Grenzen

Photo: Nathan Dulmao from Unsplash (CC 0)

Durch Corona wurden zumindest die Jüngeren unter uns erstmals so richtig mit Grenzen konfrontiert. Keine schöne Erfahrung. Aber vielleicht hilft sie dabei, zukünftig Empathie für jene aufzubringen, die wir permanent aus unseren Gesellschaften ausschließen, und der aufkeimenden Abschottungspolitik vehement entgegenzutreten.

195 Gefängnisse

Die Freiheitseinschränkung ist die härteste Strafe, die unser Recht kennt. So gesehen besteht unsere Welt aus 195 mehr oder weniger sichtbaren Gefängnissen. Bisher mag einem das mit deutschem Reisepass weit weniger bewusst gewesen sein als mit mauretanischem. Bisher. Denn die Corona-Pandemie hat selbst die freiheitsverwöhnten Generationen Y und Z mit der harten Realität plötzlich undurchlässiger Staatsgrenzen konfrontiert. Junge Menschen, groß geworden in einer immer weiter zusammenwachsenden Welt, mussten lange gehegte Träume vom Auslandsemester, Au-pair-Jahr, oder work and travel gap year begraben. Ohnmächtig und der Willkür des Staates ausgeliefert wurden ganze Lebenspläne im Handstreich auf den Kopf gestellt. Großeltern daran gehindert, ihre Enkel kennenzulernen. Enkel daran gehindert, von ihren Großeltern Abschied zu nehmen. Und es ist nicht abzusehen, dass es mit dem Auslaufen der Pandemie direkt wieder zurück auf die Globalisierungsspur geht. Egal ob Trump, Brexit oder kontinentaleuropäischer Rechtspopulismus: Abschottung ist als politisches Leitmotiv schon vor Corona wieder attraktiv geworden.

Die perfiden Logiken der Abschottungspolitik

Dabei ist die Politik äußerst kreativ darin, dem eigenen Bürger die Notwendigkeit undurchlässiger Grenzen zu verkaufen. Grundsätzlich wird das Prinzip Angst angewendet: Für Güter und Personen offene Grenzen werden zur Gefahr für die heimische Wirtschaft und das heimische Zusammenleben hochstilisiert. Da werden Grenzen schnell zum Bollwerk gegen Lohndumping und Billigimporte. Und gegen die Übernahme durch fremde Kulturen. Doch zeigen Vergangenheit und Gegenwart, dass Migration Wirtschaft und Kultur der aufnehmenden Gesellschaften noch immer zu bereichern wusste. In den Vereinigten Staaten, dem noch immer politisch und wirtschaftlich einflussreichsten Land der Welt, leben heute mehr Einwanderer als in jedem anderen Land der Welt. Gleichzeitig kämpfen die Briten verzweifelt mit den Konsequenzen des Brexits und versuchen dringend benötigte osteuropäische LKW-Fahrer zurück ins Land zu holen.

Das Prinzip Angst ist in der Politik noch immer eines der wirkungsvollsten und drängt alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die positiven ökonomischen und kulturellen Effekte der Migration in den Hintergrund. All das könnte uns letztlich egal sein, die wir bei der Geburtslotterie den Jackpot einer G7-Staatsbürgerschaft gezogen haben. Wir könnten uns zurücklehnen und gebetsmühlenartig wiederholen, Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen zu wollen. Oder aber wir nehmen die eigenen Freiheitseinschränkungen der letzten 18 Monate zum Anlass, uns in Empathie zu üben. Denn wenn wir über Grenzen schreiben und reden, dann steht zumeist das Kollektiv im Vordergrund: Volkwirtschaften, Kulturen, Sozialstaaten. Dabei verlieren wir aus dem Blick, dass Grenzen individuelle Verhinderungsgeschichten schaffen: für Frau Schmidt, die eine Pflegerin bräuchte; für Branko aus Belarus, der Gartenhäuschen baut; für Maria aus Lagos, die anderswo ihr Talent für Programmieren weiterentwickeln könnte. Und für viele, viele Millionen von Menschen auf dem ganzen Globus.

Grenzen schaffen vor allem individuelle Verhinderungsgeschichten

Wie herablassend wir Migranten begegnen wird vor allem deutlich, wenn wir uns ihre Lage versetzen. Wie würde wohl ein deutscher Student reagieren, wenn ihm das Visum für das lange ersehnte Auslandsstudium in den USA verweigert würde mit der Begründung er solle lieber die heimische Wissenschaft stärken, die hätte es viel nötiger als Harvard und Princeton? Oder ein deutsches Au-Pair, dem vorgeworfen wird, australische Arbeitsplätze zu klauen? Oder ein deutscher Abiturient, der einem Briten den Platz in einer der begehrten Privatschulen „nimmt“? Unsere eigene Migrationsfreiheit ist für uns zur Selbstverständlichkeit geworden, während wir gerade Menschen, die weniger Glück im Leben hatten, wohlgemeinte Ratschläge erteilen, solange sie bloß nicht zu uns kommen.

Ich selbst bin im letzten Jahr von Deutschland in die USA emigriert. Meine Frau und ich mussten mit geschlossenen Botschaften kämpfen und können bis heute unsere hier geborene Tochter ihren Großeltern nicht vorstellen, da diese nicht einreisen dürfen. Ich kann inzwischen die Gefühle von Migranten, die wollen, aber partout nicht dürfen ein wenig besser nachvollziehen: Das Ausgeliefertsein, die aufflackernde und wieder enttäuschte Hoffnung und das rastlose Suchen nach positiven Nachrichten; die Frustration, wenn die eigene Lebensplanung (vielleicht) auf der nächsten Pressekonferenz von Donald Trump entschieden wird. Und das alles wegen eines einfachen Umzugs.

Vielleicht versetzen die letzten 18 Monate unsere freiheitsverwöhnte Generation in die Lage, besser zu verstehen, warum alljährlich Zehntausende auf dem Mittelmeer ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen. Vielleicht verstehen wir besser, wie groß der Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung in uns allen ist, und wie niederschmetternd dessen Unterdrückung. Zumal diese Menschen nicht nur mit undurchlässigen Grenzen konfrontiert sind. Hinter ihnen liegen häufig nur Hoffnungslosigkeit oder gar Verfolgung. Vor ihnen liegen verhinderte Chancen auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit, auf Wohlstand und die Möglichkeit, die zurückgebliebene Familie zu unterstützen.

Offene Grenzen könnten die Welt zum Blühen bringen

Letztendlich wird es Grenzen vermutlich immer geben. Sie markieren Rechts- und Regulierungsräume und definieren Zuständigkeiten. Doch sie müssen nicht undurchlässig sein. Corona hat uns schlagartig damit konfrontiert, wie es ist, in einer stark begrenzten Welt zu leben. Das sollte uns dabei helfen, zukünftig mehr Empathie aufzubringen für Menschen, denen wir den Zugang zu unserer Welt standhaft verwehren. Denn es gibt einfach zu viele gute Argumente für offene Grenzen. Sie würden die Welt zum blühen bringen: wirtschaftlich und kulturell. Denn wenn die Geschichte der letzten 150 Jahre eines gezeigt hat, dann dass Offenheit und Austausch mit Wohlstand und Frieden Hand in Hand gehen.

Mehr dazu, wie das gelingen kann, an dieser Stelle in vier Wochen.

1 Antwort
  1. Matthias Elger
    Matthias Elger sagte:

    Oft haben Grenzen aber begründete Hintergründe. Wird die innere Sicherheit durch zu viele männliche Zuwanderer, die sich schlecht integrieren, gefährdet, dann sehe ich dies als einen guten Grund an. Denn wenn ich die Duisburger Stadtteile Hochfeld, Marxloh, oder Essen-Altenessen, Gelsenkirchen Bismarck, Dortmunder Norden ansehe, dann ist dies keine Bereicherung, sondern nur noch schwarz-weiß. Muslime oder nicht muslimisch. Jüdische Bürger können dort nicht mehr sicher leben. Auch getraute sich die Polizei in diese Stadtteile unter der Rot-Grünen Regierung von H. Kraft kaum mehr rein. H. Reul, der als harter Hund gilt, schuf hier wieder etwas mehr Sicherheit in NRW. Aber das Grundproblem konnte er nicht lösen. Es wandern ohne Integrationskonzepte für Muslime jährlich hunderttausende Muslime nach Deutschland ein. Deutschland kann also nicht einmal die Probleme mit den jetzt schon hier lebenden Muslimen lösen und erhöht die Probleme dazu noch. Wobei die Probleme auch bei den Sozialsystemen, der Achtung der Gesetze, der Sprache, der Bildung liegt.
    Grenzen machen Sinn. Bei Corona waren Grenzen aber unsinnig, was zeigt, auch bei Grenzen muss man Differenzieren.

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