Photo: Wikimedia Commons (CC0)

Die Möglichkeit zur Identifikation ist ein entscheidendes Momentum dabei, sich als Individuum auszubilden. Traditionell dienen dazu Eltern, Geschwister und andere Familienmitglieder, Freundinnen und Lehrer, und irgendwann auch mal Arbeitskollegen oder Vorgesetze. Darüber hinaus suchen wir uns aber auch – gerade wenn die Pubertät einsetzt – Figuren, die uns nicht mehr durch Umstände vorgegeben sind, sondern solche, die wir frei wählen, weil sie unserem Charakter und Selbstbild entsprechen. Heutzutage haben wir eine unüberschaubare Zahl an Identifikationsoptionen – von Billie Eilish bis Jordan Peterson, von Arya Stark bis Armand Duplantis. Doch das war nicht immer so. Wer vor tausend Jahren lebte, der kannte ein paar Sagen- und Märchengestalten und einige Personen der Bibel. Das war’s.

Es waren Menschen wie Giovanni Bocaccio (1313-1375), die das Identifikationsuniversum erweiterten und damit eine ganz neue Kunstform begründeten, die uns heute noch maßgeblich prägt. Sein Hauptwerk „il Decamerone“ versammelt 100 Novellen, also frei erfundene Erzählungen mitten aus dem Leben. Bis dahin war es undenkbar gewesen, dass jemand so persönlich als Urheber einer Geschichte auftritt – und dass diese Geschichten nicht von Königen

oder Heiligen handelten, sondern von normalen Menschen. Die klassische Literatur, wie wir sie im Abendland kennen, hat in diesem Umfeld ihren Anfang genommen. Die Erzählfreude von Boccaccio und den unzähligen von ihm inspirierten Autoren ist ganz wesentlich dabei gewesen, in der Gesellschaft das Verständnis des Individuums heranwachsen zu lassen, das eigene Entscheidungen fällt, das sich selbst definiert und das so zur Entstehung von immer mehr Vielfalt und Innovation beiträgt. An der Wiege der Moderne steht an prominenter Stelle der unehelich geborene Kaufmannsgeselle und Jurastudent, der dann alle ihm offen stehenden gesellschaftlichen Erfolge links liegen ließ, um das zu tun, was seine Leidenschaft war: erzählen.