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Viele unterstellen der Marktwirtschaft, sie sei inhärent unmoralisch, ihr ginge jede Moral ab. In ihr würde es nur um Gewinnstreben zu Lasten der Umwelt, der Arbeitsplätze oder der Gesundheit gehen. Deshalb brauche es eine höhere Instanz, die (moralische) Standards für alle festlegt. Das ist eine der häufigsten Begründungen für den „Primat der Politik“ und die politische Intervention der Regierung und des Parlaments. Ihre moralischen Maßstäbe sollen von allen akzeptiert werden. Diese moralische Überlegenheit führt leicht zur Überheblichkeit über andere – über Bürger im eigenen Land, aber auch in anderen Ländern.
Die Bundeskanzlerin hat vor der Industrie- und Handelskammer Köln einen Einblick in ihr moralisches Weltbild gegeben. Zwar sprach sie sich in ihrer Rede im Allgemeinen für ein „Konzept der Offenheit“, ein „Prinzip des Sich-Auseinandersetzens mit den Wettbewerbern“ aus, doch im Konkreten sieht sie ihre Rolle und die Rolle des Staates ganz anders.
Für sie ist die Europäische Union kein offenes Konzept, sondern ein abgeschotteter Raum. Wer Waren in diesen Wirtschaftsraum liefern will, muss auch die Personenfreizügigkeit im eigenen Land akzeptieren. Es gilt das Prinzip: alles oder nichts. Ihre große Sorge ist, “wenn sich plötzlich herausstellt, dass man den vollständigen Zugang zum EU-Binnenmarkt auch bekommen kann, wenn man sich nur bestimmte Dinge aussucht, dann wird der Binnenmarkt, …, als solcher sehr schnell in Gefahr geraten, weil sich jedes Land dann seine Rosinen herauspickt.“ Warum sollte ein Markt in Gefahr geraten, weil Unternehmen ungehindert Waren dorthin liefern können? Andersherum wird ein Schuh daraus. Abgeschottete Märkte verlieren die Akzeptanz der Bürger, weil diese nicht alle Waren und Dienstleistungen erhalten oder nur zu einem erhöhten Preis.
Angela Merkel macht letztlich einen ähnlichen Fehler wie Donald Trump. Es tun sich Parallelen auf zu Trumps Verständnis von Wirtschaftspolitik: Er unterstellt den Autoherstellern in Japan und Deutschland auch Rosinenpicken. Wer einfach den US-Markt mit Produkten beliefern will, ohne dass er in den USA Arbeitsplätze schafft, soll bald Strafzölle bezahlen müssen. Mit nichts Anderem droht die EU und indirekt jetzt auch Angela Merkel den Briten. Sie sollen einen Strafzoll, die EU nennt diesen „Beitrag zur Finanzierung des Binnenmarktes“, bezahlen müssen, damit die britischen Unternehmen Zugang zum EU-Binnenmarkt bekommen. Das erinnert einen an die Willkürabgaben der niedergehenden Ostblockstaaten, die an der eigenen Grenze von jedem Einreisenden eine „Infrastrukturabgabe“ verlangten, deren Sinn schon damals als ein reines Abkassieren empfunden wurde.
Merkel beklagt in ihrer Kölner Rede auch, dass es in der Vergangenheit bei der Aushandlung von Freihandelsabkommen zu häufig nur um den Abbau von Zöllen ging. Sie habe es als Umweltministerin bedauert, dass zu wenig darauf geschaut wurde, „ob auch in anderen Ländern nachhaltige Landwirtschaft betrieben wird“. Sie spricht sich dafür aus, dass sich die Regierung mit Gewerkschaften, Unternehmern und Nicht-Regierungsorganisationen über nicht-tarifäre Handelshemmnisse im Bereich Soziales, Verbraucherschutz und Umweltschutz besser abstimmen müsse. Konkret sagte die Kanzlerin: „Wenn hochentwickelte Länder wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und wir in Europa gemeinsame Standards entwickeln, wird es der Rest der Welt schwer haben, unter diesen Standards zu bleiben.“
Das ist eine sehr gefährliche Sichtweise. Wenn man diesen Gedanken Merkels zu Ende denkt, dann wird bald Bedingung für den Zugang zum EU-Binnenmarkt sein, dass die Mindestlöhne der EU auch in China bezahlt werden müssen. Und dann werden demnächst die Luftreinhaltungsstandards der EU auch in Indien oder Afrika gelten müssen, damit deren Unternehmen Waren nach Europa liefern dürfen. Entwicklungsländer würden dann dauerhaft von einem wirtschaftlichen Aufstieg abgeschnitten. Diese Handelshemmnisse würde Afrika und andere Regionen dieser Welt in ihrem Entwicklungsstand konservieren. Deren gerade beginnender Aufschwung würde abrupt beendet. Soviel zur Moral …
In der Kölner Rede Merkels kommt ein Mangel an Verständnis der Marktwirtschaft zum Ausdruck. Dabei ist die Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip bestechend. Sie lässt es nicht zu, dass moralische Maßstäbe von anderen festgelegt werden als vom Konsumenten selbst. Der Konsument entscheidet in einer Marktwirtschaft, welche individuellen Präferenzen er wie gewichtet und welche Anforderungen er an ein Produkt oder eine Dienstleistung stellt. Für den einen ist es wichtig, dass Bekleidung in China nach bestimmten Umweltstandards und Arbeitsbedingungen hergestellt wird. Für den anderen ist es vielleicht entscheidend, dass die Ware im eigenen Land hergestellt wird. Wiederum einem anderen ist die Herkunft völlig egal, weil er sich nicht mehr leisten kann. Kaufentscheidungen und deren Gründe sind immer individuell. Ihnen mit staatlicher Zwangsgewalt einen moralischen Überbau zu geben, seien es Arbeitsplätze in den USA oder die dauerhafte Existenz der EU, ist mindestens gefährlich, wenn nicht sogar brandgefährlich, weil das zwangsläufig zu Gegenreaktionen führt, die sich immer weiter hochschaukeln. Dieser Protektionismus ist die moderne Form des Imperialismus. Der Unterschied ist lediglich, dass er im Gewand der – höheren – Moral daherkommt.
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