In den letzten Tagen ist schon viel darüber geschrieben worden, welche Gefahren der Vorschlag birgt. Was freilich bisweilen fehlt, sind konstruktive Vorschläge, wie man mit dem bestehenden Problem umgeht ohne die Bataillone der Netz-Nannies in Bewegung zu setzen. Der Minister selbst hat erst vor zwei Monaten in einem Kommentar zum NPD-Verbotsverfahren einen guten Vorschlag gemacht: „Politik, Zivilgesellschaft und jeder einzelne Bürger haben die Verantwortung, bei Extremismus und Gewalt nicht wegzuschauen: sei es Zuhause, am Arbeitsplatz, in der Kneipe, in der U-Bahn oder auf dem Fußballplatz.“ Und, so möchte man ergänzen, eben auch im Internet.

Eine Gesellschaft ist nur so lange lebendig, wie die Bürger Verantwortung übernehmen

Der Kampf gegen Hasskommentare und Fake-News ist eine Aufgabe für jeden, dem an einem friedvollen und vernünftigen Miteinander gelegen ist. Aber nicht in dem Sinne, dass man sich als Hilfs-Sheriff betätigt. Der Vorschlag von Maas würde Menschen dazu motivieren, das Instrument des „Meldens“ zu nutzen – und vermutlich wären es nicht die angenehmsten unserer Zeitgenossen, die sich zu besonders bereitwilligen Netz-Warten entwickeln würden. Die Betreiber von Plattformen würden überschwemmt mit Anträgen zur Löschung oder Sperrung. Es entstünde eine Atmosphäre des Misstrauens, die Zahl von Fake-Profilen würde weiter explodieren und im Zweifel verlagern sich die „Hasskommentatoren“ in geschützte Räume, wo sie eine noch weniger mit denjenigen in Kontakt kommen, die ihre Ansichten in Frage stellen und ihren Ton kritisieren könnten. Am Ende wird es nur noch mehr Kontrollen geben – und wie heute schon vom Justizministerium staatliche „Marktwächter“ eingesetzt werden so müssen wir dann irgendwann mit „Netzwächtern“ rechnen.

Anstatt Anstand zu verstaatlichen sollte der Minister lieber die Bürger ermutigen, selber Zivilcourage zu zeigen. Den Einsatz für ein respektvolles Miteinander an Unternehmen und Behörden abzugeben, ist der erste Schritt zu dem Wegschauen, das Maas in seiner oben zitierten Äußerung zurecht kritisiert. Es ist unsere Aufgabe als Internetnutzer, gegen Hass und Verleumdung die Stimme zu erheben. Eine Gesellschaft ist nur so lange lebendig und stark wie die Bürger Verantwortung übernehmen. Es muss uns gelingen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass man Aggression nicht mit Aggression beantworten sollte, und dass wir nicht schweigen dürfen, wenn andere beschimpft werden. Nur dann kann man wirklich nachhaltig etwas gegen die Verrohung des Diskurses tun. Das Ziel dürfen nicht Einzelsanktionen sein, sondern eine Änderung des Bewusstseins bei den zornigen Nutzern. Das erfordert Geduld, Optimismus und Zeit. Aber nur wenn „Hasskommentatoren“ ihren Hass verlieren, wird das Problem wirklich gelöst.

Photo: Blue Mountains Local Studies from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Am Arbeitsmarkt läuft es rund: 43,4 Millionen Erwerbstätige gab es im vergangenen Jahr. So viele wie seit vielen Jahren nicht mehr. Davon waren alleine 39,1 Millionen Arbeitnehmer in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Die von der BA ausgewiesene Arbeitslosenzahl beträgt nur noch 2,5 Millionen Menschen – 2005 waren es noch 4,9 Millionen. Die offizielle Arbeitslosenzahl ist daher um fast 50 Prozent zurückgegangen. Daher steigen auch die Überschüsse, die die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg vorweisen kann: Sie betragen stolze 4,9 Milliarden Euro. Die Reserven steigen damit auf 11 Milliarden Euro. Der Beitragssatz beträgt 3 Prozentpunkt und ist seit 2011 konstant auf diesem Niveau. Soweit die Fakten.

Was völlig aus dem Blick gerät, ist der Umfang, in dem hierzulande durch den Staat Arbeitsvermittlung und Qualifizierung betrieben wird. Allein im letzten veröffentlichen Geschäftsbericht 2015 der BA sind 96.300 Vollzeitstellen ausgewiesen. Das sind 700 mehr als im Vorjahr. Wahrscheinlich arbeiten weit mehr als 100.000 Menschen für die Arbeitsagentur. An ihrem Personalbestand hat sich in den letzten 20 Jahren nicht viel getan, im Zweifel ging es nur nach oben, obwohl ihre Kernaufgabe, Arbeitslose in ein Beschäftigungsverhältnis zu bringen, summarisch eine immer kleinere Rolle spielt.

Es ist eigentlich ein Grundgesetz der Bürokratie, dass einmal geschaffenen Strukturen des Staates, bei einem Wegfall oder einer Abnahme der Aufgabe, nicht aufgegeben oder angepasst werden. Bürokratie sucht sich neue Aufgaben. Ganz wie es Ralf Dahrendorf einmal formuliert hat: „Wir brauchen Bürokratie, um unsere Probleme zu lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindert sie uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen.“

So ist es jetzt auch wieder. Die Arbeitsministerin Nahles schlägt nun vor, dass die örtlichen Arbeitsagenturen sogenannte Weiterbildungsagenturen aufbauen sollen, um das lebenslange Lernen kontinuierlich durch die Arbeitsagentur begleiten zu lassen. Es soll so eine Art Lebensberatung durch den Staat werden, was sich die Regierung hier vorstellt. Das passt zum Bild des Nanny State, das die Regierung auch sonst beispielsweise in Verbraucherfragen pflegt. Von der Kinderkrippe über die Schule und Hochschule und nun auch in der Arbeitswelt bis zum Pflegeheim wird der Einzelne gehegt und gepflegt.

Nahles steckt jedoch in einem Dilemma. Der Weiterbildungssektor ist fest in der Hand des Tarifkartells aus Gewerkschaften und Arbeitgebern. Will sie verstärkt in diesen Markt eindringen, gerät sie mit dem Tarifkartell aus DGB-Gewerkschaften und der BDA in Konflikt. Bisher waren sich diese im Hintergrund immer einig, wenn es darauf ankam.

Die gute Arbeitsmarktsituation müsste jetzt eigentlich zum Anlass genommen werden, die BA zu verschlanken. Der Staat und seine Regierung haben keine natürlichen Anreize, zu sparen. Denn die Einnahmen steigen meist. Eine Krise wird schon heraufbeschworen, wenn die Einnahmen mal in einem Jahr stagnieren. Jetzt sprudeln sie und keiner denkt an das Sparen. Doch in vermeintlich guten Zeiten muss die Grundlage gelegt werden für schwierige Jahre. Auch diese werden auf dem Arbeitsmarkt wiederkommen. Dann braucht es eine schlanke Arbeitsagentur, und die Möglichkeit, dass  Aufgaben, die Dritte gleich gut oder besser machen können, von diesen erledigt werden. Das erfordert, dass der Personalbestand ab- und nicht weiter aufgebaut wird – im Zweifel mit dem Rasenmäher.

Photo: Tom Thai from Flickr (CC BY 2.0)

Eine Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young hat gerade die beruflichen Pläne von Studenten abgefragt. 32 Prozent der befragten Studenten wollen nach ihrem Studium in den Öffentlichen Dienst wechseln. Lediglich 9,9 Prozent wollen sich selbstständig machen. Wahrscheinlich drückt nichts den aktuellen Gemütszustand junger Menschen in diesem Lande besser aus als diese beiden Zahlen. Der Staatsdienst ist sicher und auskömmlich, die Selbstständigkeit gilt als risikobehaftet und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weniger gut geeignet. Wenn man bedenkt, dass unter der Bedingung von Mehrfachnennungen auch noch 23 Prozent der Studenten gerne in Kultureinrichtungen arbeiten würden, die ja ebenfalls meist staatlich finanziert sind, und weitere 18 Prozent in die staatlich finanzierte Wissenschaft, dann wird einem angst und bange.

Denn für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft ist das ein Alarmsignal. Die Funktionsfähigkeit des Öffentliche Dienstes ist für das Vorankommen einer Gesellschaft und ihres Wohlstandes wahrscheinlich nicht völlig zu vernachlässigen. Man muss dazu nur nach Griechenland schauen, um das hiesige Funktionieren einer Bürokratie auch ein wenig schätzen zu lernen. Dennoch sollten sich in einer offenen Gesellschaft, die zwangsläufig auf einer marktwirtschaftlichen Ordnung beruht, die besten Kräfte selbstständig machen, ihre Ideen umsetzen und nicht nur ihre Energie im Verwalten des Staates vergeuden.

Zum Wohlstand des Einzelnen und einer Gesellschaft insgesamt bedarf es einer Wertschöpfung. Wohlstand entsteht nur, wenn Unternehmer Produkte oder Dienstleistungen besser machen als bisher. Das nennt man dann Wachstum. Es muss also etwas produziert und hergestellt werden, das am Markt Käufer findet. Der öffentliche Dienst ist natürlich auch Innovation. Doch diese Innovation konzentriert sich in der Regel auf neue Vorschriften, Verordnungen und Bürokratie. Sie lähmen den Fortschritt der echten Innovationen in einer freien Marktwirtschaft.

Wahrscheinlich ist das Kind erstmal in den Brunnen gefallen. Die Entwicklung und die Präferenzen der Studenten von heute sind das Ergebnis der falschen Bildungsanstrengungen von gestern. Woher sollen die Studenten die Faszination der Marktwirtschaft und des darin agierenden Unternehmers kennen, wenn in Erdkundebüchern lieber über „Fair Trade“ zur Armutsbekämpfung anstatt über Freihandel und seine wohlstandsfördernde Wirkung zu lesen ist. Dieser moderne Ablasshandel, der moralisierend jedem Käufer ein schlechtes Gewissen einredet, ist inzwischen in die obersten Etagen der Politik vorgedrungen. Wenn selbst der amtierende Wirtschaftsminister sich zum Beispiel für weniger Freihandel ausspricht, nichts Anderes ist seine Ablehnung von TTIP, dann ist er selbst das fleischgewordene Produkt des Bildungsversagens der 1970er Jahre. Er hat das verinnerlicht, was er damals im Erdkundeunterricht eingebläut bekam, dass die Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei. So wie es ein Schulbuch für Gesellschaftslehre, Geschichte und Erdkunde an Haupt- und Gesamtschulen (Terra Band 9/10), wahrscheinlich auch schon zu seiner Schulzeit formuliert hat: „Dem Zuviel an Nahrungsmitteln in den Industriestaaten steht ein Mangel in vielen Entwicklungsländern, vor allem in Afrika, gegenüber.“ Ergo, man muss es nur besser verteilen.

Sigmar Gabriel werden wir wohl nicht mehr bekehren können, da bleibt Hopfen und Malz verloren. Doch die Schüler von heute, könnten die Unternehmer von morgen sein. Sie könnten ein neuer Werner Siemens, ein Robert Bosch oder ein Ferdinand Porsche sein. Es ist schon etwas her, aber es gab auch Zeiten in diesem Land, wo Unternehmerpersönlichkeiten mit ihren Ideen Unternehmen mit Weltgeltung geschaffen haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass diese Unternehmer heute aus Amerika kommen und Bill Gates, Marc Zuckerberg oder Elon Musk heißen.

Es sind lange Entwicklungsströme, die eine Gesellschaft zum Guten oder Schlechten verändern und es sind wenige, die diesen Prozess beeinflussen. In erster Linie hat dies natürlich mit dem Elternhaus zu tun, aber auch mit einer frühen schulischen Prägung. Wie wahrscheinlich ist es, wenn der größte Teil der heutigen Studenten den öffentlichen Dienst präferiert, dass diese dann als spätere Lehrer, Pädagogen oder Erzieher ihren Anvertrauten die Vorzüge der internationalen Arbeitsteilung, das Bild eines erfolgreichen Unternehmers oder des mündigen Konsumenten vermitteln? Wahrscheinlich werden sie eher die Unternehmer als vermeintliche Ausbeuter und Steuerhinterzieher darstellen und den einzelnen Bürger als willenlosen Konsumenten, der von Werbung und Verlockungen so vernebelt ist, dass er ohne staatliche Hilfe im Dschungel der Marktwirtschaft nicht mehr zurechtkommt.

Die Darstellung von Marktwirtschaft und Unternehmertum in Schulbüchern ist daher eine fundamentale Aufgabe, die nicht unterschätzt werden darf. Es gibt so eindrucksvolle Texte und Beispiel dafür, wie es gehen könnte. Einer dieser Texte ist der bereits 1958 von Leonard Read verfasste „Ich, der Bleistift“. Darin wird anhand der Produktion eines Bleistiftes anschaulich gezeigt, dass niemand das umfassende Wissen haben kann, wie ein Bleistift hergestellt wird. Dafür braucht es das Wissen ganz vieler. Die einen kennen sich mit dem Holz, seiner Be- und Verarbeitung aus. Die anderen kennen sich mit dem Abbau und der Verarbeitung von Graphit aus.

Wiederum andere wissen, wie der Radiergummi und die Metallfassung hergestellt werden und wieder andere haben das Know-how, wie dies alles zu einem Bleistift zusammengefügt wird. In jedem Teilbereich der Herstellung gibt es wieder unzählige Beteiligte, die ihr Wissen zur Verfügung stellen: vom Transportunternehmer über die Buchhalterin bis zum Kaffeebauern. Dies alles kann nur arbeitsteilig erfolgen, indem sich einzelne Unternehmer spezialisieren. Es kann umgekehrt nicht zentral geplant werden, weil keine Zentralbehörde das umfassende Wissen haben kann, wie ein Bleistift hergestellt, in welchen Mengen, an welchem Ort und zu welchem Preis er zur Verfügung stehen soll. Gerade hat das Berliner Prometheus-Institut dazu das Planspiel „Unsere Wirtschaft – Verständlich erklärt an einem Tag“ herausgebracht, das jungen Menschen dies spielerisch nahe bringt.

Wenn es die Beamten in den Kultusbürokratien nicht hinbekommen, müssen wir es eben selbst tun. Ganz im Sinne von Wilhelm von Humboldt: „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen: je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.