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Irving Kristol (1920-2009) wurde in New York in eine Familie ostjüdischer Migranten geboren. In seiner College-Zeit war er aktiv in einer Gruppe antisowjetischer Trotzkisten, wo er auch seine Frau Gertrude Himmelfarb (1922-2019) kennenlernte, die er bereits mit Anfang 20 heiratete. Die beiden bildeten über die nächsten Jahrzehnte ein absolutes intellektuelles Power Couple. Schon in jungen Jahren ist auch ihr Sohn Bill Kristol (*1952) in ihre Fußstapfen getreten. In Irving Kristols Nachruf in der taz wurde ihm attestiert, er verfüge über „ein intellektuelles Niveau, von dem man bei den meisten moderaten Konservativen nur träumen kann“.

Kristol und Himmelfarb standen an der intellektuellen Wiege des Neokonservatismus, der die US-amerikanische Politik von Reagan bis Bush junior maßgeblich beeinflusste. Entstanden war diese Ausrichtung im Umfeld enttäuschter Anhänger der Demokratischen Partei, die im Laufe der 60er Jahre das Gefühl hatten, dass sich dort zu viel Appeasement gegenüber dem Kommunismus breitmachte. Außerdem lehnten sie die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates unter dem Stichwort „Great Society“ ab.

Die Neokonservativen waren große Verfechter des Kapitalismus, weil er die materielle Basis für Wohlstand ermöglicht und weil er individuelle Freiheiten fördert. Ihm fehle aber eine moralische Überzeugung und eine spirituelle Tiefe. Diese Dimension wollten die Neokonservativen der westlichen Wertegemeinschaft noch hinzufügen. Die Moral, die sie in die Gleichung einfügen wollten, hatte einen stark universalistischen Zug und ging von der generellen Verbesserungsfähigkeit der Welt aus. Diese Neokonservativen fügten sich ein in die Tradition der nonkonformistischen englischen Protestanten und Quaker des 17. Jahrhunderts, die in Nordamerika ein neues Jerusalem errichten wollten; in die Tradition der Radikalen des 19. Jahrhunderts, die Sklaverei bekämpften, für Frauenrechte stritten und das allgemeine Wahlrecht ausweiten wollten; und in die Tradition der missionarischen US-Außenpolitik von Woodrow Wilson bis John F. Kennedy. Ihre quasi-religiöse Mission war es, der ganzen Welt eine westliche Prägung zu geben. Spätestens mit dem Irak-Krieg 2003 und dessen Folgen war diese Ideologie schwer beschädigt. Aber ihre Prägekraft war in der Zeit davor enorm und hat womöglich

entscheidend sowohl zum Fall des Eisernen Vorhangs beigetragen als auch dazu, dass die Welt danach einen erheblichen Sprung in Richtung Demokratisierung und Marktwirtschaft machte.

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Die japanische Verfassung von 1946 war ein Vorreiter in Fragen der Frauenemanzipation. Japan? Kurz nach dem 2. Weltkrieg? Ja, und das hat vor allem mit einer 22jährigen ostjüdischen Wienerin aus den USA zu tun.

Beata Sirota kam aus einer der klassischen osteuropäisch-jüdischen Musikerfamilien. Ihr Vater, ein begnadeter Pianist, stammte aus der damals unter russischer Herrschaft stehenden Ukraine und wanderte 1904 nach Wien aus. 1923 wurde Beata geboren und 1930 zogen ihre Eltern mit ihr weiter nach Japan, nicht zuletzt, um dem wachsenden Antisemitismus zu entkommen. Es war ein glücklicher Zufall, dass sie 1939 nach Kalifornien ging, um dort ihre akademische Bildung weiterzuverfolgen. So war sie beim japanischen Angriff auf Pearl Harbor zwar von ihren Eltern getrennt, aber in Sicherheit. Nach Kriegsende bemühte sich Sirota darum, in Japan eingesetzt zu werden, um ihre Eltern wiederzusehen. Am 25. Dezember 1945 wurde die Familie wieder vereint.

Bei ihrem Einsatz in Japan waren ihre Sprachkenntnisse von großer Bedeutung: sie sprach fließend Deutsch, Englisch, Russisch und Französisch. Vor allem aber Japanisch. Und das war in den USA der damaligen Zeit ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal. Sie unterstützte die amerikanischen Besatzungsbehörden unter General Douglas MacArthur, und fand sich schon nach wenigen Monaten in einer der Kommissionen wieder, die die neue japanische Verfassung erarbeiten sollten – und zwar in der für Bürgerrechte. Zum Glück für die japanischen Frauen hatte Sirota keine Hemmungen, sich dort für die Werte stark zu machen, von denen sie überzeugt war, auch wenn sie als junge Frau wohl nur wenig Autorität zugesprochen bekam. Die von Sirota durchgesetzten Prinzipien waren dabei nicht dazu angetan, tief in kulturelle Gewohnheiten einzudringen, sondern stellten schlicht die Gleichberechtigung vor dem Gesetz her. Viele Traditionen konnten bestehen bleiben, aber es gab für das Individuum die Möglichkeit, ihr Leben selbstbestimmt zu führen.

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Heute, vor 207 Jahren, am 14. Februar 1818, wurde Frederick Douglass geboren – ein Mann, der sich aus der Sklaverei befreite und zu einem der einflussreichsten Freiheitsaktivisten des 19. Jahrhunderts wurde. Geboren im US-Bundesstaat Maryland, entkam er der Unterdrückung, bildete sich selbst weiter und wurde zu einer der stärksten Stimmen gegen ein System, das Menschen all ihrer individuellen Rechte beraubte. Seine Autobiografie „Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave“ aus dem

Jahr 1845 öffnete unzähligen Menschen die Augen – nicht nur für die Gräuel der Sklaverei, sondern auch für die Kraft der Eigenverantwortung. Sein Werk trug maßgeblich dazu bei, die Abschaffung der Sklaverei 1865 voranzutreiben und machte Douglass zu einer der prägenden Figuren der amerikanischen Freiheitsbewegung.

Doch sein Kampf endete nicht mit der formellen Abschaffung der Sklaverei. Douglass setzte sich unermüdlich für gleiche Rechte ein, ohne den Staat als Heilsbringer zu verklären. Für ihn lag das Problem nicht in der US-Verfassung selbst, sondern in der mangelnden Umsetzung ihrer Freiheitsversprechen. Sein Denken war geprägt von der Überzeugung, dass wahre Gleichheit durch Chancengleichheit entsteht – nicht durch staatliche Zwangsmaßnahmen. Seine legendäre Rede „What to the Slave is the Fourth of July?“ bleibt bis heute ein mahnendes Plädoyer gegen staatliche Willkür und für echte Selbstbestimmung. Frederick Douglass war nicht nur ein Kämpfer gegen die Sklaverei, sondern ein entschiedener Verfechter der individuellen Freiheit.

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Schon als Persönlichkeit war Calvin Coolidge (1872-1933), von 1923 bis 1929 der 30. Präsident der Vereinigten Staaten, eine außergewöhnliche Gestalt. Anders als sein schillernder Vorgänger Warren G. Harding, dem er nach dessen Tod ins Amt folgte, und anders als viele andere politische Anführer der 1920er Jahre war er ein zurückhaltender Typ – so sehr, dass er den Spitznamen „Silent Cal“ bekam. In einer Zeit, in der überall der Staat expandierte, setzte er sich dafür ein, dass die Politik vor allem ihre eigenen Grenzen beachtet und den Bürgern so viel Freiraum wie möglich gibt. Schon als Gouverneur von Massachusetts achtete er auf fiskalische Disziplin, stemmte sich dem Trend der Prohibition entgegen und war ein deutlicher Fürsprecher für Frauenrechte.

Er führte in enger Zusammenarbeit mit seinem Finanzminister Andrew Mellon massive Steuerreformen durch, die dazu führten, dass im Jahr 1927 nur noch die wohlhabendsten 2 Prozent der Bevölkerung Einkommensteuer zahlen mussten. Die berühmten „Roaring Twenties“ mit ihrem massiven Wirtschaftswachstum verdanken sich auch seiner Fiskalpolitik. Anders als viele seiner Nachfolger finanzierte er die Steuersenkungen nicht etwa über Schuldenaufnahme, sondern durch Haushaltsdisziplin. Schulden baute er sogar deutlich ab. Er widerstand den Verlockungen und Drohungen einer übermächtigen Agrarlobby und half so mit zur effizienten Modernisierung der USA.

Nur eine schwere Last liegt auf dieser Amtszeit eines an sich geradezu modellhaften liberalen Präsidenten. Im (Wahl-)Jahr 1924 beherrschte ein Thema ganz besonders die Diskurse: der zunehmende Widerstand gegen Zuwanderung, der sich mit kaum verhohlenen rassistischen Untertönen gegen Ost- und Südeuropäer und ganz besonders gegen Asiaten richtete. Coolidge bemühte sich, im Kongress einen Kompromiss zu finden, musste aber 1924 schließlich doch den „Immigration Act“ unterzeichnen. Rassismus war ihm zuwider: in seiner Präsidentschaft verlieh er allen Eingeborenen die Staatsbürgerschaft und er bekämpfte den damals bis in die höchsten Kreise vernetzten Ku-Klux-Clan mit Härte. Dass er ein solch antiliberales und in Teilen menschenfeindliches Gesetz unterzeichnen musste, versuchte er abzumildern, indem er wenigstens in seinen Ansprachen immer und immer wieder den Wert derjenigen pries, die durch Zuwanderung Amerika stärker und ambitionierter machten. Mit echtem Patriotismus konnte er sagen: “It is one of the anomalies of the human story that these peoples, who could not be assimilated and unified under the skies of Europe, should on coming to America discover an amazing genius for cooperation, for fusion, and for harmonious effort. … Quite apparently, they found something in our institutions, something in the American system of Government and society which they themselves helped to construct, that furnished to all of them a political and cultural common denominator.”

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Die Möglichkeit zur Identifikation ist ein entscheidendes Momentum dabei, sich als Individuum auszubilden. Traditionell dienen dazu Eltern, Geschwister und andere Familienmitglieder, Freundinnen und Lehrer, und irgendwann auch mal Arbeitskollegen oder Vorgesetze. Darüber hinaus suchen wir uns aber auch – gerade wenn die Pubertät einsetzt – Figuren, die uns nicht mehr durch Umstände vorgegeben sind, sondern solche, die wir frei wählen, weil sie unserem Charakter und Selbstbild entsprechen. Heutzutage haben wir eine unüberschaubare Zahl an Identifikationsoptionen – von Billie Eilish bis Jordan Peterson, von Arya Stark bis Armand Duplantis. Doch das war nicht immer so. Wer vor tausend Jahren lebte, der kannte ein paar Sagen- und Märchengestalten und einige Personen der Bibel. Das war’s.

Es waren Menschen wie Giovanni Bocaccio (1313-1375), die das Identifikationsuniversum erweiterten und damit eine ganz neue Kunstform begründeten, die uns heute noch maßgeblich prägt. Sein Hauptwerk „il Decamerone“ versammelt 100 Novellen, also frei erfundene Erzählungen mitten aus dem Leben. Bis dahin war es undenkbar gewesen, dass jemand so persönlich als Urheber einer Geschichte auftritt – und dass diese Geschichten nicht von Königen

oder Heiligen handelten, sondern von normalen Menschen. Die klassische Literatur, wie wir sie im Abendland kennen, hat in diesem Umfeld ihren Anfang genommen. Die Erzählfreude von Boccaccio und den unzähligen von ihm inspirierten Autoren ist ganz wesentlich dabei gewesen, in der Gesellschaft das Verständnis des Individuums heranwachsen zu lassen, das eigene Entscheidungen fällt, das sich selbst definiert und das so zur Entstehung von immer mehr Vielfalt und Innovation beiträgt. An der Wiege der Moderne steht an prominenter Stelle der unehelich geborene Kaufmannsgeselle und Jurastudent, der dann alle ihm offen stehenden gesellschaftlichen Erfolge links liegen ließ, um das zu tun, was seine Leidenschaft war: erzählen.