Photo: Blaise Alleyne from Flickr (CC BY 2.0)
Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre.
Die EU sollte sich nicht daran versuchen, aktiv regionale Cluster der Digitalwirtschaft zu fördern oder gar als Wagniskapitalgeber aufzutreten. Stattdessen sollte sie sich auf eine ihrer Kernkompetenzen konzentrieren und durch die Öffnung nationaler Märkte zur Vervollständigung des Binnenmarktes beitragen.
Google, Apple, Amazon, Facebook, Uber, Airbnb – die Liste ließe sich weiterführen. Diese und viele andere Unternehmen haben in den vergangenen Jahren mit neuen Technologien unser Leben tiefgreifend verändert. Die Geschäftsmodelle sind verschieden, doch die großen Stars haben eines gemeinsam: Sie kommen nicht aus Europa. In Deutschland gibt es mit SAP nur einen großen digitalen Konzern, wenn man von den Seriengründern bei Rocket Internet in Berlin absieht. Kommt der EU eine Rolle bei dem Versuch zu, das zu ändern? Ja, allerdings nicht mithilfe neuer Subventionen und detailreicher Regulierungen, sondern mit einer EU-Kernkompetenz: Märkte offen halten.
Wenig Tech-Unternehmen in Europa
Nicht nur bei den etablierten Platzhirschen, auch bei den potentiellen Superstars der Zukunft sieht es in Europa eher mau aus. Einen aktuellen Überblick über Startups, die eine Bewertung von mehr als 1 Milliarde US Dollar aufweisen oder kurz davor stehen, bietet CB Insights. Dort werden derzeit fast 480 Startups gelistet. Sie sind meistens IT-zentriert und schwerpunktmäßig im Softwarebereich zu finden. Fast die Hälfte kommt aus den Vereinigten Staaten. Etwa ein Viertel ist in China zu finden, nur gut 12 Prozent in Europa und davon gut 40 Prozent in Großbritannien.
Für die relative Abwesenheit weltweit führender europäischer Technologieunternehmen ist eine Reihe von Faktoren verantwortlich. Längst nicht alle liegen im Einflussbereich der EU.
Euro-Valleys vergeblich gesucht
In Europa werden Cluster schmerzlich vermisst, in denen wissensbasierte Unternehmen mit Spitzenforschungseinrichtungen eng vernetzt sind. Während an der Westküste der USA weltweit führende Universitäten wie Stanford und Berkeley die innovativen Unternehmen des Silicon Valleys mit Talenten versorgen, hapert es in Europa bereits bei den Spitzenforschungseinrichtungen – vor allem auf dem Kontinent: Unter den weltweiten Top-20 Universitäten sind lediglich zwei Schweizer Institutionen als Vertreter des europäischen Festlandes zu finden.
Die Förderung von Clustern ist jedoch nicht Aufgabe der EU. Zum einen sind Cluster stets regionaler Natur. Das Interesse beispielsweise Spaniens, im Osten Frankreichs eine Forschungseinrichtung auf Weltniveau mitzufinanzieren, wäre vermutlich überschaubar. Zum anderen ist die Bildungspolitik auf Ebene der Mitgliedsstaaten oder wie in Deutschland auf untergeordneten Gebietskörperschaften angesiedelt. Aus diesen Gründen liegt es im Verantwortungsbereich der Mitgliedsstaaten und gegebenenfalls ihrer Gebietskörperschaften, die Voraussetzungen für Spitzenforschung an Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen zu verbessern, möglicherweise auch Staatsgrenzen überschreitend.
Wenig Wagniskapital
Junge Unternehmen, die riskante Geschäftsideen umsetzen wollen, greifen für ihre Finanzierung häufig auf Wagniskapitalgeber zurück und selten auf Bankkredite. Auch bei der Finanzierung durch Wagniskapital liegen die Staaten der EU gemäß Daten der OECD deutlich abgeschlagen hinter den USA. So wurde im Jahr 2019 in den USA Wagniskapital in Höhe von mehr als 0,63 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zur Verfügung gestellt. In Deutschland waren es mit 0,056 Prozent nur etwa ein Zehntel des Anteils der USA.
Dabei ist der Abstand zu den Vereinigten Staaten im Bereich Wagniskapital in den letzten Jahren nicht etwa geschrumpft – im Gegenteil. Das Volumen in den USA stieg zwischen 2010 und 2019 um 345 Prozent, während in Deutschland der Zuwachs bei 130 Prozent und in Frankreich bei 215 Prozent lag. Einige osteuropäische Staaten und Korea konnten einen größeren relativen Wagniskapitalzuwachs aufweisen als die Vereinigten Staaten. Alle anderen EU-Staaten hatten geringere Zuwachsraten oder gar Rückgänge zu verzeichnen.
Weniger Finanzierung durch Wagniskapital ist die andere Seite der Medaille fehlender Cluster der digitalen Industrie in Europa. Wagniskapital und innovative Geschäftsideen bedingen einander. In den USA sind in Kalifornien an der Westküste aber auch ums MIT und Harvard an der Ostküste Netzwerke von Forschungseinrichtungen, Unternehmen, erfolgreichen Gründern und Investoren entstanden, die nicht per Plan und Beschluss geschaffen werden können. Die EU sollte folglich nicht den Versuch unternehmen, durch die eigene Bereitstellung von Wagniskapital – beispielsweise über die Europäische Investitionsbank – den Technologiestandort Europa zu fördern. Zum einen hat sie weder das notwendige Expertenwissen, noch sehen sich ihre Vertreter ähnlichen zu Sorgfalt und Risikofreude führenden Anreizen gegenüber wie private Investoren, die ihre eigenen Mittel einsetzen. Zum anderen gehen Wagniskapital und innovative Geschäftsideen unter den richtigen Voraussetzungen miteinander einher. Allein die Bereitstellung von Wagniskapital führt nicht zu guten Geschäftsideen.
Größte Volkswirtschaft, aber kleine Märkte
Wachsen erfolgreiche neue Unternehmen im Informations- und Kommunikationstechnologiesektor zunächst organisch in ihren Heimatmärkten, ist ein größerer Heimatmarkt von Vorteil. Zwar ist der EU-Binnenmarkt mit über 500 Millionen Konsumenten riesig, auch im Vergleich zu den USA. Doch der Markt ist immer noch stark fragmentiert. Dafür verantwortlich sind zum einen sprachliche und kulturelle Barrieren. So gibt es in der EU 24 Amtssprachen. Verträge, AGBs, Webseiten und Apps müssen von Anbietern 23-mal übersetzt werden, wenn sie den gesamten EU-Markt bedienen wollen. Ein Umstand, der kaum durch politische Rahmenbedingungen geändert werden kann. Zum anderen erschweren rechtliche und regulatorische Besonderheiten auf nationaler Ebene es Firmen, von Beginn an den gesamten EU-Markt zu bedienen und eine weltweit kritische Größe zu erreichen.
Während der EU-Binnenmarkt für Güter weitgehend von nationalen Barrieren befreit ist, ist dies für Dienstleistungen nicht der Fall. Hier liegt das größte Handlungspotential der EU, um europäischen Startups bessere Rahmenbedingungen zu ermöglichen.
Der digitale Binnenmarkt: Dienstleistungen liberalisieren
Es stehen zwei Mittel zur Verfügung, rechtliche und regulatorische Hürden für den grenzüberschreitenden Handel mit Waren und Dienstleistungen zu beseitigen.
Erstens können Regeln harmonisiert werden. So sieht die digitale Binnenmarktstrategie von 2015 unter anderem vor, Vertragsrechtsvorschriften für Onlinegeschäfte weiter anzugleichen. Händler müssten dann weniger als bisher auf nationale Besonderheiten Rücksicht nehmen und Verbraucher könnten darauf vertrauen, dass die gleichen Regeln bei aus- wie inländischen Anbietern angewendet werden.
Die mit der Regulierungsharmonisierung einhergehende Gefahr ist jedoch, dass sie nicht die Erprobung innovativer Produkte in ganz Europa ermöglicht, sondern vielmehr Möglichkeiten zum Experimentieren im Gebiet der gesamten EU einheitlich einschränkt.
Liberalisierung durch gegenseitige Anerkennung
Zweitens können Regulierungen gegenseitig anerkannt werden. Diese Alternative verspricht einen einfacheren Austausch von Waren und Dienstleistungen ohne potentiell schädliche Folgen einer Harmonisierung. Dies ist bei Gütern in der EU, für die kein einheitliches EU-Recht existiert, bereits gängige Praxis. So dürfen Waren, die in einem Mitgliedsland legal in Verkehr gebracht werden, auch in den anderen EU-Staaten verkauft werden. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wird jedoch nicht auf Dienstleistungen angewendet, obwohl die EU-Kommission genau das ursprünglich geplant hatte.
Der Entwurf für die Dienstleistungsrichtlinie aus dem Jahr 2006 sah vor, dass für Dienstleistungen das Herkunftslandprinzip gelten sollte. Dies hätte zufolge gehabt, dass in einem EU-Land legale Dienste auch legal in den übrigen EU-Staaten hätten angeboten werden dürften. Statt dem Herkunftslandprinzip zu folgen, wurden Regeln für Dienstleistungen harmonisiert – mit umfassenden Ausnahmen. So gelten unter anderem keine harmonisierten Regeln für Dienstleistungen von „allgemeinem Interesse“, Finanzdienstleistungen, Dienstleistungen und Netze der elektronischen Kommunikation, öffentliche und private Gesundheitsdienstleistungen sowie Verkehrsdienstleistungen und Glücksspiele. Diese Bereiche werden weiterhin national reguliert. Die Ausnahmen zeigen, dass der EU-Binnenmarkt gerade in Bereichen fragmentiert ist, die als besonders vielversprechend für digitale Innovationen erscheinen.
Um europäischen Anbietern von Technologiedienstleistungen den Zugang zu einem wahrlich gemeinsamen Heimatmarkt zu ermöglichen, sollte die EU auch bei Dienstleistungen zur gegenseitigen Anerkennung von Regeln übergehen.
Barrieren abbauen und Tee trinken
Im Einsatz für den Digitalstandort Europa sind die Möglichkeiten der EU zwar begrenzt, aber gewiss nicht zu vernachlässigen. Die EU sollte sich nicht daran versuchen, aktiv regionale Cluster der Digitalwirtschaft zu fördern oder gar als Wagniskapitalgeber aufzutreten. Stattdessen sollte sie sich auf eine ihrer Kernkompetenzen konzentrieren und durch die Öffnung nationaler Märkte zur Vervollständigung des Binnenmarktes beitragen. So könnte sie den häufig von Netzwerkeffekten getriebenen digitalen Geschäftsideen und den Startups, die diese umsetzen, zu einem leichteren Start in Europa verhelfen, was Grundlage eines weltweiten Erfolgs sein kann.
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