Photo: M L from Unsplash (CC 0)

Die politische Linke hat sich über die Zeit dem konservativen Menschenbild angepasst: Viele von ihnen glauben, dass der Einzelne kurzsichtig und eigensüchtig sei, weshalb es der ordnenden Hand des Staates bedürfe. Wenn sich Pessimismus und politischer Gestaltungswille treffen, wird es eng für die Sache der Freiheit.

Steuern, Verbote, Bürokratie? Das ist fortschrittliche Politik!

Der Niedergang der Sozialdemokratie in Deutschland und weltweit hat wilde Debatten losgetreten: Sollte man den „dänischen Weg“ gehen und gesellschaftspolitisch einen deutlichen Rechts-Schwenk vollziehen? Sollte das Thema Umwelt stärker auf die Agenda, um die grüne Konkurrenz einzudämmen? Oder doch lieber Industriepolitik? Eine Ausweitung des Wohlfahrtsstaates, um die Scharte der „neoliberalen Agenda“ zwischen 1980 und 2010 endgültig wieder auszuwetzen? Ein Feld, auf dem man den Grünen den pflanzlichen Aufstrich vom Brot nehmen könnte, wäre womöglich eine Renaissance des Obrigkeitsstaates. So scheint das zumindest Hans Peter Bull, ehemaliger Innenminister Schleswig-Holsteins, zu sehen. Letzte Woche veröffentlichte er in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel unter der Überschrift „Das Land braucht mehr Verbote“. Er beklagt darin, dass die Begriffe Steuererhöhung, Verbot und Bürokratie heutzutage im politischen Diskurs verpönt seien. Er dagegen wünscht sich einen starken Staat, der massiv umverteilt und unerwünschtes Verhalten einschränkt – im Namen einer „fortschrittlichen Politik“.

Welche Einstellung seinen Forderungen zugrunde liegt, offenbart Bull im dritten Absatz seines Artikels überdeutlich: „Wer … darauf setzt, dass alle Menschen freiwillig ihre Lebensweise ändern, auf Komfort verzichten und Opfer für die Allgemeinheit erbringen, hat einen erheblichen Teil der Mitmenschen aus dem Blick verloren“. Die meisten Menschen wissen nicht, was gut für sie ist, und sind letztlich unfähig zur Empathie und Solidarität. Das ist die Begründung, die Politiker wie Robespierre und Lenin genutzt haben, um ihr Tun zu rechtfertigen. Es ist die fatale Mischung aus linkem Weltverbesserungswillen und konservativem Misstrauen gegenüber dem Menschen; eine sehr unbekömmliche Mischung zweier schon in sich problematischer Weltsichten.

Als die Linke die Emanzipation verriet

Die Linke hat auf diesem Gebiet eine sonderbare Wandlung durchgemacht. Sie stand anfangs durchaus in der Tradition der Aufklärung; also der Vorstellung, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt und die Möglichkeit haben sollte, sich „aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien. Das emanzipatorische Element stand auch am Beginn der Arbeiterbewegung. Der Arbeiter sollte ermächtigt werden, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, er sollte sich nicht nur von der Unterdrückung durch Ausbeuter befreien, sondern auch die paternalistischen Fesseln von Staat und Kirche abwerfen. Folgerichtig setzte man sich dann auch für die Emanzipation der Frau und anderer unterdrückter Gruppen ein. Man verachtete die uralten Narrative, die behaupteten, es müsse eine Obrigkeit geben, die dem Leben der Menschen Richtung und Sinn verleiht. Stattdessen waren sich diese Menschen sicher, dass ein einfacher Arbeiter oder eine Frau sehr wohl Verantwortung für ihr Leben übernehmen könnte und sollte.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts und ganz besonders seitdem sie im 20. Jahrhundert vielerorts Regierungsverantwortung übernommen hat, ist die Linke scharf rechts abgebogen. Der Staat, den ihre intellektuellen Vorfahren noch mit größter Skepsis gesehen hatten, wurde für sie zum Mittel der Wahl. In ihrer Begeisterung für diese Machbarkeits-Maschine übertrafen sie oft die Konservativen. Ein Metternich und ein Bismarck würden sich verwundert die Augen reiben, wenn sie heutzutage mitansehen könnten, wie sich die Nachfolger ihrer schärfsten Gegner zu den Herolden eines starken, ordnenden, invasiven und omnipräsenten Staates gewandelt haben. Wer im heutigen modernen linken Spektrum glaubt denn noch an das Individuum? Gar an die Fähigkeit des „kleinen Mannes“, sein Leben im Griff zu haben und dabei auch noch verantwortlich mit Mitmenschen und Umwelt umgehen zu können? Die Linke hat den Glauben an den Menschen verloren und ihn durch ein tiefgehendes Vertrauen in die herrschende Klasse ersetzt. An die Stelle von Emanzipation ist ein geharnischter Paternalismus getreten.

Adam Smith, der Menschenfreund

Am kommenden Sonntag jährt sich zum 296. Mal der Geburtstag des großen Menschenkenners und Menschenfreundes Adam Smith. Anders als seine französischen Kollegen war dieser schottische Aufklärer durchaus skeptisch bezüglich der Fähigkeiten des Menschen: er kannte die Grenzen unserer Vernunft – und deshalb auch ganz besonders die Grenzen jener Vernunft, die sich aufschwingt, besser und klüger zu sein als andere, also der Vernunft von Politkern und Bürokraten. Zugleich war er aber auch zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus ein auf Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen ist und dass in dieser „interpersonellen Vernunft“, wie sie Hayek nannte, das Geheimnis seines Erfolgs liegt. So schrieb er in seinem Werk „Theorie der ethischen Gefühle“:

„Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. … Und so kommt es, dass, viel für andere und wenig für uns selbst zu fühlen, unseren selbstischen Neigungen im Zaune zu halten und unseren wohlwollenden die Zügel schießen zu lassen, die Vollkommenheit der menschlichen Natur ausmacht, und allein in der Menschheit jene Harmonie der Empfindungen und Affekte hervorbringen kann, in der ihre ganze Würde und Schicklichkeit gelegen ist.“

„Das Gefühl der Verbundenheit mit dem ganzen Universum“

Wie anders klingen diese Zeilen als die bitteren Worte des alten Sozialdemokraten, der die kalte und durchdringende Macht des Staates ausweiten möchte, um nun endlich eine bessere Welt zu erschaffen. Der vorsichtige Optimismus und die unprätentiöse Menschenliebe der Schottischen Aufklärer gründet nicht zuletzt in dem Bewusstsein, dass die Genialität und Energie, die sich aus der ungelenkten, freiwilligen Kooperation von Menschen ergibt, am Ende mehr zu einer besseren Welt beiträgt als jede noch so gut gemeinte staatliche Maßnahme. Armut hierzulande und weltweit, der menschliche Anteil am Klimawandel, adipöse Kinder und einsame Alte – all das sind massive Probleme, denen wir uns dringend stellen müssen. Wer die Lösung beim Staat sucht, verdrängt freilich, dass es auch Staaten waren, die Minderheitenrechte beschnitten, Großunternehmen bevorzugt, Kriege angezettelt, Innovationen verhindert, Generationensolidarität verdrängt und Atomkraftwerke gebaut haben.

Es ist an der Zeit, den Menschen wieder etwas zuzutrauen. Das Grundproblem unserer Zeit ist nicht die mangelnde Verantwortlichkeit der Menschen, sondern dass der Staat dem Menschen die Selbstverantwortung abgenommen und abtrainiert hat. In uns steckt nämlich durchaus das Bewusstsein, dass wir unser eigenes Leben in die Hand nehmen sollten und auch eine Verpflichtung gegenüber anderen Menschen haben. Aber in dieses Bewusstsein muss man hineinwachsen, man muss es sich aneignen – indem man Verantwortung zugetraut bekommt und übernimmt. Am kommenden Donnerstag ist noch ein 296. Geburtstag: des großen schottischen Philosophen Adam Ferguson, der kurz nach seinem Namensvetter Smith zur Welt kam. Seine Sicht des Menschen sollte sich die Linke zu Herzen nehmen, wenn sie ihr altes emanzipatorisches Erbe doch einmal auszumotten gedenken sollte. Er sah in uns Menschen ein „Prinzip der Liebenswürdigkeit, das keine einseitigen Unterscheidungen kennt und an keine Grenzen gebunden ist. Es kann seine Wirkung über das uns persönliche bekannte Umfeld hinaus ausdehnen. Es kann uns, zumindest in unserem Denken und unseren Vorstellungen, das Gefühl der Verbundenheit mit dem ganzen Universum gewähren.“

Der große Vordenker des starken Staates, Thomas Hobbes, hatte recht, als er feststellte, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei – denn Wölfe sind Rudeltiere, die miteinander kooperieren zum Besten der Herde. Was die Befürworter des starken Staates tatsächlich wollen, sind Schafe, die mitlaufen. Der Bürger im 21. Jahrhundert muss wieder weniger Schaf und mehr Wolf werden: mehr eigenverantwortliche Kooperation und freiwillige Solidarität als blindes Folgen. Das wäre auch eine spannende Agenda für eine Linke, die ihre emanzipatorischen Wurzeln wiederentdeckt.

6 Kommentare
  1. Christoph Meier
    Christoph Meier sagte:

    Brillant, sehr geehrter Herr Schneider! Die Frage ist ja bei so guten Texten immer nur, ob sie auch dort gelesen werden, wo sie gelesen werden sollten. Ich habe ähnliche Gedanken unter dem Titel ‚Gesellschaftsutopien‘ in einen Buchentwurf („Abschied von der Generation Opfer“) eingebaut und Robert Nef zum Lesen gegeben, der mir ein gutes Feedback dazu gab. Hier wäre der Text zu finden: http://www.marpa.ch/inhalt/spruch/1811_Gesellschaftsutopien.html#_Toc11407824
    Es geht vor allem um den Gedanken des Etatismus, der sowohl ganz links wie ganz rechts gleichermassen virulent ist heute und den Sie so gut herleiten (herrlich Ihre Formulierung, dass die Linke scharf rechts abgebogen ist).Dann auch meine Vorstellung von einer ultraliberalen Utopie, die sich tief ins Thema Ihres Instituts wagt. Ich würde mich natürlich riesig über ein Feedback – auch und gerade ein kritisches – freuen, habe aber Verständnis, wenn Sie Dringenderes zu lesen haben. Dann war das einfach ein Dank und ein Kompliment für Ihren ausgezeichneten Artikel. Mit freundlichen Grüssen Christoph Meier

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  2. Horst-Dieter Schulz
    Horst-Dieter Schulz sagte:

    Volle Zustimmung – bis auf zwei Kleinigkeiten:
    1. Ob der menschliche Anteil am Klimawandel ein massives Problem darstellt, ist ungeklärt. Einfach deshalb, weil niemand die Größe dieses Anteils kennt.
    2. Ob Atomkraftwerke in eine Aufzählung negativer Aktivitäten von Staaten gehören, ist zweifelhaft. Die Kernkraft wird in Zukunft eher hilfreich bei der Bewältigung von Umweltproblemen sein. Ihre alten Sicherheits- und Abfallprobleme sind inzwischen lösbar.
    Schade, dass der grüne Zeitgeist sogar bis ins liberale Milieu dringt.

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  3. Thomas Bingel
    Thomas Bingel sagte:

    Sehr empfehlenswerte Artikel! Stimme weitgehend überein! Allerdings die Schlagzeile ist unglücklich gewählt! Mir gefallen Schafe viel besser als Wölfe! Es geht wohl eher darum, dass selbstbestimmte, freiheitsliebende, und verantwortliche Bürger sich mehr zusammenschliessen sollten, um den oben beschriebenen Gefahren offener und deutlicher entgegnen und Alternativen aufzeichnen sollten

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  4. Hubert Königstein
    Hubert Königstein sagte:

    Bei Steuern (Lohn- Umsatzsteuer u.v.a.m.) und Sozialversicherungsbeiträgen, einem verschlungenen, auch für Fachleute undurchdringlichen von Politikern geschaffenen Chaos, bei einem ledigen Gesellen von 65 % (!) da ist das Wolfwerden doch sehr schwer. Da zeigt sich der Staat als Wolf. Steuern und Abgaben muss man unter Machtgesichtspunkten sehen. Die Staatsquote von 50 % am Bruttoinlandsprodukt zeigt eben auch das Maß der Entmachtung der Bürger. Dies zeigt auch ein Blick in die Stellenanzeigen, wo bei der Hälfte der ausgeschriebenen Stellen die Löhne aus Zwangsabgaben anderer gezahlt werden. Das ist weit entfernt von dem, was Ludwig Erhard die wirtschaftlichen Grundrechte nennt: „Hierbei ist zuvorderst an die Freiheit jedes Staatsbürgers gedacht, das zu konsumieren, sein Leben so zu gestalten, wie dies im Rahmen der finanziellen Verfügbarkeiten den persönlichen Wünschen und Vorstellungen des einzelnen entspricht. Dieses demokratische Grundrecht der Konsumfreiheit muss seine logische Ergänzung in der Freiheit des Unternehmers finden, das zu produzieren oder zu vertreiben, was er aus den Gegebenheiten des Marktes, d.h. aus den Äußerungen der Bedürfnissen aller Individuen als notwendig und Erfolg versprechend erachtet. Konsumfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung müssen in dem Bewusstsein jedes Staatsbürgers als unantastbare Grundrechte empfunden werden. Gegen sie zu verstoßen, sollte als ein Attentat auf unsere Gesellschaftsordnung geahndet werden. Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen, wie Diktatur und Staatswirtschaft.“

    Wolfwerden bedeuten hier, dass den Politikern das Recht genommen wird, sich nach Belieben in unseren Portemonaies auszubreiten; d.h. das Abgabensystem ist so umzubauen, dass es Volksabstimmungen zugänglich ist. Die Bürger bestimmen über Art und Höhe der Steuern, die allenfalls auf drei, dann übersichtliche Steuerarten zu beschränken sind. Über die Steuern müssen die Abstimmenden selbst entscheiden. Man kann nicht bestimmen, die eigenen Steuern sind null, nur die Nachbarn zahlen. Da ist der bis zur Unkenntlichkeit verkommene Gleichheitssatz strikt gefordert.

    Bei der Sozialversicherung heißt das in allen Zweigen personenbezogene Konten über die Ein- und Auszahlungen (wie ein Sparbuch) lebenslänglich zu führen und jährlich Kontoauszüge verschicken, um zunächst die dummen Lastenträger und die cleveren Nutznießer des Systems sichtbar zu machen, und dann die Beiträge zu steuern. Das ist dann auch das Ende der Frauen begünstigenden Unisextarifen. 13,7 Mrd. € p.a. Erhöhung der Mütterrente muss man sich so vorstellen, als würden 2 Mio. Durchschnittsverdiener der 33 Mio. Sozialversicherten ihr Arbeitsleben lang um Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil ihrer Rentenversicherungsbeiträge gebracht werden; – oder eine andere Betrachtung: bei 18 % Rentenbeitrag arbeiten sie jede Woche einen Tag und ihr Lohn entschwindet als Mütterrente auf Mütterbankkonten, d.h. Mütter halten sich diese als Arbeitssklaven. In den Rentenmitteilungen ist anzugeben, in welcher Höhe die Rente aus eigenen Beiträgen stammt, der Anteil, der aus dem Versicherungsprinzip gezahlt wird, der Anteil, der aus Steuern – gesamt knapp 40 % – stammt. Bei vorzeitigen Ableben ist sich bei den gesetzlichen Erben für die unverbrauchten Rentenbeiträge zu bedanken, die das Versichertenkollektiv statt der gesetzlichen Erben erbt.

    Würden unsere Grundrechte – allen voran Freiheit und Eigentum – funktionieren, wären wir schon Wölfe. Am 22.6.1995 hatte das Bundesverfassungsgericht (2 BvL 37/91, BFH/NV 1995, 665). entschieden, dass bei Ertragssteuern bei Halbe-Halbe mit der Steuer Schluss sei. Nachdem die Fernwirkungen vom Halbteilungsgrundsatz gesehen wurden (auch Gewerbesteuer), entschied das Verfassungsgericht später (Beschluss vom 18. Januar 2006 2 BvR 2194/99), dass der Verfassung der Halbteilungsgrundsatz nicht entnommen werden könne. Bei der Betrachtung ist z.B. die Umsatzsteuer von 19 % noch nicht einmal berücksichtigt, die selbstverständlich zur Steuerbelastung gehört. Damit hat das Verfassungsgericht die Bürger der Ausplünderung durch Abgeordnete preisgegeben. Ein Gericht, das 98 % aller Verfassungsbeschwerden zurückweist, hat entweder seine Aufgabe verkannt, oder ist nicht gewillt, seine Aufgaben zu erledigen. 70 Jahre Richterauswahl durch Abgeordnete zeigen Wirkung. In Polen entledigt man sich ungeliebter Richter und ihrer Rechtsprechung durch Pensionierung von Richtern, hier erledigt das Verfassungsgericht die Geringschätzung der Grundrechte selbst, in dem es fast in jeder Entscheidung den großen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont. Grundrechte haben aber gerade die Funktion, den Gestaltungsspielraum zu begrenzen, u.U. völlig zu negieren. Ein sicherer Indikator für das Versagen sind die Äußerungen ausgeschiedene Verfassungsrichter: Ruckrede von Roman Herzog, Buch „Kopf einer Hydra“ von Paul Kirchhof, Gutachten von Udo di Fabio zur Flüchtlingszuwanderung. Nach dem Ausscheiden steigt der Mut, da kann man sein eigenes früheres Versagen nun zur eigenen Forderung erheben. Wie bei der EZB, die sich ebenfalls selbst politisch eingespannt hat, unterliegt die Unabhängigkeit beim Verfassungsgericht scheinbar einer Abnutzung, entfaltet nicht die zugedachten positiven Wirkungen, liegt meines Erachtens das Systemversagen bei unseren Grundrechten genau an diesen beiden Stellen. Das gilt auch hinsichtlich verfassungswidrig überschuldeter Haushalte. Das Bundesverfassungsgericht hat noch nie die Überschuldung vom Bundeshalts für verfassungswidrig erklärt, nur das Verfassungsgericht von Nordrhein-Westfalen hat zweimal Landeshaushalte wegen Überschuldung für verfassungswidrig erklärt. Interessant ist, dass die Verletzung des Demokratieprinzips „Macht auf Zeit“ durch Verschuldung verletzt ist, wenn Abgeordnete, die für 4 oder 5 Jahre gewählt sind, aber die Steuereinnahmen von 6 Jahren ausgeben, und damit den nachfolgend gewählten Abgeordneten die Handlungsmöglichkeiten beschränken und so Wahlen entwerten, kaum eine Rolle gespielt hat.

    Es drängen sich Zweifel auf, ob die demokratischen Werkzeuge auf der Höhe der Zeit sind. Dank Wahlgeheimnis weiß ein Volksvertreter nicht, wer ihn gewählt hat. Wie kann ein Volksvertreter die Interessen seiner Wähler vertreten, wenn er weder seine Wähler noch weniger deren Interessen kennen kann? Was für einen Sinn machen Wahlen, wenn die Gewählten das Gegenteil von dem machen, was sie im Wahlkampf versprochen haben (Im Wahlkampf 2006 wollte die CDU die MWSt um 2 % erhöhen, die SPD um 0 %; in Koalition haben die beiden ab 2007 die MWSt um 3 %-Punkte, immerhin um 18,75 %, erhöht)? Was haben Wahlen für einen Sinn, wenn die Gewählten – wie jetzt bei der EU-Wahl – das Wahlergebnis nicht deuten können. Bei den Sozialdemokraten ist nicht auszumachen, ob sie wegen zu viel oder zu wenig „sozial“ nicht mehr gewählt werden. Der Wählerstimmenkauf durch Wahlgeschenke, darin sind sie die Größten, funktioniert nicht mehr. Wählertäuschung und Wählerbestechung sind in §§ 108 ff StGB Straftatbestände, aber die Abgeordneten sind strafrechtlich immun, die Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Die Arbeitnehmernehmer haben wohl in großer Zahl erkannt, dass sie diejenigen sind, die den Weihnachtsmann spielen sollen.

    Ich neige Maggie Thatcher zu: „Gesellschaft – das gibt es nicht. Man schiebt die Probleme der Gesellschaft zu. Aber es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien. Es ist unsere Pflicht, für uns selbst zu sorgen und dann für unsere Nachbarn.“ Die nicht vorhandene „Gesellschaft“ wird bei Kriegsführung, Sozialversicherung, Steuern und Strafrecht in Stellung gebracht. Die in Deutschland erbitterst geführen Nachbarschaftsstreitigkeiten belegen, dass es mit Gesellschaft nicht weit her sein kann. Weniger „Gesellschaft“ als individuelle Vorteile stehen im Vordergrund. Dies besagt, man muss die eigenen Interessen nicht geringer schätzen als die Interessen anderer. Oder aus dem Christentum: Man muss den Nächsten nicht mehr lieben als man sich selbst liebt.

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  5. Hubert Königstein
    Hubert Königstein sagte:

    Bei Steuern (Lohn- Umsatzsteuer u.v.a.m.) und Sozialversicherungsbeiträgen, einem verschlungenen, auch für Fachleute undurchdringlichen von Politikern geschaffenen Chaos, bei einem ledigen Gesellen von 65 % (!) da ist das Wolfwerden doch sehr schwer. Da zeigt sich der Staat als Wolf. Steuern und Abgaben muss man unter Machtgesichtspunkten sehen. Die Staatsquote von 50 % am Bruttoinlandsprodukt zeigt eben auch das Maß der Entmachtung der Bürger. Dies zeigt auch ein Blick in die Stellenanzeigen, wo bei der Hälfte der ausgeschriebenen Stellen die Löhne aus Zwangsabgaben anderer gezahlt werden. Das ist weit entfernt von dem, was Ludwig Erhard die wirtschaftlichen Grundrechte nennt: „Hierbei ist zuvorderst an die Freiheit jedes Staatsbürgers gedacht, das zu konsumieren, sein Leben so zu gestalten, wie dies im Rahmen der finanziellen Verfügbarkeiten den persönlichen Wünschen und Vorstellungen des einzelnen entspricht. Dieses demokratische Grundrecht der Konsumfreiheit muss seine logische Ergänzung in der Freiheit des Unternehmers finden, das zu produzieren oder zu vertreiben, was er aus den Gegebenheiten des Marktes, d.h. aus den Äußerungen der Bedürfnissen aller Individuen als notwendig und Erfolg versprechend erachtet. Konsumfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung müssen in dem Bewusstsein jedes Staatsbürgers als unantastbare Grundrechte empfunden werden. Gegen sie zu verstoßen, sollte als ein Attentat auf unsere Gesellschaftsordnung geahndet werden. Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen, wie Diktatur und Staatswirtschaft.“

    Wolfwerden bedeuten hier, dass den Politikern das Recht genommen wird, sich nach Belieben in unseren Portemonaies auszubreiten; d.h. das Abgabensystem ist so umzubauen, dass es Volksabstimmungen zugänglich ist. Die Bürger bestimmen über Art und Höhe der Steuern, die allenfalls auf drei, dann übersichtliche Steuerarten zu beschränken sind. Über die Steuern müssen die Abstimmenden selbst entscheiden. Man kann nicht bestimmen, die eigenen Steuern sind null, nur die Nachbarn zahlen. Da ist der bis zur Unkenntlichkeit verkommene Gleichheitssatz strikt gefordert.

    Bei der Sozialversicherung heißt das in allen Zweigen personenbezogene Konten über die Ein- und Auszahlungen (wie ein Sparbuch) lebenslänglich zu führen und jährlich Kontoauszüge verschicken, um zunächst die dummen Lastenträger und die cleveren Nutznießer des Systems sichtbar zu machen, und dann die Beiträge zu steuern. Das ist dann auch das Ende der Frauen begünstigenden Unisextarifen. 13,7 Mrd. € p.a. Erhöhung der Mütterrente muss man sich so vorstellen, als würden 2 Mio. Durchschnittsverdiener der 33 Mio. Sozialversicherten ihr Arbeitsleben lang um Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil ihrer Rentenversicherungsbeiträge gebracht werden; – oder eine andere Betrachtung: bei 18 % Rentenbeitrag arbeiten sie jede Woche einen Tag und ihr Lohn entschwindet als Mütterrente auf Mütterbankkonten, d.h. Mütter halten sich diese als Arbeitssklaven. In den Rentenmitteilungen ist anzugeben, in welcher Höhe die Rente aus eigenen Beiträgen stammt, der Anteil, der aus dem Versicherungsprinzip gezahlt wird, der Anteil, der aus Steuern – gesamt knapp 40 % – stammt. Bei vorzeitigen Ableben ist sich bei den gesetzlichen Erben für die unverbrauchten Rentenbeiträge zu bedanken, die das Versichertenkollektiv statt der gesetzlichen Erben erbt.

    Würden unsere Grundrechte – allen voran Freiheit und Eigentum – funktionieren, wären wir schon Wölfe. Am 22.6.1995 hatte das Bundesverfassungsgericht (2 BvL 37/91, BFH/NV 1995, 665). entschieden, dass bei Ertragssteuern bei Halbe-Halbe mit der Steuer Schluss sei. Nachdem die Fernwirkungen vom Halbteilungsgrundsatz gesehen wurden (auch Gewerbesteuer), entschied das Verfassungsgericht später (Beschluss vom 18. Januar 2006 2 BvR 2194/99), dass der Verfassung der Halbteilungsgrundsatz nicht entnommen werden könne. Bei der Betrachtung ist z.B. die Umsatzsteuer von 19 % noch nicht einmal berücksichtigt, die selbstverständlich zur Steuerbelastung gehört. Damit hat das Verfassungsgericht die Bürger der Ausplünderung durch Abgeordnete preisgegeben. Ein Gericht, das 98 % aller Verfassungsbeschwerden zurückweist, hat entweder seine Aufgabe verkannt, oder ist nicht gewillt, seine Aufgaben zu erledigen. 70 Jahre Richterauswahl durch Abgeordnete zeigen Wirkung. In Polen entledigt man sich ungeliebter Richter und ihrer Rechtsprechung durch Pensionierung von Richtern, hier erledigt das Verfassungsgericht die Geringschätzung der Grundrechte selbst, in dem es fast in jeder Entscheidung den großen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont. Grundrechte haben aber gerade die Funktion, den Gestaltungsspielraum zu begrenzen, u.U. völlig zu negieren. Ein sicherer Indikator für das Versagen sind die Äußerungen ausgeschiedene Verfassungsrichter: Ruckrede von Roman Herzog, Buch „Kopf einer Hydra“ von Paul Kirchhof, Gutachten von Udo di Fabio zur Flüchtlingszuwanderung. Nach dem Ausscheiden steigt der Mut, da kann man sein eigenes früheres Versagen nun zur eigenen Forderung erheben. Wie bei der EZB, die sich ebenfalls selbst politisch eingespannt hat, unterliegt die Unabhängigkeit beim Verfassungsgericht scheinbar einer Abnutzung, entfaltet nicht die zugedachten positiven Wirkungen, liegt meines Erachtens das Systemversagen bei unseren Grundrechten genau an diesen beiden Stellen. Das gilt auch hinsichtlich verfassungswidrig überschuldeter Haushalte. Das Bundesverfassungsgericht hat noch nie die Überschuldung vom Bundeshalts für verfassungswidrig erklärt, nur das Verfassungsgericht von Nordrhein-Westfalen hat zweimal Landeshaushalte wegen Überschuldung für verfassungswidrig erklärt. Interessant ist, dass die Verletzung des Demokratieprinzips „Macht auf Zeit“ durch Verschuldung verletzt ist, wenn Abgeordnete, die für 4 oder 5 Jahre gewählt sind, aber die Steuereinnahmen von 6 Jahren ausgeben, und damit den nachfolgend gewählten Abgeordneten die Handlungsmöglichkeiten beschränken und so Wahlen entwerten, kaum eine Rolle gespielt hat.

    Es drängen sich Zweifel auf, ob die demokratischen Werkzeuge auf der Höhe der Zeit sind. Dank Wahlgeheimnis weiß ein Volksvertreter nicht, wer ihn gewählt hat. Wie kann ein Volksvertreter die Interessen seiner Wähler vertreten, wenn er weder seine Wähler noch weniger deren Interessen kennen kann? Was für einen Sinn machen Wahlen, wenn die Gewählten das Gegenteil von dem machen, was sie im Wahlkampf versprochen haben (Im Wahlkampf 2006 wollte die CDU die MWSt um 2 % erhöhen, die SPD um 0 %; in Koalition haben die beiden ab 2007 die MWSt um 3 %-Punkte, immerhin um 18,75 %, erhöht)? Was haben Wahlen für einen Sinn, wenn die Gewählten – wie jetzt bei der EU-Wahl – das Wahlergebnis nicht deuten können. Bei den Sozialdemokraten ist nicht auszumachen, ob sie wegen zu viel oder zu wenig „sozial“ nicht mehr gewählt werden. Der Wählerstimmenkauf durch Wahlgeschenke, darin sind sie die Größten, funktioniert nicht mehr. Wählertäuschung und Wählerbestechung sind in §§ 108 ff StGB Straftatbestände, aber die Abgeordneten sind strafrechtlich immun, die Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Die Arbeitnehmernehmer haben wohl in großer Zahl erkannt, dass sie diejenigen sind, die den Weihnachtsmann spielen sollen.

    Ich neige Maggie Thatcher zu: „Gesellschaft – das gibt es nicht. Man schiebt die Probleme der Gesellschaft zu. Aber es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien. Es ist unsere Pflicht, für uns selbst zu sorgen und dann für unsere Nachbarn.“ Die nicht vorhandene „Gesellschaft“ wird bei Kriegsführung, Sozialversicherung, Steuern und Strafrecht in Stellung gebracht. Die in Deutschland erbitterst geführen Nachbarschaftsstreitigkeiten belegen, dass es mit Gesellschaft nicht weit her sein kann. Weniger „Gesellschaft“ als individuelle Vorteile stehen im Vordergrund. Dies besagt, man muss die eigenen Interessen nicht geringer schätzen als die Interessen anderer. Oder aus dem Christentum: Man muss den Nächsten nicht mehr lieben als man sich selbst liebt.

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