Vor etwas mehr als 100 Jahren, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, fuhren schon 100.000 Autos durch Deutschland, Berlin hatte vier U-Bahn-Linien, die insgesamt 37 Kilometer lang waren, Hamburg hatte 25.000 Telefonanschlüsse und in rund 14 Stunden war man von München aus mit dem Zug in Paris. Aber keine einzige Frau in Deutschland (und Europa mit Ausnahme von Finnland und Norwegen) konnte wählen. Und erst 1908 war Mädchen erlaubt worden, das Abitur abzulegen und regulär eine Hochschule zu besuchen. Dass so etwas wie Wahlrecht oder Bildung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhältnismäßig schnell zugänglich wurden, ist dem leidenschaftlichen Einsatz einer Reihe von Frauen (und ein paar weniger Männer). Frauen wie Anita Augspurg (1857-1943) und Lida Gustava Heymann (1868-1943).

Augspurg hatte sich zur Lehrerin und danach als Schauspielerin ausbilden lassen, spielte an verschiedenen deutschsprachigen Theatern und eröffnete 1887 eines der ersten Fotoateliers Deutschlands. In der Zeit begann sie auch, sich immer stärker für Frauenrechte zu interessieren und begann mit 35 Jahren ein Jura-Studium in Zürich, wo Frauen bereits zugelassen waren. Sie wurde die erste deutsche Staatsbürgerin mit einer juristischen Promotion.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu Zwist in der Frauenbewegung und Augspurg wurde eine der führenden Personen im radikalen Flügel. Diese Frauen machten das Prinzip der Selbsthilfe stark, waren antiautoritär und staatskritisch, und brachen bewusst Konventionen. Außerdem waren sie eine bedeutsame Stimme des Pazifismus, der sich gegen den Militarismus und die Großmannssucht ihrer Zeit richteten.

An ihrer Seite – sowohl als Mitstreiterin als auch als Lebensgefährtin – fand sich seit dieser Zeit auch Heymann, die Tochter eines Hamburger Kaufmanns. Nach dem Tod ihres Vaters verwaltete sie ihr Erbe und setzte das Vermögen ein, um berufstätigen Frauen einen Mittagstisch zu ermöglichen, Kinderhorte zu betreiben und auch das erste Frauenhaus zu eröffnen.

Gemeinsam wirkten die beiden auch nach den Reformen mit Beginn der Weimarer Republik daran, die die Situation für Frauen zu verbessern: rechtlich, sozial und kulturell. Es war ein Zufall, dass sie – wie ja auch der Schriftsteller Thomas Mann – zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Nazis gerade außer Landes waren. Sie sollten nie wieder zurückkehren, sondern schlugen ihre Zelte in Zürich auf, wo beide 1943 im Abstand von wenigen Monaten starben.

2008 erschüttert die Finanzkrise die Welt. Banken wanken, Vertrauen bröckelt. Inmitten dieses Chaos veröffentlicht eine mysteriöse Figur namens Satoshi Nakamoto ein Whitepaper. Seine Vision: eine dezentrale Währung ohne zentrale Kontrolle, basierend auf Mathematik statt blindem Vertrauen. Satoshi selbst trat ins Dunkle zurück, suchte weder Anerkennung noch Ruhm. Dieses völlige Fehlen von Ego macht ihn zu einem faszinierenden Visionär.

Heute, im November 2024, erreicht Bitcoin neue Höchststände. Anleger, die frühzeitig investierten, konnten erhebliche Gewinne erzielen. Doch jenseits des finanziellen Erfolgs bleibt Satoshis wahre Errungenschaft die Erschaffung eines Systems, das Freiheit und Dezentralisierung fördert. In Lugano steht eine Statue zu seinen Ehren – ein Denkmal für den anonymen Visionär, der eine Blockchain-Revolution auslöste.

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Kurt Zube (1905-1991) war ein hundertprozentiger Überzeugungstäter. In seinen Studienjahren in Berlin war er mit dem Anarchismus in Kontakt gekommen. Er freundete sich mit John Henry Mackay (1865-1933) an, der das Erbe der individualanarchistischen Denker in Deutschland am Leben erhielt, insbesondere von Max Stirner (1806-1856). Von den Nationalsozialisten wurde Zube schon 1933 verfolgt und massiv schikaniert: so fielen seine Privatbibliothek und Manuskripte den Flammen zum Opfer. 1935 wurde er, nachdem er sich nach Österreich abgesetzt hatte, von deutschen Behörden ausgebürgert. Er beteiligte sich in der Zeit auch an der Entstehung einer genossenschaftlich organisierten Privatwährung, die heute noch als WIR Bank in der Schweiz aktiv ist. Sechzehn Jahre verbrachte er als Staatenloser – im Herzen war er es freilich schon seitdem er sich für Politisches interessiert hatte. Bis an sein Lebensende war er unermüdlich publizistisch und verlegerisch tätig, um das geistige Erbe des Individualanarchismus lebendig zu erhalten.

Man kann sich vorstellen, wie dieser – durch eine heftige Schwerhörigkeit auch noch behinderte – Sonderling auf seine Umwelt gewirkt haben muss. Man kennt diese nerdigen Außenseiter, die sich missionarisch einer Sache widmen und auch noch mit einer Art Weltformel um die Ecke kommen. Diese Leute, die immer irgendwie am Rand der bürgerlichen Existenz kratzen und aus der Sicht der meisten Menschen eine Art Negativ-Karriere machen: ihr Leben hebt nie so richtig ab. Aber oft sind die bedeutsamen Ideen, die unsere Welt besser gemacht haben, weder von Rolexträgern noch von Würdenträgern erdacht und für spätere Zeiten bewahrt worden. Womöglich wird man in zwei-, dreihundert Jahren auf Leute wie Stirner, Mackay und Zube so zurückblicken wie wir heute auf die Freaks vergangener Jahre, die schon vor Jahrhunderten von Toleranz, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung oder Gewerbefreiheit sprachen.

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Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meiner Vorlesung zur Entwicklungspsychologie Bekanntschaft mit einem liberalen Reformer machen würde, aber als mein Professor erklärte, dass der 7. Earl of Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper (1801-1885), sich in den 1830ern in England gegen Kinderarbeit einsetzte, musste ich mir den Mann genauer anschauen. Und tatsächlich: Nicht nur setzte er sich gegen Kinderarbeit und für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen ein, er unterstützte auch stark die Gründung von sogenannten „Ragged Schools“, in denen arme Kinder unentgeltlich unterrichtet wurden, und war ein Gegner der Sklaverei.
Was heute für uns selbstverständlich ist, wurde alles einmal hart erkämpft. Mich fasziniert, dass Shaftesbury durch nichts außer seinen christlichen Glauben dazu gedrängt wurde, sich für Arme und Minderheiten einzusetzen. Er selbst lebte privilegiert, aber er wollte das nutzen, um die Welt wirklich zu einem besseren Ort zu machen. Nach seiner ersten Rede als Parlamentarier, in der er sich für eine menschlichere Behandlung von Patienten in “Irrenhäusern” starkmachte, schrieb er in sein Tagebuch: „So war mein erstes Bemühen, mit Gottes Segen, die Förderung des menschlichen Glücks. Möge ich mich stündlich verbessern!“
Shaftesbury wird oft als einer der einflussreichsten Sozialreformer des viktorianischen Zeitalters angesehen und hinterließ ein bedeutendes Erbe in Bezug auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der unteren Schichten.

 

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Welche Erwartungen richten wir an Politiker? Das ist eine Gretchenfrage liberaler Weltanschauung. Karl Popper bemerkte in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, dass „Platon dadurch, dass er das Problem der Politik in Form der Frage stellte ‚wer soll herrschen?‘ oder ‚wessen Wille soll der höchste sein?‘, die politische Philosophie gründlich verwirrt hat.“ Denn so hat der Urvater der politischen Theorien den Blick auf Personen statt auf Institutionen gelenkt. Diese Perspektive ist im 19. Jahrhundert von einem britischen Historiker aufgegriffen und massiv verstärkt worden: Thomas Carlyle (1795-1881) hat wie nur wenige das Verständnis von Geschichte in der westlichen Welt geprägt.

Sein wahrscheinlich einflussreichstes Werk „On Heroes, Hero-Worship, & the Heroic in History“ erschien 1841 und stellte an beispielhaften „Großen Männern“ dar, wie Geschichte gestaltet wird: durch Götter wie Odin, Propheten wie Mohamed, Dichter wie Shakespeare, religiöse Führer wie Luther, Gelehrte wie Rousseau und Könige wie Napoleon. Aus dieser kleinen Schrift entstand die außerordentlich wirkmächtige „Great man theory of history“, die natürlich Staatsmännern sehr zupass kam und von ihnen dankbar wiederholt wurde, kam es in dieser Sichtweise ja viel mehr auf sie an als auf Regeln oder Institutionen, von den Bürgern ganz zu schweigen. Bedeutende liberale Stimmen wie Herbert Spencer, Jacob Burckhardt und Ernst Cassirer wandten sich gegen diese Geschichtsdarstellung, die eine gigantische Steilvorlage für Autokraten aller Couleur darstellt. Durchsetzen konnte sich freilich Carlyle, der mit seinem Entwurf auf der Seite der Mächtigen stand. Noch immer lebt unsere politische Kommunikation davon, dass man die Hoffnung auf große Männer (inzwischen auch Frauen) setzt, von denen man sich Erlösung erwartet – von Lindner bis Wagenknecht, von Pistorius bis Merz. Noch immer sollten Liberale dagegen rebellieren. Sollten.