Photo: Hans-B. Sickler from Flickr (CC BY 2.0)
Die Identitätspolitik ist eine Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit. Denn sie setzt falsche Maßstäbe von Toleranz und erlaubt den Falschen, sich der Debatte zu entziehen.
Was ist los mit der akademischen Welt?
Die Botschafterin Israels in London verlässt fluchtartig die bekannte London School of Economics and Social Sciences. Ihre Bodyguards schirmen sie ab vor wütend demonstrierenden Studenten. Knapp 70 Kilometer entfernt diffamieren aufgebrachte Studenten der Universität Sussex ihre Gender Studies Professorin so lange bis diese zermürbt und von Panikattacken heimgesucht ihre Position aufgibt. Und auf der anderen Seite des Atlantiks, im texanischen Austin, wird eine ganze Universität neu gegründet, um die Freiheit der Wissenschaft zu schützen. Wohl gemerkt unter Beteiligung renommierter Wissenschaftler wie Harvard-Professor Steven Pinker und Bill Clintons Finanzminister Lawrence Summers. Scheinbar hat die Wissenschaft ein Problem mit der Meinungsfreiheit.
Ohne Meinungsfreiheit keine Wissenschaft
Wahrheitsfindung kann frustrierend sein. Was gestern noch richtig war, das kann morgen schon überholt sein. Karl Popper lehrt uns, dass Fehler und Widerlegung der Kern der Wissenschaft sind. Nur durch „trial and error“ können wir neue Erkenntnisse gewinnen, die aber mit größter Wahrscheinlichkeit einmal überholt sein werden. Wissenschaft sucht viel weniger nach absoluten Wahrheiten als nach vorrübergehend annehmbaren. Das verlangt Wissenschaftlern einiges ab: zuvorderst radikale Offenheit und den Mut, die eigenen Lehrer permanent zu hinterfragen. Mit Respekt aber ohne Rücksicht auf Eitelkeiten. Die freie Rede ist deshalb das Elixier der Wissenschaft. Alles was gesagt werden kann, muss auch gesagt werden „dürfen“ solange es sich der offenen und rationalen Diskussion stellt. Sonst läuft die Wissenschaft Gefahr, sich zu Tode zu bestätigen.
Darum sind Universitäten mehr als nur der Fortsatz der Schule. Universitäten sind der safe space für abgedrehte Ideen. Mitunter auch für Ideen, für die das Gros der Gesellschaft noch nicht bereit ist: Von radikalen Gender-Studies über die Hinterfragung der Naturgesetze bis zur Anarchismus-Forschung.
Und hierin unterscheidet sich die Wissenschaft grundlegend von der Politik. Demokratische Politik ist die Kunst des gewaltfreien Ausgleichs aller Teile einer Gesellschaft, in der Wissenschaft geht es um die Kultivierung des produktiven Dissens. Ausgleich hat hier keinen Wert. Deshalb ist sowohl eine Politisierung der Wissenschaft als auch eine Verwissenschaftlichung der Politik fatal. Wissenschaft kann Politik über die erwartbaren Folgen von Entscheidungen informieren, aber sie kann und sollte keine Entscheidungen treffen. Das hat uns die Corona-Pandemie gelehrt, in der stets unterschiedliche wissenschaftliche Standpunkte und deren soziökonomische Auswirkungen abgewogen werden müssen. Andersherum kann Politik wissenschaftliche Auseinandersetzung einfordern, aber nicht deren Ergebnisse lenken oder diktieren.
Eine Frage der Toleranz
Die Existenz von unterschiedlichen Funktionen von Wissenschaft und Politik für eine Gesellschaft hat Konsequenzen. Des Pudels Kern ist hier die Frage nach der Toleranz. Gesellschaftliche (politische) Debatten bedürfen einer anderen Auslegung von Toleranz als wissenschaftliche. Denen gegenüber auf Toleranz zu verzichten, die sich der politischen Debatte entziehen, ist unter gewissen Umständen gerechtfertigt. Und auch gegenüber jenen, die die fundamentalen Grundüberzeugungen der offenen Gesellschaft in Frage stellen. Diese Form der wehrhaften Demokratie ist ein Drahtseilakt, aber sie ist nötig, um das Spielfeld nicht den Feinden der offenen Gesellschaft zu überlassen.
In der Wissenschaft hingegen muss jeder toleriert werden, der sich an die ethischen und rationalen Spielregeln hält. Nur so können das stete ergebnisoffene Hinterfragen und Überprüfen von allem, was wir glauben zu wissen, auf Dauer gewährleistet sein. Deshalb wird es zum Problem, wenn eine Strömung jene disqualifiziert, die ihrem Duktus nicht folgen oder ihre Prämissen hinterfragen.
Identitätspolitik macht die Universität vom safe space zum fear space
Mit dem Einzug der Identitätspolitik, oder „Wokeness“, in die Wissenschaft droht die Wissenschaft genau diese Fähigkeit zu verlieren. Kurz gesagt erhebt die Identitätspolitik die Partikularinteressen bestimmter kulturell, ethnisch oder sexuell definiter Gruppen zum gesamtgesellschaftlichen Anliegen. Das mag unter ganz bestimmten Umständen im demokratischen Diskurs einen Wert haben, beispielsweise in Gesellschaften, in denen bestimmte Bevölkerungsgruppen aktueller oder historischer Unterdrückung ausgesetzt sind.
Eine identitätspolitisch sensibilisierte Wissenschaft allerdings macht den Erkenntnisgewinn zu einer höchstpersönlichen Angelegenheit. Wer akademisch anderer Meinung ist, wie beispielsweise im Fall der Gender Studies Professorin aus Sussex, der greift nach dieser Logik bestimmte Teile der Wissenschaftsgemeinde persönlich an. Das wirkt wie Bremsblock und Brandbeschleuniger zugleich. Einerseits müssen Wissenschaftler zunehmend besorgt sein, mit ihrer Arbeit ihre Kollegen und Studenten persönlich gegen sich aufzubringen. Und dafür reicht manchmal schon eine der Lektüreliste, die nicht die Herkunft oder das Geschlecht der Autoren berücksichtigt. Andererseits radikalisiert sich die Antwort derer, die sich (oder eine beliebige Gruppe, als deren Anwälte sie sich empfinden) angegriffen, missachtet oder gar beleidigt fühlen wie das Beispiel der israelischen Botschafterin zeigt.
Anstatt mit sauberen und scharfen Gegenargumenten wird jenen, die identitätspolitisch verdächtig sind, mit verbaler und auch mit physischer Gewalt begegnet. Damit erodiert der gesamte Diskursprozess, denn es gibt jenen eine Rechtfertigung, sich der Debatte zu entziehen, die dieser nicht gewachsen sind. Wer nicht genehm ist, wird unter dem Deckmantel von Toleranz und Rücksicht zur persona non grata erklärt.
Dadurch wir die Universität vom safe space zum fear space.
Leider gilt gleiches auch andersherum. Nur zu gern stilisieren sich jene, die echter akademischer Kritik nichts entgegenzusetzen haben, zu Opfern von Wokeness und Cancel Culture. Das gilt für die Politik ebenso wie für die Wissenschaft und wird damit wiederum zum Vorwand, sich der kritisch rationalen Debatte zu entziehen. Auch hier werden gerne öffentliche Diskurse, mediale Phänomene und die Wissenschaft selbst in einen Topf geworfen – nur eben von der anderen Seite.
Ein rein angelsächsisches Problem?
In Deutschland, mit seiner eher naturwissenschaftlich-technisch geprägten Universitätskultur mag dieses Problem heute noch nicht so ausgeprägt sein wie im angelsächsischen Raum. Doch früher oder später wird auch die deutsche Wissenschaftsgemeinde mit ähnlichen Problemen konfrontiert sein, schließlich ist sie gerade in den Sozialwissenschaften in einem hohen Maße von der englischsprachigen Wissenschaft abhängig. Dann gilt es die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen: gegen falsch verstandene Toleranz, und gegen jene, die allzu gern betroffen die Hand heben.
Die Wissenschaftsgemeinde in Deutschland ist mit dieser Problematik bereits seit Jahren befasst bzw. von ihr betroffen, insbesondere in Sozial- und Geisteswissenschaften sind die hier beschriebenen Probleme bereits offenkundig, der freie Diskurs wird zunehmend beschädigt.