Photo: altotemi from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Frank Schäffler und Clemens Schneider.

Papst Franziskus bleibt sich in seiner jüngsten Enzyklika treu. Der Liberalismus stehe im Dienst der Mächtigen, ebne Spekulantentum den Weg und opfere die Schwachen seinem Effizienzparadigma. Sein „radikaler Individualismus ist das am schwersten zu besiegende Virus“. Sobald es um Liberalismus oder Marktwirtschaft geht, bewegt sich der Papst gefährlich nah an dem von ihm beklagten „Brauch, den Gegner schnell zu diskreditieren … anstatt sich einem offenen und respektvollen Dialog zu stellen“. Auch die Wiederbelegung von Nullsummenspiel-Argumenten trägt nicht zum friedvollen Miteinander bei: „Wenn jemand nicht das Notwendige zu einem Leben in Würde hat, liegt das daran, dass ein anderer sich dessen bemächtigt hat.“

Katholiken sollten eigentlich Verständnis haben für Weltanschauungen, die missbraucht werden, um Handlungen zu rechtfertigen, die bisweilen deren Grundfesten diametral entgegenstehen. Die Gewalt- und Machtauswüchse, die im Namen der Kirche verübt wurden und werden, haben mit der Botschaft, die sie verkündet, nichts zu tun. Und ebenso sind die Ego-Trips und Exzesse von Marktteilnehmern nicht Ergebnis liberaler Philosophie. Sie sind vielmehr Ausdruck der, wie der Papst schreibt, „menschlichen Zerbrechlichkeit“, mit der auch die Kirche ihre liebe Not hat.

Das Idealbild und die Zielvorstellung, die in „Fratelli tutti“ beschrieben werden, sind den Vorstellungen bedeutender liberaler Denker ähnlich: dass „wir unseren Kreis erweitern und unserer Liebesfähigkeit eine universale Dimension geben, die in der Lage ist, alle Vorurteile, historische und kulturelle Hindernisse sowie kleinliche Interessen zu überwinden“.

Der liberale Vordenker David Hume stellte heraus, wie tief in uns Menschen die „Prinzipien der Humanität und Sympathie“ verwurzelt sind. Und sein Zeitgenosse Adam Ferguson beobachtete im Menschen das „Prinzip der Liebenswürdigkeit, das keine einseitigen Unterscheidungen kennt und an keine Grenzen gebunden ist. Es kann seine Wirkung über das uns persönliche bekannte Umfeld hinaus ausdehnen. Es kann uns … das Gefühl der Verbundenheit mit dem ganzen Universum gewähren.“ Für Adam Smith, den dritten im Bunde, machten diese altruistischen Eigenschaften „die Vollkommenheit der menschlichen Natur“ aus.

Ähnlich formuliert der liberale Ökonom Ludwig von Mises: „Das Denken des Liberalen hat immer das Ganze der Menschheit im Auge und nicht nur Teile, es haftet nicht an engen Gruppen, es endet nicht an den Grenzen des Dorfes, der Landschaft, des Staates und des Erdteils. Es ist ein kosmopolitisches, ein ökumenisches Denken, ein Denken, das alle Menschen und die ganze Erde umspannt.“ Und sein Freund Friedrich August von Hayek stellte fest: „Es ist zweifellos ein Element der Natur der meisten Menschen und vielleicht sogar die wichtigste Bedingung ihres Glücks, dass sie die Wohlfahrt anderer Menschen zu ihrer Hauptaufgabe machen.“

Der Blick auf die Geschichte und die aktuelle Lage könnte dem Oberhaupt der Katholischen Kirche ein guter Hinweise dafür sein, wo er die Verbündeten für seinen Traum von einer besseren Welt am ehesten finden kann. Wohl kaum bei Politikern, denen er in geradezu grotesken Formulierungen zuspricht, dass sie durch den Bau von Brücken oder das Schaffen von Arbeitsplätzen „eine sehr hochstehende Form der Liebe“ ausübten.

Nein, einer der besten Verbündeten im Streben nach einer humanitären Welt ist tatsächlich der Markt. Denn er verbindet die Selbstbestimmung und Würde des Individuums mit der menschlichen Neigung zur Kooperation. Es ermöglicht uns, selbst mit weit entfernten Menschen Beziehungen einzugehen, an deren Ende beide Seiten ein vernehmbares Danke sprechen werden. Und durch dieses Miteinander werden die Ressourcen geschaffen, die wir dann für unsere Mitmenschen einsetzen können. Wie Hayek richtig feststellte, waren freie Gesellschaften „in der Neuzeit auch Ausgangspunkte aller großen humanitären Bewegungen mit dem Ziel aktiver Hilfe für die Schwachen, Kranken und Unterdrückten.“

Der überzeugte Liberale und leidenschaftliche Katholik Lord Acton schrieb das Entstehen einer immer menschlicheren Welt der Tatsache zu, dass liberale Gesellschaften die materiellen und ideellen Grundlagen dafür schufen, dass sich die Werte des Christentums durchsetzen konnten: „Dieser Fortschritt beruht darauf, dass man einen unbegrenzten Preis zu zahlen bereit ist, um die zu schützen, die grenzenloser Verlust sind: das verkrüppelte Kind und das Unfallopfer, die Zurückgebliebenen und Geisteskranken, die Armen und die Verbrecher, die Alten und Kranken, Heilbare und Unheilbare.“

Das päpstliche Schreiben pflegt Stereotype und bedient den Zeitgeist. Es ist keine ernstzunehmende Basis für sozialethische Diskurse, sondern engt deren Spielraum durch eindeutige politische Parteinahmen sogar noch zusätzlich ein. Was waren das für Zeiten, als Johannes Paul II vor 30 Jahren schrieb: „der freie Markt [scheint] das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein.“

Der Gastbeitrag erschien am 15.10.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

4 Kommentare
  1. Benedikt Koehler
    Benedikt Koehler sagte:

    Die Rechtfertigung eines Anspruch eines Investors auf Beteiligung an Gewinn vertrat schon Thomas von Aquin:

    ‘ …ille qui committit pecuniam suam vel mercatori vel artifici…ideo licite potest partem lucri inde provenientis expetere’ (Summa theologiae II-II, q. 78 a. 2 ad 5.)

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  2. UlrichRiediger
    UlrichRiediger sagte:

    Bedauerlicherweise hat der „globalistische Raubtierkapitalismus“ der Konzerne dem Kommunismus nach dem Fall der Mauer durch seine jahrzehntelange Rücksichtslosigkeit erst wieder richtig in die Hände gespielt. Soziale Marktwirtschaft, also Marktwirtschaft mit sozialer Verantwortung ist von angestellten Konzernchefs, die immer nur in Planungszyklen denken, in denen sie immer höhere Profits erwirtschaften müssen und sonst nichts, nicht zu erwarten. Eine entscheidende Größe für den Erfolg eines Unternehmens müsste neben den Shareholder Value zukünftig auch der Stakeholder Value sein, die soziale Kompetenz des Unternehmens gegenüber seinen Mitarbeitern, Lieferanten und Standorten. Den Grünen ist es immerhin gelungen, die Unternehmen umweltschützend in die Pflicht zu nehmen. Jetzt begänne die Epoche der sozialen Verantwortung und Menschlichkeit in den Unternehmen sowie der angemessenen Bezahlung, sonst, befürchte ich, strömen die Frustrierten wieder massenweise in die Arme der sozialistischen Heilsversprecher.

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    • Benedikt Koehler
      Benedikt Koehler sagte:

      Manager reagieren auf Anreize die der Staat gesetzt hat: im Erfolgsfall erhalten Manager Boni, im Misserfolgsfall kommt fuer Verluste die oeffentliche Hand auf. Zu Kaisers Zeiten schob man diesem Missbrauch einen Riegel vor: die Reichsbank ueberwies Boni ihrer Direktoren auf ein Sperrkonto, ueber das ein Manager erst nach Pensionierung verfuegen konnte, nachdem Gewinne und Verluste saldiert worden waren.

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  3. Chris
    Chris sagte:

    „waren freie Gesellschaften“
    Freie Gesellschaften sind mehr als ein freier Markt. Herr Schäffler sollte offen spielen. Märkte haben den Wohlstand nur flankiert durch einen starken Staat in die breite der Bevölkerung getragen. Die USA sind ein schönes Beispiel. Das reichste Land der Welt. Gleichzeit haben Millionen keine Krankenversicherung und leben in Armut. Für ein entwickeltes Land gibt es eine relativ hohe Analphabetenquote. Das Bildungssystem ist aber bereits durch Charterschools teilprivatisiert. Das Gesundheitssystem ist deutlich teurer als in Europa, bei gleichzeitig schlechterer Abdeckung.
    Das sind alles Punkte die man auch als Hardcorewirtschaftsliberaler wahrnehmen muss. Märkte erreichen keine halbwegs gerechte Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten Wohlstands. Egal was hier geschrieben wird. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft (in der leben wir) ist es reine historische Beliebigkeit, dass Menschen eine beliebige Menge Eigentum haben dürfen und das sie aus Eigentum Wohlstandforderungen ableiten dürfen. Das ist einfach eine rechtliche Festlegung und gesellschaftlicher Konsens. Nicht mehr und nicht weniger.
    Was Märkte nicht tun ist, Wohlstand für alle zu schaffen. Märkte können sehr zerstörerisch sein. Eine globale Marktwirtschaft hat den Planeten Erde sehr stark ausgebeutet und viel Verschmutzung hinterlassen. Der Grund ist einfach. Es gab und gibt zu wenig Regularien (Gesetze, Preise, Steuern) um die Anreize richtig zu setzen. Märkte sind, egal wie frei, nicht automatisch effizient. Jeder mit Verstand kann sich das überlegen. Es macht eben keinen Sinn fünf Straßen zu bauen. Es macht auch eigentlich keinen Sinn 5 Paketautos durch eine Straße fahren zu lassen. Aber der Markt hat es so entschieden. Die fünf Fahrer kriegen alle weniger Lohn und die Umwelt wird stärker verschmutzt, da ggf. die Autos nicht voll ausgelastet sind.
    Markttechnisch macht das Sinn. Gesamtgesellschaftlich nicht wirklich. Und darin liegt meine Kritik begründet. Neoliberale wie Schäffler ignorieren Gesellschaft und gesamtwirtschaftliches Verhalten konsquent. Der Markt ist nicht besser. Er ist einfach nur eine Lösungsmethode und kann, richtig angewandt, in bestimmten Bereichen wunderbar funktionieren.
    Allerdings haben Märkte zentrale Schwächen, die ihre eigentliche Stärke ist. Sie optimieren auf Zielgrößen. Ist die Zielgröße Geld, dann wird der Profit maximiert. Ist es eine Kennzahl, dann wird die Kennzahl optimiert. Das kann zu blödsinnigen Ergebnissen führen. In der Wissenschaft zum Beispiel dazu, dass tausende Publikationen mit inkrementellen Fortschritt publiziert werden, weil die Kennzahl es so will. Inhaltlich geschieht da wenig und es ist Ressourcenverschwendung. Der eigentliche Grund ist aber, dass auch beim Markt am Ende der Mensch die Zielgröße vorgeben muss, also Regeln.

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