Photo: Richard from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Prof. Dr. Gunther Schnabl, Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.

Zwar haben jüngst die Inflationsraten etwas angezogen. Im Oktober 2018 lag die Inflation im Euroraum bei 2,2% und in Deutschland sogar bei 2,5%. EZB-Präsident Mario Draghi kann dennoch stolz auf historisch niedrige Inflation verweisen. Die durchschnittliche Inflationsrate liegt für die EZB niedriger als für die Deutsche Bundesbank, so dass eine entschlossene geldpolitische Straffung weiter ausbleiben wird. Trotzdem denken viele Bürger, dass ihre Kaufkraft schwindet. Wie ist das zu erklären?

Die Kaufkraft wird in der Europäischen Union mit dem harmonisierten Konsumentenpreisindex gemessen. Dafür erfasst in Deutschland das Statistische Bundesamt über 300.000 Einzelpreise von 600 Waren und Dienstleistungen. Mieten haben einen Anteil von 32%, Ausgaben für Verkehr 13%, Freizeit, Unterhaltung und Kultur 11%, Nahrungsmittel 10% usw. Der Index ist in Deutschland seit 1999 mit durchschnittlich 1,4% pro Jahr etwas weniger als die Löhne (1,7%) gestiegen. Das suggeriert, dass die Kaufkraft der Bürger im Durchschnitt leicht gestiegen ist.

Aber viele Güter, die von den Bürgern konsumiert werden, sind gar nicht im offiziellen Index vertreten. Zum Beispiel eigengenutzte Wohnimmobilien: Deren Preise sind seit 1999 im Schnitt um 2,0% pro Jahr gestiegen, in den sieben größten Städten seit 2005 sogar um 5,8% pro Jahr. Stattdessen misst der Staat nur die Veränderung der Mieten, die er über qualifizierte Mietspiegel, Mietpreisbremsen und eine mieterfreundliche Rechtsprechung gedrückt hält, so dass diese seit 1999 nur um 1,2% pro Jahr gewachsen sind. Auch andere Vermögenspreise steigen steil. Wer mit deutschen Aktien fürs Alter vorsorgen wollte, musste seit 1999 pro Jahr durchschnittlich 7,7% (DAX) mehr berappen.

Auch öffentliche Güter wie Straßen, Bildung und Finanzmarktstabilität, deren Anteil am Verbrauch immerhin (gemessen an der Staatsquote) 45% beträgt, bleiben in der Statistik unberücksichtigt, obwohl die Bürger dem Staat immer mehr bezahlen. Der neue Berliner Flughafen wird beispielsweise statt ursprünglich zwei Milliarden Euro wohl mehr als sieben Milliarden Euro kosten. Der Preis des Neubaus der EZB-Zentrale in Frankfurt hat sich in vier Jahren von 850 auf 1300 Millionen Euro erhöht, also um 9% pro Jahr. Insgesamt ist die Steuerlast der Bürger seit 1999 um durchschnittlich 3% pro Jahr gestiegen, die gesamten Zahlungen an den Staat (einschließlich Sozialbeiträge) um 2,6%.

Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Qualität. Während die statistischen Ämter bei Qualitätsverbesserungen (zum Beispiel bei Computern, Autos oder Elektrogeräten) die Preise nach unten korrigieren, drücken sie bei schlechterer Qualität ein Auge zu. Doch da – nicht zuletzt aufgrund stagnierender (oder fallender) realer Löhne – der Preisdruck im Einzelhandel groß ist, nimmt bei vielen Gütern nicht nur der Preis, sondern auch die Qualität ab. In den Autos steckt beispielsweise immer mehr Plastik. Obst und Gemüse schmecken meist fad. Kinderspielzeug ist zunehmend aus Kunststoff. Die Kleidung verschleißt schneller. Viele langlebige Verbrauchsgüter müssen schneller ersetzt oder repariert werden, was maßgeblich die Kaufkraft der Bürger reduziert.

Auch bei den Dienstleistungen sinkt die Qualität. Wo sind in den Mietshäusern die Hausmeister geblieben? Bei Vapiano, Starbucks und Wiener Feinbäcker und Co. bedienen wir uns heute selbst. Sympathische Möbelhäuser laden zur mühsamen Selbstmontage von Möbeln aus Pressspan und Plastikfolie ein. Fahrkarten und Flugtickets buchen wir selbst im Internet, natürlich ohne Preisnachlass. In den Supermärkten werden Fleisch-, Wurst- und Käsetheken abgebaut. Selbst das Kassieren machen die Kunden vermehrt selbst. Vielerorts scheint das Verkaufspersonal rarer geworden, so dass die Wartezeiten länger werden.

Dazu kommt der leise Verdacht, dass – wohl aufgrund eines massiven Investitionsstaus – die Qualität vieler öffentlicher Güter merklich nachgelassen hat. Für deutsche Straßen wird eine wachsende Zahl an Staukilometern vermeldet. Die Bundeswehr ist nicht mehr einsatzfähig. Die Bahn ist immer öfter zu spät. Viele Städte oder Stadtteile wirken zunehmend trist. Es fehlen Pfleger, Erzieher, Polizisten, Richter und Kitaplätze. All das taucht in der offiziellen Messung der Kaufkraft nicht auf, obwohl es den Bürgern reichlich Nerven kostet.

Die Inflation ist also in steigenden Vermögenspreisen und schlechterer Qualität von Gütern und Dienstleistungen versteckt! Während für Deutschland die offizielle Rate 2017 mit 1,7% angegeben wurde, wären es 2,4% gewesen, wenn auch eigengenutzte Immobilien eingerechnet worden wären. Hätte man die steigenden Kosten für öffentliche Güter berücksichtigt, dann hätte die Inflation bei 3,0% gelegen– und sogar bei 5,4%, wenn auch Aktien erfasst worden wären. Inklusive der Qualitätsverschlechterungen hätte die Inflation wohl deutlich über 6% gelegen.

Würden all diese Effekte gemessen, dann hätte die Europäische Zentralbank wohl schon lange ihr selbstgesetztes Inflationsziel von knapp 2% überschritten. Die Zinsen wären deutlich höher. Die EZB hätte keine Rechtfertigung für die immensen Ankäufe von Staatsanleihen gehabt. Es wäre deshalb nicht überraschend, wenn sich die europäischen Politiker weitgehend einig wären, dass die Inflation lieber weiter wie bisher gemessen wird. Ob das im Sinne der europäischen Bürger ist, steht auf einem anderen Blatt!

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