Photo: ClemRutter from Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

In so turbulenten Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, braucht man zum Navigieren unbedingt einen Kompass. Je dichter der Nebel und je unruhiger die See, umso wichtiger ist es, Kurs zu halten. Sieben Anregungen aus sieben Jahrzehnten Bundesrepublik. Leider ist im Augenblick jede einzelne dieser Selbstverständlichkeiten unter Beschuss.

Ordnungspolitik: Regeln gegen Willkür

Ludwig Erhard, Walter Eucken, Franz Böhm – diese Namen stehen für ein fundamentales Prinzip, das unser Land und zumindest in Teilen auch die Europäische Union geprägt hat – mit durchschlagendem Erfolg. Diese Väter unseres Wirtschaftsmodells waren abgestoßen von der Kungelei zwischen Staat und Unternehmen in den 20er Jahren. Und sie ließen sich nicht überzeugen von den interventionistischen Konzepten des New Deal oder der Kriegswirtschaft, die in vielen Ländern Europas noch ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende die Politik bestimmte. Ihr Anspruch: Der Markt muss um jeden Preis geschützt werden vor der lenkenden Hand der Politik. Nicht nur, weil diese allzu schnell zum Büttel von Sonderinteressen wird, sondern auch, weil ihr schlichtweg der Überblick fehlt.

Subsidiarität: Loslassen und vertrauen

Auch wenn viele sich eher wehren, wenn man ihnen zu deutlich sagt, was sie zu tun und wo sie sich hin zu bewegen hätten: sobald es um andere geht, wissen viele sehr genau, was für diese das Beste wäre. Wir vertrauen unserer eigenen Einsicht und Güte sehr viel mehr als der anderer Menschen. Dem Prinzip der Subsidiarität liegt die Erkenntnis zugrunde, dass dieser Eindruck ganz oft täuscht. Darum fordert das Subsidiaritätsprinzip für den Einzelnen und die jeweils kleinere Einheit einen Vertrauensvorschuss. Denn der Landesminister und erst recht die Bürgermeisterin haben in der Regel ein sehr viel tieferes Verständnis für die Umstände und Erfordernisse vor Ort.

Exportnation: Wohlstand für alle, wirklich alle!

„Made in Germany“, einst der Versuch, deutsche Produkte zu diskreditieren, ist inzwischen eines der beliebtesten Gütesiegel überhaupt. Dabei bedeutet das aber nicht nur, dass die Fabriken in Lippstadt und Suhl Güter produzieren, die wohl in fast jedem Land der Welt auf der Straße herumfahren oder die Abflussrohre abdichten. Das bedeutet auch, dass wir von der steigenden Nachfrage aus einer immer wohlhabenderen Welt profitieren. Es bedeutet, dass unsere Handelspartner in Kolumbien besser produzieren können, weil sie unsere Technik kaufen, und wir wiederum günstige Schals aus Bucaramanga beziehen. Keine Idee, kein Konzept, keine Institution hat in der Geschichte der Menschheit so viele Gewinner hervorgebracht wie die Globalisierung. Deutschland ist da nicht nur Profiteur, sondern hat es unzähligen Menschen ermöglicht, ihrerseits zu profitieren.

Westbindung: Ein Freund, ein guter Freund

Es gibt viele Gründe dafür, in den USA den engsten Freund der Bundesrepublik zu sehen: vom Schutz im Rahmen der NATO über die Unterstützung der deutschen Einheit bis hin zu den unzähligen kulturellen Bindungen. Die klassische deutsche Russland-Romantik ebenso wie das Schielen auf vermeintliche Erfolge Chinas in den letzten Jahren haben sich zum Glück bisher nicht durchsetzen können. Das politische Personal in den Vereinigten Staaten bereitet uns derzeit viel Kopfzerbrechen. Aber das Land ist eben auch unser wichtigster Handelspartner; unser stärkster Verbündeter; der Lieferant unserer Träume durch Hollywood und Netflix; und übrigens das Land mit der relativ größten deutschstämmigen Bevölkerung weltweit. Deutschland und Europa sollten gerade wegen des derzeitigen Präsidenten und der welterschütternden Krise die Liedzeilen beherzigen: „Ein Freund bleibt immer dir Freund, und wenn auch die ganze, die schlechte, die wacklige, die alberne Welt vor den Augen zusammenfällt.“

Mittelstand: Aus den Sonntagsreden ins Alltagstun

In siebzig Jahren ist das Wort Mittelstand im Bundestag rund 10.000 Mal gefallen. Doch in einem politischen Umfeld, in dem dann doch die 13.000 Arbeitsplätze des Großkonzerns mehr ins Gewicht fallen, haben die zweieinhalb Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, bei denen 61 Prozent der deutschen Arbeitnehmer beschäftigt sind, wirklich Schwierigkeiten, über Sonntagsreden hinaus Gehör zu finden. Wunderbar zusammengefasst hat die Situation kürzlich in einem Interview der FAZ ein Grafikdesigner aus Frankfurt: „Gerade wir Selbstständige waren es doch, die dem Staat bislang so gut wie nie auf der Tasche gelegen haben. Wir haben uns immer irgendwie durchgebissen, nie Schulden gemacht und nun fliegt uns unverschuldet diese Krise um die Ohren.“ Diese Haltung hat den Mittestand zum fast unzerstörbaren Rückgrat der heimischen Wirtschaft gemacht vom Wiederaufbau über die Wiedervereinigung bis zur Eurokrise. Wie jedes Rückgrat braucht aber auch der Mittelstand dringend Aufmerksamkeit, Schonung, Beweglichkeit und Substanz.

Diskurs: Basta und alternativlos sind respektlos und dumm

Man vergisst bisweilen, dass der längste Teil der Geschichte unserer Republik von den 68ern geprägt ist. Die vielleicht wichtigste Errungenschaft dieser Zeit ist die fast schon banale (wenn auch von Habermas und Co. blumig ausgewalzte), aber leider nicht selbstverständliche Aufforderung, die Meinungen anderer Menschen anzuhören und gelten zu lassen. Das ist schwerer als es sich anhört. Manchmal sehnen wir uns nach dem Basta, weil wir glauben, die richtige Lösung schon zu haben. Und manchmal gelingt uns auch nicht, was Friedrich August von Hayek schon 1945 als Kardinaltugend der Liberalen formulierte, nämlich dass „sie rückhaltlos anerkennen sollten, dass normalerweise weder böse Absichten noch egoistische Interessen, sondern ehrliche Überzeugungen und idealistisches Bestreben“ die Gegner motivieren. Es ist ein unschätzbarer Wert, dass sich in unserem Land durchaus vernehmbarer Widerspruch rührt, wenn Basta gerufen wird oder etwas als alternativlos erklärt wird. Nicht nur sind solche Attitüden Zeichen mangelnden Respekts, sie verhindern auch einen pluralen und offenen Diskurs, der immer noch das beste Mittel zur Lösungsfindung ist.

Zivilgesellschaft: Der Primat des Bürgers vor der Politik

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, schrieb der im letzten Jahr verstorbene Ernst-Wolfgang Böckenförde unserem Staat 1964 ins Stammbuch. Das tat Not in einem Land, das lange geprägt wurde von Hegels Diktum: „es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist“. Die Liebe zur Obrigkeit und der leidenschaftliche Untertanengeist ist natürlich in Deutschland noch lange nicht ausgerottet worden. Aber eine der erstaunlichsten Entwicklungen ist doch, dass wir in den letzten Jahrzehnten den Wert der Zivilgesellschaft wieder besser verstanden und auch verwirklicht haben. Es wird noch lange dauern, ehe die freudige Überraschung darüber, dass man etwas auch ganz eigenständig hinbekommen kann, noch in der Breite durch eine prinzipielle Skepsis gegenüber dem Staat und der Politik ergänzt wird. Aber das wachsende Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und die der Mitbürgerin ist vielleicht die größte Errungenschaft in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, werden global und in unserem Land aller Voraussicht nach mit vielen Herausforderungen verbunden sein. Deshalb geht auch jetzt der Diskurs los, welcher Kompass den Kurs bestimmen wird, von welchen Werten und Prinzipien wir uns leiten lassen. Die offene und freie Gesellschaft muss jetzt wieder mit voller Kraft verteidigt werden gegen die Gegner rechts und links; gegen einen mit ganz neuem Sendungs- und Selbstbewusstsein ausgestatteten Staat. Das sind raue Winde und gewaltige Strömungen. Aber die Freunde der Freiheit sollten sich nicht Bange machen lassen. Am Ende sind wir doch sehr gut gerüstet, haben einen langen Atem und insbesondere den überzeugendsten Kompass. Den müssen wir jetzt nur noch anderen Menschen schmackhaft machen …

3 Kommentare
  1. Bernhard Maxara
    Bernhard Maxara sagte:

    Sie haben vollkommen recht, ich hoffe, die ganze FDP-Crew hat’s gelesen und trompetet es den derzeitigen Verrätern dieser erfolgreichen Politik täglich in die Ohren, aber nicht mit der Zaghaftigkeit eines
    Lindner…

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  2. Ullrich Müller-Kantor
    Ullrich Müller-Kantor sagte:

    Sehr geehrter Herr Schneider, in Ihrem Artikel treffen Sie komplett meine Überzeugung.Schön das es noch einen Kreis von Menschen mit liberalem Kompass gibt. Leider habe ich den Eindruck, daß die Zahl politisch reflektierter Menschen immer kleiner wird und die Zahl an Staatslenkungsbefürwortern immer weiter ansteigt.

    Und hier stimme ich auch meinem Vorredner zu. Aus eignen Erlebnissen im lokaler FDP-Kreisverband empfinde ich es als erschreckend, wie wenig hier das Konzept des Liberalismus bekannt ist. Um es ist um so schlimmer, daß die professionlen Vertreter der FDP viel Publicity für Genderthemen und Beta-Republiken machen, statt die den Alpha-Themen der FDP zu propagieren.Individuelle Entscheidungsfreiheit und (soziale) Marktwirtschaft werden jeden politischen Arbeitstag ein wenig verdrängt.

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  3. Ralf Becker
    Ralf Becker sagte:

    Ernst Wolff erklärt es vergleichsweise gut, wie die Spekulationen an den Finanzmärkten immer mehr zur Bedrohung werden.

    Hierzu gibt es etwa:
    „The Wolff of Wall Street SPEZIAL: Corona-Pandemie – Hedgefonds und das Ende des Mittelstands“ vom 05.04.2020.
    Ernst Wolff: #Corona und der herbeigeführte Crash.

    Beim Wort „Marktwirtschaft“ glauben wir gerne an eine funktionierende Allokation von Gütern oder etwa an eine gerechte Teilhabe für alle Bürger.

    Die uns im Studium beigebrachten Modelle der Neoklassik wie „Angebot und Nachfrage“, bzw. „Homo oeconomicus“ etc., die funktionieren aber so nicht.

    Nuoviso vom 3. August 2016
    SCHULD – EIN GENIALES HERRSCHAFTS-KONZEPT – UND ERFOLGREICH
    Es gibt wohl kein zweites Herrschafts-Konzept in dieser Welt, das so alt, so weit verbreitet und so „erfolgreich“ ist, wie das Konzept „Schuld“. usw.

    Unsere vermeintliche Marktwirtschaft funktioniert bis auf weiteres (noch) mehr oder weniger, aber sie ist ein System, bei dem der Schuldendruck immer weiter ansteigt.

    Dies hat etwas damit zu tun, dass Geld eine Schuld gegenüber den Banken ist, die das Geld aus dem Nichts verleihen.
    Der Schulden-Irrsinn führt gemäß der FAZ dazu, dass Babys bereits zum Zeitpunkt ihrer Geburt mit 17 634 Euro bürgen.

    Wie J. M. Keynes es seinerzeit sagte, basiert der Kapitalismus auf der merkwürdigen Überzeugung, dass „widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden“.

    Die Allianz zwischen Politik und Banken generiert also im Namen aller Bürger ständig neue Schulden und dann sind es immer nur wenige große Akteure der Wirtschaft, die dann einen großen Teil des vielen Geldes kassieren, wodurch sich dann aber auch über den Umweg von immer mehr Schulden die Geldmenge immer mehr ausweitet und es insofern auch immer mehr Zinslasten gibt.

    Irgendwo haben wir ein Geldsystem, bei dem der Wert jeder einzelnen Geldeinheit „stabil“ ist. Aber Geld ist doch deshalb Geld, weil es irgendwo auf der Welt Schulden gibt. Ohne Schulden gibt es insofern auch kein Geld.
    Wenn aber irgendwelche anderen Leute dann aber diese vielen Schulden, ohne die es auch kein Geld geben würde, dann irgendwie anders abbauen würden, dann hätte das Geld gar keine „stabile“ Wertaufbewahrungsfunktion mehr.

    Aber welche Lösungsmöglichkeiten könnte es geben?

    Geldsystem-Arbeitsgruppen unterscheiden etwa zwischen der Möglichkeit endogener und exogener Geldsysteme.
    Ein endogenes Geldsystem ist ein Geldsystem wo die Geldmenge nicht zentral gesteuert wird.
    Hingegen ist ein Exogenes Geldsystem ein Geldsystem wo die vorhandene Geldmenge durch äußere Faktoren vorgegeben ist.

    Es gibt dann auch die Überlegung, dass es auch Geldsysteme ohne Banken geben könnte.
    Zu diesem Thema gibt es etwa Vorträge von Arne Pfeilsticker: Geldinfrastruktur: „Vollgeld und Bankdienste ohne Banken“

    Es gibt auch noch eine Diskussion zur „Kreislaufwirtschaft“.
    KenFM, 30. Dezember 2018: Positionen 16: Die Utopie leben – Kreislaufwirtschaft jetzt!

    Dann gibt es noch folgendes YouTube-Video.
    Ulrike Herrmann über die Kreislaufwirtschaft | 15.01.2020

    Bei unserer „Marktwirtschaft“ kommt es uns jedenfalls so vor, als würden wir Geld gegen Güter und Dienstleistungen „tauschen“.
    Wenn wir aber die gesamte Wirtschaft betrachten, dann generieren die öffentlichen Haushalten einfach nur immer mehr Schulden, weil Geld doch eine Schuld ist. Dabei steigen die Schulden der breiten Bevölkerung immer mehr an und werden immer unbezahlbarer, weil es auch keinen richtigen Geldkreislauf gibt. Das viele Geld gelangt ganz einfach nur immer schneller in den Besitz weniger reicher „Marktakteure“.

    Daher behauptet es Friederike Habermann, dass das „gute Leben für alle“ tauschlogikfrei sein muss.

    Tauschen macht einsam. Beitragen erzeugt Gemeinschaft.

    Dies muss dann vermutlich bedeuten, dass wir nicht mehr mit Geld bezahlen.
    Allerdings gibt es ohne Geld dann erstmal keinen Leistungsanreiz mehr und man müsste sich etwas anderes ausdenken, wie man den sog. „Segen des Egoismus“ gemäß Adam Smith irgendwie anders erreicht.
    In einer Welt ohne Geld muss es dann anders entschieden, was überhaupt produziert wird.
    Hierzu gibt es folgendes YouTube-Video:
    „Wer bestimmt, WAS, WIE & WO produziert wird?“ – Dr. Friederike Habermann & Prof. Niko Paech

    Es gibt dann auch noch die Post-Wachstums-Diskussion.

    Ulrike Herrmann nennt im taz-Artikel „Abschied vom Wachstum“: „Schrumpfen in Schönheit“ folgende Möglichkeit:
    Orientieren am historischen Schrumpfungsmodell
    Sie bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Modell der britischen Kriegswirtschaft zwischen 1940 und 1945.
    Es sei ein Kapitalismus ohne Markt entstanden, der bemerkenswert gut funktioniert hat.

    Was unser Verhältnis zu den USA betrifft, empfehle ich folgendes YouTube-Video:
    Markus Kompa: „Der Mann, der die CIA erfand“.

    Es gab etwa auch die Kuba-Krise, wo Kennedy und Chruschtschow kurz vor dem Atomkrieg standen.

    Ob wir nun unser Verhältnis zu den USA gut finden oder nicht, so haben wir trotzdem keine Demokratie, weil die Gewinner von Wahlen längst schon feststehen und es sind doch eher hohe Spenden, meist vom Finanzsektor, oder eben auch der Mainstream-Journalismus, die bei Wahlen das Rennen machen und die meisten Bürger verstehen die Inhalte doch ohnehin nicht.

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